Die Piraten des indischen Meeres. Karl MayЧитать онлайн книгу.
ion>
KARL MAY
DIE PIRATEN DES INDISCHEN MEERES
REISEERZÄHLUNG
Aus
KARL MAYS
GESAMMELTE WERKE
BAND 11
„AM STILLEN OZEAN“
© Karl-May-Verlag
eISBN 978-3-7802-1307-5
Die Erzählung spielt Ende der 70er-Jahre des 19. Jahrhunderts.
KARL-MAY-VERLAG
BAMBERG • RADEBEUL
Inhalt
DIE PIRATEN DES INDISCHEN MEERES
1. Eine Menschenjagd
4. Das Gespenst auf der Piratendschunke
5. Ein unerwartetes Wiedersehen
7. Die Flüchtlinge von den Andamanen
DIE PIRATEN DES INDISCHEN MEERES
1. Eine Menschenjagd
Ich war mit einem Steamer der Peninsular- and Oriental-Company von Suez nach Ceylon gekommen und in Point de Galle gelandet. Mein Aufenthalt hier sollte nur kurz sein, denn das Ziel meiner Reise war Bombay, von wo aus ich dann Vorderindien kennenlernen wollte. Verschiedene Umstände jedoch bewirkten, dass ich länger blieb, was ich auch sehr wohl tun konnte, da ich vollständig Herr meiner Zeit war.
Wer – ausgedorrt durch die glühende Hitze des Arabischen Meeres – ein Land von der Beschaffenheit der Insel Ceylon betritt, fühlt sich körperlich und geistig so gefesselt, dass es ihm schwer wird, es in Kürze wieder zu verlassen. Die großartige Natur der Insel fordert den Wissensdurst heraus, und ihre völkerkundlichen Verhältnisse sind so eigenartig, dass man sich unwillkürlich zu längeren Forschungen veranlasst fühlt.
Jetzt stand ich auf dem Leuchtturm von Point de Galle, versunken in den Genuss der herrlichen Landschaft, die sich unten zu meinen Füßen ausbreitete.
Im Hafen lag eine Menge Fahrzeuge vor Anker, ein- und auslaufende Schiffe belebten das Bild. Es waren unter ihnen alle Gattungen und Größen vom prachtvollsten europäischen Dampfer bis herunter zur erbärmlichen chinesischen Dschunke und zu dem eigentümlich gebauten singhalesischen Landungsboot vertreten. Schwedische und dänische Transchiffe, vom Walfischfang aus dem südlichen Polarmeer kommend, schwere holländische Dreimaster mit hohem, altmodischem Gallion, englische Marinefahrzeuge und Kauffahrer, leichte französische Schiffe und schlanke Amerikaner, scharf auf den Kiel gebaut und mit einem Tau- und Segelwerk versehen, das große Gewandtheit in ihrer Bedienung erfordert, kamen und gingen oder ritten, sich leicht von Bord zu Bord neigend, auf ihren Ankerketten. Daran schloss sich ein reichbelebtes Ufer, dessen Bild die Aufmerksamkeit voll in Anspruch nahm.
Kleine Felseninseln, von Kokospalmen und Pandanen bestanden, ragten aus den schimmernden, in ewiger Bewegung wallenden Fluten empor. Zwischen ihnen zogen sich zahlreiche Korallengärten hin, von schmalen Wasserarmen getrennt, in deren durchsichtigen Wellen rote und blaue Fische schwammen. Gefräßige Haie zerrten nahe am Ufer am Kadaver eines toten Hundes, aufgebrochene Muscheln glänzten im nassen Sand und vielgliederige Krabben krochen die Steilung der Felsen hinan.
Die Häuser und Hütten der Stadt hatten sich schalkhaft unter den Kronen der Palmen und Fruchtbäume versteckt, und wo die reinlichen Straßen offen vor dem Blick lagen, da war eine reiche Menge von Lebenserscheinungen zu erkennen; weidende Zebuochsen, am Kanalbau beschäftigte Elefanten, deren Klugheit und Stärke zwanzig menschliche Arme ersetzt, schwarze Schildwachen, sich ergehende Ladys, durchsichtig weiße Kinder englischer Eltern mit kleinen beweglichen französischen Kindermädchen oder hageren Londoner Erzieherinnen und braunen, eingeborenen Ammen, tabakrauchende singhalesische Mädchen und Knaben, behäbig und stolz einherschreitende Muselmänner, schachernde Juden, mit allem denkbaren und offenbar wertlosen Kleinigkeiten behängt, bezopfte Malaien, betelkauende Ratschputen, Buddhapriester in ihrem langen, schwefelgelben Gewand mit nackt abgeschorenem Kopf und Bart, englische Midshipmen in roter Jacke, laut mit dem schweren Säbel rasselnd, malerisch-schöne Hindumädchen: Nase, Stirn, Ohren, Arme und Beine mit Korallen oder Gold und Edelsteinen geschmückt.
Über dem allen lag der bezaubernde Duft des Südens ausgegossen. Die Sonne schickte sich an, in die Wogen des Meeres zu steigen, und warf ihre Strahlen vom tiefsten, gesättigten Purpur bis zum leuchtendsten Flammengold über die wogende See. Es war ein Anblick, in den man sich stundenlang versenken konnte.
Neben mir lehnte Sir John Raffley. Er bemerkte von alledem nicht das Geringste. Die herrlichen Tinten, in denen der Himmel flimmerte und glühte, das strahlendurchblitzte Kristall der See, der erquickende Balsam der sich abkühlenden Lüfte und die bunte Bewegung auf der vor uns liegenden schönen Gotteswelt waren ihm im höchsten Grad gleichgültig; sie durften es nicht wagen, seine Sinne auch nur einen Augenblick lang in Anspruch zu nehmen. Und warum? Wunderbare, überflüssige Frage! Was war denn eigentlich dieses Ceylon in seinen Augen? Ein Eiland, eine Insel mit einigen Menschen, einigen Tieren und einigen Pflanzen, rundum von Wasser umgeben, das nicht einmal zum Waschen oder zur Bereitung einer Tasse Tee geeignet ist. Was ist das weiter! Etwas Sehenswertes oder gar Wunderbares gewiss nicht! Was ist Point de Galle gegen Hull, Plymouth, Portsmouth, Southampton oder gar London; was ist der Statthalter zu Kolombo gegen die Königin Viktoria von Altengland, Irland und Schottland; was ist Ceylon gegen Großbritannien und seine Kolonien; was ist überhaupt die ganz Welt gegen Raffley-Castle, wo Sir John geboren wurde!
Der gute ehrenwerte Sir John war ein Engländer reinsten Wassers. Als Besitzer eines unermesslichen Vermögens hatte er noch nie daran gedacht, sich zu verehelichen, und war einer jener zugeknöpften, schweigsamen Englishmen, die alle Winkel der Erde durchstöbern, selbst die entferntesten Länder unsicher machen, die gewagtesten Abenteuer mit unendlichem Gleichmut bestehen und endlich müde und übersättigt die Heimat wieder aufsuchen, um als Mitglied irgendeines berühmten Reiseklubs einsilbige Bemerkungen über zurückliegende Erlebnisse machen zu dürfen. Er hatte den Sparren in der Weise, dass seine lange, knochige Gestalt nur in seltenen Augenblicken einen kleinen Anflug von Genießbarkeit zeigte, besaß aber ein gutes Herz, das immer bereit war, die großen und kleinen Seltsamkeiten, in denen er sich zu gefallen pflegte, wieder auszugleichen. Eine innere Erregung schien bei ihm nicht denkbar und er zeigte nur dann eine lebhaftere Beweglichkeit, wenn er auf eine Gelegenheit stieß, eine Wette einzugehen. Die Wettsucht nämlich war seine einzige Leidenschaft, wenn bei ihm von Leidenschaft überhaupt die Rede sein konnte, und es wäre wirklich ein Wunder gewesen, hätte er eine Gelegenheit zu ihrer Betätigung versäumt.
Nachdem er aller Herren Länder kennengelernt hatte, war er zuletzt nach Indien gekommen, dessen Generalstatthalter ein Verwandter von ihm war, hatte es in den verschiedensten Richtungen durchstreift, war auch schon einige Mal auf Ceylon gewesen und im Auftrag seines Verwandten jetzt wider hergekommen, um sich wichtiger Botschaften an den Statthalter