Leichter Atem. Iwan BuninЧитать онлайн книгу.
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Iwan Bunin
Leichter Atem
Erzählungen 1916–1919
Aus dem Russischen von Dorothea Trottenberg
Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Thomas Grob
DÖRLEMANN
Die Übersetzung der Erzählungen »Der Sohn«, »Leichter Atem«, »Das Lied vom Gotsen«, »Kasimir Stanislawowitsch« und »Aglaja« folgt der Ausgabe: Bunin, Iwan: Gospodin is San-Franzisko. Paris: Imprimerie Union 1920.
Die Übersetzung der Erzählungen »Die Alte«, »Fastenzeit«, »Der dritte Hahnenschrei«, »Schlingenohren«, »Changs Träume«, »Der Landsmann«, »Otto Stein«, »Das Hinscheiden« und »Gotami« folgt der Ausgabe: Bunin, Iwan: Rosa Ijerichona. Berlin: Slowo 1924.
Die Übersetzung der Erzählungen »Der letzte Frühling«, »Der letzte Herbst« und »Der Streit« folgt der Ausgabe: Bunin, I.A., Sobranie sotschinenii I.A.Bunina. Berlin: Petropolis 1934–1936 (Bd. X).
Die Übersetzung der Erzählung »Ein Wintertraum« folgt der Ausgabe: Bunin, I.A.: Sobranie sotschinenii v dewjati tomach. Moskva: Chudoschestwennaja literatura 1966 (Bd. V).
eBook-Ausgabe 2020
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
© The Estate of Ivan Bunin
© 2020 Dörlemann Verlag AG, Zürich
Umschlaggestaltung: Mike Bierwolf unter Verwendung des Gemäldes Moskau, Zubovskaja-Platz, Studie (1916) von Wassily Kandinsky
Porträt Iwan Bunin, S. 5: The Estate of Ivan Bunin
Satz: Dörlemann Satz, Lemförde
Druck und Bindung: CPI – Clausen und Bosse, Leck
ISBN 978-3-03820-973-7
Inhalt
Aglaja
Die Alte
Fastenzeit
Der dritte Hahnenschrei
Schlingenohren
Changs Träume
Der Landsmann
Otto Stein
Der letzte Frühling
Der letzte Herbst
Der Streit
Das Hinscheiden
Ein Wintertraum
Gotami
Nachwort
Anmerkungen der Übersetzerin
Editorische Notiz
Zum Buch
Zum Autor, zu seiner Übersetzerin und zum Herausgeber
Iwan Bunin
Der Sohn
Madame Mareau war in Lausanne geboren und aufgewachsen, in einer strengen, rechtschaffenen und fleißigen Familie. Sie hatte nicht früh, aber aus Liebe geheiratet. Im März 1876 befand sich unter den Passagieren des alten französischen Dampfschiffs Auvergne, das von Marseille aus nach Italien fuhr, ein neuvermähltes Paar. Die Tage waren still und kühl, das Meer verlor sich silbrig spiegelnd in den dunstigen Frühlingsweiten, die Neuvermählten blieben stets an Deck. Alle erfreuten sich an ihnen, betrachteten ihr Glück mit einem freundlichen Lächeln: Bei ihm zeigte sich dieses Glück in seinem munteren, resoluten Blick, in dem Bedürfnis nach Bewegung, in der überschwenglichen Leutseligkeit gegenüber den anderen Passagieren, bei ihr in dem freudigen Interesse, mit dem sie jede Einzelheit aufnahm … Diese Neuvermählten waren die Mareaus.
Er war etwa zehn Jahre älter als sie, nicht sonderlich groß, hatte einen bräunlichen Teint und lockiges Haar; seine Hand war hager, seine Stimme klangvoll. Sie dagegen war erkennbar anderer, nichtromanischer Abstammung; sie schien ein wenig groß – wenngleich ihre Taille ganz entzückend war – und hatte dunkles Haar und graublaue Augen. Über Neapel, Palermo und Tunis reisten sie in die algerische Stadt Constantine, wo Monsieur Mareau eine recht bedeutende Stellung bekommen hatte. Und das Leben in Constantine, die vierzehn Jahre, die seit jenem glücklichen Frühling vergangen waren, hatte ihnen all das geschenkt, was die Menschen für gewöhnlich zufriedenstellt: Wohlstand, ein harmonisches Familienleben, gesunde und schöne Kinder.
In den vierzehn Jahren hatten sich die Mareaus äußerlich sehr verändert. Sein Gesicht war dunkel geworden wie das eines Arabers, er war grauhaarig und hager von der Arbeit, vom vielen Reisen, vom Tabak und von der Sonne – viele hielten ihn für einen gebürtigen Algerier. Sie wiederum hätte niemand mehr als die junge Frau erkannt, die einst auf der Auvergne hergereist war: Damals strahlten selbst ihre Schuhe, die sie nachts vor die Tür stellte, den Zauber der Jugend aus; jetzt hatte auch ihr Haar einen Silberschimmer, war ihre Haut feiner und goldgetönter, waren ihre Arme magerer geworden, und in der Pflege, die sie ihnen angedeihen ließ, in der Frisur, in der Leibwäsche, in der Kleidung zeigte sich bereits eine gewisse übertriebene Sorgsamkeit. Natürlich hatte sich auch ihr Verhältnis zueinander geändert, wenngleich niemand behaupten würde, daß es eine Wende zum Schlechteren genommen hätte. Sie lebten indes jeder sein eigenes Leben: Seine Zeit war ganz von der Arbeit erfüllt – er war derselbe leidenschaftliche und zugleich nüchterne Mensch wie früher –, die ihre von der Fürsorge für ihn und die Kinder, zwei hübsche Mädchen, von denen die ältere beinahe schon ein Fräulein war; und alle waren einhellig der Meinung, daß es in Constantine keine bessere Hausherrin, keine bessere Mutter und keine liebenswürdigere Gesprächspartnerin im Salon gab als Madame Mareau.
Ihr Haus stand in einem ruhigen, ordentlichen Viertel. Vom ersten Stock, von den Gesellschaftszimmern aus, die wegen der geschlossenen Jalousien stets im Halbdunkel lagen, war das für seine malerische Kulisse in der ganzen Welt berühmte Constantine zu sehen: Auf schroffen Felsen liegt diese alte arabische Festung, die eine französische Stadt geworden ist. Die Fenster der schattigen, kühlen Privaträume blickten auf den Garten – in ewiger Glut, in ewigem Glast schlummerten dort jahrhundertealte Eukalyptusbäume, Sykomoren und Palmen, umgeben von hohen Mauern. Der Hausherr war diensthalber häufig abwesend. Die Hausherrin führte das zurückgezogene Dasein, zu dem die Ehefrauen aller Europäer in den Kolonien verurteilt sind. Sonntags war sie