Fremdsprachenunterricht aus Schülersicht. Julia FritzЧитать онлайн книгу.
Zielsetzung und Fragestellungen der empirischen Untersuchung
Wie in Kapitel 3 deutlich wurde, haben die bisherigen, vor allem quantitativen Fragebogenstudien das Erleben im Unterricht als einen wichtigen, vielleicht den entscheidenden Faktor für die Erklärung von Einstellungs- und Motivationsunterschieden herausgearbeitet. Dennoch mangelt es bislang an Studien zum Unterrichtserleben, in denen die individuellen Sichtweisen der SchülerInnen in den Mittelpunkt gerückt werden. Dabei sollten diese neben den Lehrenden und externen BeobachterInnen gleichermaßen als ExpertInnen für Unterricht betrachtet werden und als solche zu Wort kommen (vgl. Nölle 1995:22). „Auch Erklärungen für das Handeln von Schülern sind nur dadurch zu erschließen, daß deren subjektive Wahrnehmungen analysiert und dadurch Hinweise auf ihr subjektives Erleben, Erfahren, Handeln und Denken gewonnen werden.“ (ebd.: 23)
Zu verstehen, wie SchülerInnen das Erlernen der zweiten Fremdsprache erleben, um Abwahlentscheidungen besser nachvollziehen zu können, stellt insofern das Ziel der vorliegenden Untersuchung dar. Der Fokus richtet sich damit auf die Bezugnahme zur zweiten Fremdsprache Französisch und Spanisch, wobei hier besonders interessiert, welche Prozesse der fachbezogenen Abwendung sich in den Äußerungen dokumentieren und wie diese mit der Bezugnahme zur zweiten Fremdsprache bzw. zum Erlernen derselben einhergehen. Was bedeutet es für die Jugendlichen, eine zweite Fremdsprache zu lernen, welche Ziele verfolgen sie dabei? Welchen Nutzen und welche Relevanz schreiben sie dem Erlernen und Beherrschen einer zweiten Fremdsprache zu? Darüber hinaus wird der Frage nachgegangen, welche Erwartungen und Vorstellungen sie vom Lernen einer zweiten Fremdsprache haben. Indem die Fremdsprachenlernerfahrungen der SchülerInnen in den Blick genommen werden, soll es gelingen, das Unterrichtserleben der Lernenden sowie deren Deutungen und Bewertungen zu erfassen. Hier interessiert, welchen einprägsamen Erlebnissen aus dem Unterricht sie rückblickend eine Bedeutung zuschreiben und welche Unterrichtserlebnisse der Bezugnahme zum Fach zugrunde liegen. Daraus ergeben sich folgende zentrale, die Forschung leitende Fragestellungen:
Wie erleben SchülerInnen ihren Französisch- bzw. Spanischunterricht?
Welche Unterrichtserlebnisse bewerten sie als bedeutsam?
Wie werden diese Erlebnisse und deren Wirkung von den SchülerInnen gedeutet?
Welche Bedeutung schreiben SchülerInnen dem Lernen der zweiten Fremdsprache Französisch und Spanisch am Ende der Sekundarstufe I zu?
Wie entstehen und verlaufen Prozesse der fachbezogenen Abwendung?
Welche Auswirkungen haben die Lernerfahrungen für die SchülerInnen?
Welche Rolle spielen in diesem Prozess individuelle Unterrichtserlebnisse?
4.2 Methodologische Vorüberlegungen
Um die Erfahrungswelt der Lernenden aus ihrer Perspektive zugänglich zu machen und einen tieferen Zugang zu den individuellen Erlebnisweisen und Innenansichten zu ermöglichen, wurde ein qualitativ-exploratives Vorgehen gewählt. Gerade wenn es um die Erhebung subjektiver Sichtweisen geht, lässt sich die Entscheidung für eine qualitative Fallstudie zunächst in Abgrenzung zum quantitativen Forschungsparadigma begründen:
Statt uns auf immer abstraktere Generalisierungen zu konzentrieren, die wir mit immer größeren Datenerhebungen zu finden hoffen, sollten wir versuchen, in intensiven Fallstudien Material zu sammeln, das Aussagen über konkrete Wirklichkeit und Wahrnehmungen dieser Wirklichkeit durch konkrete Personen zuläßt. (Abels 1975:330, zit. nach Lamnek 2010:284)
Während sich mit quantitativen Fragebogenstudien auch sehr große Datenmengen bewältigen und repräsentative Aussagen mit einer größeren Reichweite generieren lassen, ermöglichen Einzelfallstudien ein ganzheitliches Bild des beobachteten Phänomens zu zeichnen und dabei „möglichst alle für das Untersuchungsobjekt relevanten Dimensionen in die Analyse einzubeziehen“ (Lamnek 2010:273).
Bei der Erforschung der Schülersicht bringen geschlossene Fragebogenformate darüber hinaus den Nachteil mit sich, dass die Schülerantworten anhand eines theoretischen, relativ eng auf die Forscherperspektive bezogenen Konstrukts ermittelt werden (vgl. Nölle 1993:65f.). Man erhält demnach ausschließlich Antworten, die bereits im Denkhorizont des Fragers waren (vgl. Czerwenka et al. 1990:28). Auch Bocka (vgl. 2003:51) weist auf die Gefahr hin, dass durch die vorher festgelegten Antwortmöglichkeiten in quantitativen Fragebogenstudien möglicherweise Originalität und Individualität der Schülermeinungen verloren gehen und Spezifisches der Schülersicht nicht erfragt werde, zumal sich individuelle Erlebnisse und Lernerfahrungen mittels Fragebögen kaum operationalisieren und „abfragen“ lassen.
Jedenfalls erfährt man aus solchen Untersuchungen wenig über die alltäglichen Verstehens- und Handlungsmuster, die als subjektive Sichtweisen von Schule einen Teil des pädagogischen Handlungsfeldes repräsentieren. (Nölle 1993:65f.)
So finden sich zur Erforschung der Schülersicht vermehrt auch qualitative Untersuchungen mit offeneren Befragungsformen (vgl. u.a. Behrens 2011; Trautmann 2014; Palowski et al. 2014; Otto 2015). Diese erlauben vollkommen freie Aussagen der Lernenden, ohne individuelle Meinungen einzuschränken oder vorwegzunehmen. Denn darin gerade besteht das Ziel der Erhebung von Schülermeinungen: „neue Perspektiven und bisher nicht beachtete Ansichten zu finden“ (Bocka 2003:59). Vor allem in Bezug auf den Unterricht der zweiten Fremdsprachen Französisch und Spanisch liegen bislang kaum Studien vor, die Erkenntnisse liefern, wie die Jugendlichen das schulische Fremdsprachenlernen erleben. Insofern ermöglicht ein qualitativer Forschungsansatz, dieses weitgehend unbeforschte Feld zu untersuchen (vgl. Rosenthal 2014:18). Die so gewonnenen Erkenntnisse vermögen die sich bislang offenbarenden Tendenzen quantitativer Untersuchungen inhaltlich zu vertiefen und zu differenzieren.
Die Studie verfolgt keinen Anspruch auf Repräsentativität. Statt nach gemeinsam auftretenden Variablen über viele Fälle hinweg zu suchen und statistisch belegbare Zusammenhänge zwischen diesen Variablen herzustellen (vgl. ebd.: 21f.), zeichnet sich die vorliegende qualitative Untersuchung vor allem durch die detaillierte Betrachtung von Einzelfällen sowie die Konzentration auf einen spezifischen Bereich der Alltagswelt – das Erleben unterrichtlichen Fremdsprachenlernens – aus. Das Ziel dabei ist es, „die Konstruktion der Wirklichkeit zu rekonstruieren“ (Meuser 2011:140), welche die SchülerInnen in und mit ihren Handlungen vollziehen. Wirklichkeits- bzw. Sinnkonstruktionen sind den jeweiligen AkteurInnen jedoch in der Regel nicht bewusst, sodass es sich bei dem Wissen über ihre habitualisierte Alltagspraxis um ein implizites Wissen handelt. Obwohl es nicht ohne weiteres möglich ist, dieses Wissen nach Aufforderung zu verbalisieren, kann es über Methoden der empirischen Forschung zugänglich gemacht und rekonstruiert werden (vgl. ebd.: 141). Hypothesen und Theorien werden demnach nicht vorab formuliert, sondern erst im Verlauf der Auseinandersetzung mit dem empirischen Datenmaterial generiert (vgl. Bennewitz 2013:47), indem die Interaktion und Handlungspraxis bzw. das Erfahrungswissen, das für diese Alltagspraxis konstitutiv ist, rekonstruiert wird (vgl. Bohnsack 2014:12). Der Sinn, den die SchülerInnen dem Erlernen der zweiten Fremdsprache zuschreiben, kann also am ehesten dann zugänglich gemacht werden, wenn es gelingt, die entsprechenden Erfahrungen aus dem Unterricht, auf denen die Bezugnahme zum Fach beruht, zu rekonstruieren.
Dass ein solcher, eher sozialwissenschaftlicher Ansatz durchaus anschlussfähig für fremdsprachendidaktische Forschungsarbeiten ist, stellt die Arbeit von Bauer unter Beweis. Die Fallrekonstruktionen ihrer Studie zeigen,
„dass ein empirischer Zugang zu den tieferliegenden Sichtweisen der Lernenden es ermöglicht, Prozesse des Fremdsprachenlernens nicht lediglich mithilfe von psychologischen bzw. psycho-linguistischen und kognitiven Kategorien (wie z.B. Motivation, Kompetenz) zu erfassen, sondern diese auch in ihrer sozio-kulturellen und vor allem biographischen Dimension zu betrachten“ (Bauer 2015:361f.).
In der vorliegenden Studie geht es um ein Verstehen des Alltagshandelns der SchülerInnen, weshalb ihren persönlichen Ansichten und Meinungen methodologisch mit einer größtmöglichen Offenheit zu begegnen ist (vgl. Flick 2011a: 27). Für den Forschungsprozess schließt dies eine möglichst unvoreingenommene Haltung der Forscherin gegenüber dem Forschungsgegenstand ein. Unvoreingenommenheit