Ellenbogenfreiheit. Daniel C. DennettЧитать онлайн книгу.
Der vernachlässigte Nihilismus
2. Verminderte Zurechnungsfähigkeit und das Gespenst der schleichenden Exkulpation
3. Das schreckliche Geheimnis wird bestritten
Einleitung zur Neuauflage
Als ich Ellenbogenfreiheit im Jahre 1984 veröffentlichte, nahm ich an, es bliebe das einzige Buch über Willensfreiheit, das ich je zu schreiben für nötig halten würde. Und ich glaube, dass es nach dreißig Jahren nach wie vor eine sehr effektive, wenn auch schwerlich umfassende Argumentation für den Kompatibilismus darstellt. Die Varianten des freien Willens, die erstrebenswert sind, die Varianten, die moralische und künstlerische Verantwortung garantieren, werden nicht nur nicht durch die Fortschritte in den (Neuro-)Wissenschaften gefährdet; sie werden sogar unterschieden, erklärt und detailliert gerechtfertigt. Daneben sind noch andere, einfach zu definierende Varianten der Willensfreiheit in Umlauf, die nicht vereinbar sind mit unserem derzeitigen Wissen darüber, wie Menschen ihr Verhalten kontrollieren, wie etwa „libertarische Freiheit“ oder „Agenskausalität“. Sie existieren aber nicht und können auch nicht existieren; selbst wenn einige Philosophen sie immer noch ernst nehmen, sind sie bloß von historischem Interesse wie Meerjungfrauen und Kobolde.
Man kann sagen, dass ich die Hartnäckigkeit einiger der Ideen unterschätzt habe, die ich in den 1980er Jahren zu demontieren und zu diskreditieren versuchte. Obwohl der Kompatibilismus, wie ich ihn in Ellenbogenfreiheit verteidigt habe, unter Philosophen wohl immer noch mehrheitlich vertreten wird, gibt es nach wie vor tapfere Verfechter all dieser anderen Ismen, die ihre Positionen weiterhin in Büchern und Artikeln verteidigen. Etwas beunruhigender ist die Tatsache, dass sich einige eminente Wissenschaftler seit kurzem für den freien Willen interessieren und ihn selbstsicher als Illusion bezeichnen. Unter ihnen finden sich der Physiker Stephen Hawking, der Evolutionsbiologe Jerry Coyne sowie die Kognitionswissenschaftler Wolf Singer, Chris Frith und Paul Bloom. Sie beschränken sich dabei auf jene nur von Minderheiten vertretenen Willensfreiheitskonzeptionen, ignorieren aber den Kompatibilismus, statt ihn zu berücksichtigen. Oder aber sie akzeptieren dankbar Kants berüchtigte Abweisung (eine „elende Täuschung“) ohne weitere Diskussion.
Warum? Warum konzentrieren sich diese Wissenschaftler auf die am wenigsten wissenschaftlich fundierten Konzeptionen von Willensfreiheit? Als ich einige von ihnen befragt habe, stellte sich heraus, dass sie zum einen Bestürzung über unsere gegenwärtigen Strafsysteme umtreibt (eine Bestürzung, die wir alle teilen sollten), zum anderen folgende Intuition: Könnten wir uns nur dieses antiquierten Mythos des freien Willens entledigen, dann könnten wir moralische Verantwortung verbannen und Strafe (punishment) – die sie nicht von Sühne (retribution) unterscheiden – durch etwas Besseres ersetzen, etwas, das freilich selten angegeben wird. Es fällt ihnen relativ leicht, zu zeigen, dass die Idee eines Ich oder einer Seele, das oder die sich auf wundersame Weise (ohne eine kausale Vorgeschichte) für die eine Handlung statt für eine andere entscheidet, reine Phantasie ist, die die Wissenschaft zurückweisen muss. Dies, so glauben sie, eliminiert den freien Willen und öffnet einer Revolution unserer Behandlung gemeingefährlicher Menschen, deren Handlungen eingeschränkt werden müssen, Tür und Tor. Da sie der Meinung sind, dass man die Details dieser rechtlichen und ethischen Reform besser den Experten für Recht und Ethik überlassen sollte, weisen sie lediglich in die Richtung einer kärglich erdichteten Zukunft ohne die schreckliche und überflüssige Last der moralischen Verantwortung. Wenn sich doch nur diese Bescheidenheit bezüglich ihrer Expertise auch auf ihre Analyse der ausschlaggebenden Konzeption von Willensfreiheit erstreckte!
Man kann meiner Meinung nach ebenso sagen, dass die Konzeption von Willensfreiheit, die ich in Ellenbogenfreiheit verteidige, weniger eine unvoreingenommene Analyse darstellt denn eine Reform unserer Alltagskonzeption – und zwar mehr, als ich damals zuzugeben bereit war. In den 1980ern hatte die Philosophie der normalen Sprache die dominante Stellung, die sie in den 1960ern innehatte, bereits eingebüßt, während ich, als verständnisvoller Schüler Ryles, immer noch mit dem Projekt beschäftigt war, zu verstehen, welcher Sinn sich hinter dem, was wir gewöhnlich sagen, verbirgt, statt es von vornherein als mythischen Unsinn zu verwerfen. Tatsächlich bin ich immer noch mit diesem Projekt beschäftigt – einem, wie ich meine, wesentlichen Element der Aufgabe des Philosophen, wie Wilfrid Sellars sie in Philosophy and the Scientific Image of Man (1962) formulierte:
„Das Ziel der Philosophie besteht, abstrakt formuliert, darin, zu verstehen, wie Dinge im weitesten Sinn des Wortes miteinander zusammenhängen im weitesten Sinn des Wortes.“
Die stillschweigenden Annahmen der Philosophie der normalen Sprache geben kein Bollwerk ab gegen die imperialistischen Übergriffe der Wissenschaft – wie einige Fanatiker vor fünfzig Jahren meinten –, aber sie sind in Kraft und legen die Bedingungen fest zu Beginn jeder Untersuchung, sei sie wissenschaftlicher oder anderer Art. Die Frage „Woraus bestehen die Dinge?“ ist nicht in wissenschaftlichen Begriffen formuliert, sondern drückt eine Neugier aus, die die Wissenschaft stillen muss – direkt oder indirekt. Daher muss man die Dinge (im weitesten Sinn des Wortes), die wir gewöhnlich für wirklich erachten, verstehen, wenn man angeben will, wie sie mit den Dingen zusammenhängen, die die Wissenschaften postulieren. Verstehen beruft sich immer auf das Prinzip der wohlwollenden Interpretation (um meinen anderen Mentor, Quine, zu zitieren), so dass es niemals eine klare Trennlinie gibt zwischen purer Analyse und Reform. Etwas einen Sinn zu verleihen heißt immer, ihm den besten Sinn zu verleihen, den man finden kann, und das kann oft – sogar typischerweise – dazu führen, dass man im Zuge der Analyse eine alltägliche Konzeption reinigt und sie ihres Übergepäcks, der Wunden ihrer Geschichte, entledigt.
Das ist es, was ich in Ellenbogenfreiheit zu tun gedachte. Ich wollte alles retten, was am alltäglichen Begriff der Willensfreiheit von Bedeutung war, aber alles Hinderliche über Bord werfen. Wenn meine Bemühungen um einen Hausputz viele unbeeindruckt ließen, könnte man mit einiger Berechtigung folgern, ich hätte versucht, das Unrettbare zu retten, und sollte es nun als aussichtslose Sache aufgeben. Mein zweites Buch zu diesem Thema, Freedom Evolves (2003), blieb der Aufgabe treu, sowohl den Ausdruck als auch den Begriff zu retten. Aber im Lichte der etwas jüngeren Diskussionen über Willensfreiheit war ich versucht, dieser Empfehlung nachzukommen, und in unveröffentlichten Vorlesungen habe ich den Ausdruck „freier Wille“ versuchsweise aufgegeben – weil er einfach zu viele unglückliche und scheinbar unwiderstehliche Konnotationen mit sich bringt, die jeder Reform standhalten –, während ich dem Thema jedoch treu blieb: der Untersuchung der Bedingungen, die der moralischen Verantwortung normaler erwachsener Menschen zugrunde liegen.1
Von meiner schwankenden Loyalität gegenüber dem Ausdruck „freier Wille“ einmal abgesehen, würde ich auch heute keine der substantiellen Thesen und Argumente aus Ellenbogenfreiheit widerrufen wollen. Im Gegenteil bin ich der Meinung, dass das Buch auch zur gegenwärtigen Diskussion maßgebliche Beiträge liefert. Zum Beispiel glaube ich, dass ich der erste Philosoph war, der die Kontrolltheorie und ihre verkürzte Konzeption der Autonomie in die Untersuchung eingeführt hat. Auch habe ich meines Wissens als Erster die Bedeutung des deterministischen Chaos als völlig akzeptablen Ersatz für den indeterministischen Zufall diskutiert. Jüngere Debatten über diese Themen legen keine Revision meiner Theorien nahe. Ich glaube auch, dass meine Diskussion von Austins Putt und seiner fälschlichen Betonung der „Verhältnisse, wie sie nun einmal waren“,2 wiederaufgenommen und weitergeführt von Christopher Taylor und mir3,