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Hinter der Tür. Giorgio BassaniЧитать онлайн книгу.

Hinter der Tür - Giorgio  Bassani


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im Internat, das, so gab er zu, hart war, vor allem wegen der unmöglichen Zeiten, zu denen sie von den Präfekten des Morgens geweckt wurden (um Viertel nach fünf mußten sie aufstehen; dann ging es in die Kapelle zum Beten), aber es war auch gut organisiert, damit niemand die Hände in den Schoß legen konnte und immer irgend etwas zu tun hatte. Das Pensum? Sehr viel umfassender als das unsere im vergangenen Jahr. In Latein würden sie über das dritte Buch der Äneis geprüft werden, ferner über Ciceros Briefe und Den Krieg mit Jugurtha von Sallust; im Griechischen über die Kyrupädie des Xenophon, die Dialoge des Lukian und eine Auswahl aus den Parallelbiographien des Plutarch; und im Italienischen über Die Verlobten von Manzoni und Den rasenden Roland des Ariost.

      »Den Orlando furioso ganz?« fragte ich verblüfft.

      »Ja, ganz«, antwortete er trocken.

      Eine Frage aber hatte mir auf den Lippen gebrannt, und erst im letzten Augenblick, vor der Tür, schon im Begriff zu gehen, entschloß ich mich, sie zu stellen. »Hast du dich dort schon mit irgend jemandem angefreundet?« fragte ich ihn.

      Mit augenscheinlicher Genugtuung bejahte er. Doch, er habe einen sehr sympathischen Jungen aus Venedig kennengelernt, mit dem zusammen er nun arbeite. Er hieß Alzerà, Leonardo Alzerà (sein Vater war Graf!) – ein sehr begabter Bursche, auch in Italienisch, Latein und Griechisch, aber hauptsächlich in Mathematik und Geometrie; in diesen beiden Fächern sei er – unter Garantie! – nicht zu schlagen. Ich schmierte rasch mal ein Gedicht oder eine Novelle herunter, nicht wahr? Schön, er aber löste mit der gleichen Leichtigkeit zu seinem Vergnügen komplizierteste Gleichungen dritten Grades. Ein Phänomen! Mit einem solchen Kopf konnte es nicht schwer sein, einmal Wissenschaftler, Erfinder, kurz, eine Berühmtheit zu werden …

      Ob sich das Folgende tatsächlich am Morgen des 8. Januar, bei Schulbeginn nach dem Dreikönigsfest, zugetragen hat, kann ich nicht mit Bestimmtheit erklären. Ich glaube, ja. Sicher ist, daß ich eines Morgens früh, eine halbe Stunde vor dem Läuten in die Del-Gesù-Kirche trat. (Ich war noch nie in der Kirche selbst gewesen; wenn Otello vor einer Klassenarbeit oder in Voraussicht einer wichtigen Prüfung hier eintrat, ›um sich die Götter gnädig zu stimmen‹, wie ich es voller Nachsicht bei mir nannte, hatte ich ihn immer nur bis zur Tür begleitet, ohne die Schwelle je zu überschreiten.)

      Kein Mensch war um diese Stunde in der Kirche. Ich hatte langsam das rechte Seitenschiff durchschritten, die Nase in der Luft wie ein Tourist; aber die durch die hohen Fenster einfallenden Sonnenstrahlen ließen mich die großen barocken Gemälde über den Altären nicht klar erkennen. Vor dem in Halbdunkel getauchten Chor angelangt, war ich zum linken Seitenschiff hinübergegangen, das vom Sonnenlicht überflutet war. Hier aber erregte sogleich eine seltsame Gruppe bewegungsloser und schweigsamer Gestalten meine Aufmerksamkeit, die sich neben der zweiten der beiden Nebenpforten eingefunden hatte.

      Wer waren sie? Wie ich bald erkennen konnte, sowie ich nahe genug gekommen war, handelte es sich nicht um lebende Personen, sondern um Statuen. Statuen aus bemaltem Holz, in Lebensgröße gearbeitet. Und zwar um jene berühmte Beweinung Christi aus S. Maria della Rosa, vor die mich in meiner Kindheit Malvina (meine einzige katholische Tante) so oft geführt hatte, allerdings nicht hier, sondern eben in S. Maria della Rosa in der Via Armari, von wo die Gruppe offenbar später in die Jesuskirche gebracht worden war. Auch jetzt versenkte ich mich wieder in die grausame Szene und sah den fahlen, gemarterten Leib des toten Christus, der auf dem nackten Boden ruhte, und um ihn versammelt, erstarrt in ihrem Schmerz in stummer Gebärde, mit stummen verzerrten Gesichtern, mit Tränen, die sich nie ausweinen durften, die Angehörigen und Freunde: Maria, Johannes, Joseph von Arimathia, Simon, Magdalena und zwei fromme Frauen. Und während ich die Statuen betrachtete, erinnerte ich mich an Tante Malvina, die bei diesem Anblick nie ihre Tränen zurückhalten konnte. Sie zog den schwarzen Jungfernschal über ihre Augen und kniete nieder, natürlich ohne daß sie es wagte, auch ihren kleinen ungetauften Neffen niederknien zu heißen.

      Endlich raffte ich mich auf, wandte mich um und wollte die Kirche verlassen.

      Und in diesem Augenblick entdeckte ich Carlo Cattolica. Er kniete in einer Bank des Mittelschiffs, ruhig und gesammelt, der einzige Besucher in der Kirche.

      Meine erste Regung war, ihn nicht zu stören und fortzugehen, ohne daß er mich bemerkte. Statt dessen ging ich auf Zehenspitzen und mit klopfendem Herzen durch das Seitenschiff bis zu seiner Bank.

      Er hatte seine Bücher neben sich gelegt und betete. Die schöne, reine Stirn über die gefalteten Hände gebeugt, bot er mir, der ich ihn beobachtete, das gleiche scharfgeschnittene, rätselhafte Profil, das er mir täglich in der Schule zeigte. Ich spürte einen Schmerz. Warum waren wir nicht Freunde, fragte ich mich. Warum konnten wir nicht Freunde werden? Vielleicht, weil er mich nicht genug schätzte? Aber daran konnte es nicht liegen, denn wie tüchtig und intelligent Boldini und Grassi immer sein mochten, sie waren es gewiß nicht mehr als ich. Dann vielleicht der unterschiedlichen Religion wegen? Aber die Zugehörigkeit zu einer anderen Religion hatte zwischen Otello und mir nie eine Rolle gespielt. Ganz und gar nicht. Die Fortis waren alle sehr religiös und in katholischen Organisationen tätig (der Rechtsanwalt Forti gehörte dem Vinzenzverein an, und auch Giuseppe war vor zwei Jahren dort Mitglied geworden), und doch hatte mich keiner von ihnen je spüren lassen, daß ich Jude war. Übrigens waren die Eltern Cattolicas keineswegs dafür bekannt, besonders kirchlich gesinnt zu sein. Warum also? Warum?

      Cattolica hatte sich erhoben, sich bekreuzigt und mich bemerkt – er kam auf mich zu. »Nanu, was machst du denn hier?« fragte er mich leise.

      »Ich habe mir die Beweinung angesehen«, antwortete ich und wies dabei mit dem Daumen in die Richtung der Statuengruppe.

      »Ach, hast du die noch nicht gekannt?«

      Doch, ich hätte sie schon gekannt, erklärte ich ihm, da ich sie als Kind des öfteren in S. Maria della Rosa gesehen hätte. Und während wir noch einmal umkehrten, um die Statuen nun gemeinsam anzuschauen, verbreitete ich mich über Tante Malvina und ihre Leidenschaft, Kirchen zu besichtigen, sämtliche Kirchen der Stadt.

      Das schien ihn zu interessieren. Er wollte wissen, wer diese Tante war. Vielleicht die Schwester meiner Mutter?

      »Nein, die Schwester meiner Großmutter«, erwiderte ich und fügte hinzu: »Meiner Großmutter mütterlicherseits, die eine Marchi ist.«

      Wir waren unterdessen auf den Platz vor der Kirche hinausgetreten. Es fehlten nur noch wenige Minuten bis neun Uhr, und überall, auf dem Kirchplatz, in der Via Borgoleoni und vor allem vor der Tür des Gymnasiums zeigten sich in Scharen die Schüler. Nebeneinander lehnten wir an der roten Fassade der Jesuskirche. Und da uns keiner unserer Kameraden zu bemerken schien, setzten wir die Unterhaltung fort. Es war das erste Mal. Das Ereignis bewegte mich. Es machte mich gesprächig, es reizte mein Bedürfnis nach vertraulicher Mitteilsamkeit.

      Wir hatten begonnen, allgemein über Religion zu sprechen, aber er fragte mich, ob es wahr sei, daß wir ›Israeliten‹ nicht an die Madonna glaubten, ob es stimme, daß nach unserer Auffassung Jesus Christus nicht der Sohn Gottes sei, ob es zutreffe, daß wir noch immer den Messias erwarteten, ob wir tatsächlich ›in der Kirche‹ den Hut auf dem Kopfe behielten, und dergleichen mehr. Und ich antwortete Punkt für Punkt mehr als bereitwillig auf alle Fragen, weil ich plötzlich fühlte, daß seine oberflächliche, gewöhnliche, ja taktlose Neugier mich nicht verletzte, sondern mir im Gegenteil gefiel, mich befreite.

      Aber zuletzt stellte ich ihm eine Frage.

      »Entschuldige«, fragte ich, »seid ihr – ich meine deine Familie – schon immer katholisch gewesen?«

      »Das möchte ich meinen«, antwortete er mit einem angedeuteten, hochmütigen Lächeln. »Warum?«

      »Ich weiß nicht. Cattolica ist ein Ort, am Meer … zwischen Riccione und Pesaro, und die Juden haben alle, wie du weißt, ihre Familiennamen nach den Namen von Städten und Dörfern erhalten.«

      Er straffte sich.

      »Aber das stimmt nicht«, widersprach er sogleich und zeigte sich, wenigstens auf diesem Gebiet, vollkommen informiert. »Viele Israeliten heißen nach Städten und Dörfern, aber


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