Oval. Elvia WilkЧитать онлайн книгу.
mit seiner feuchten Schnauze an ihrer Wange entlangfahren. »Normalerweise wohnt er gar nicht bei uns. Es ist nur, du weißt schon.«
»Natürlich nicht.«
Abends hatte sie wenig zu berichten. Sie hatte den Tag damit zugebracht, mit Laura ihren Vertrag noch einmal zu lesen und Der Bachelor zu gucken.
»Laura schaut zu viel fern«, war alles, was ihr dazu einfiel. »Sie braucht einen Job.«
»Was hast du gegen Fernsehen?«, fragte Louis. »Braucht sie wirklich einen Job?«
Es war gegen Mitternacht und wie vorhergesehen war es im Haus sehr heiß. Er war spät heimgekommen, sie hatten Sex gehabt, er hatte geduscht. Sie hatte ihm zugesehen, wie er das Wasser von seinem Körper abschüttelte und an der Luft trocknete. Seine Silhouette war perfekt.
»Ja, sie braucht einen Job. Aber sie tut, als wäre fernzusehen ihr Job. Sie hängt ständig in all diesen Foren rum. Als würde sie für irgendeine Prüfung büffeln. Sie hat mich heute die ganze Zeit mit Trivia vollgequatscht, und war eindeutig zu empört, als ihre Spielerin rausgeflogen ist.«
»Ich wusste gar nicht, dass es beim Bachelor Spieler gibt. Ich dachte, das wäre eine Dating Show und keine Game Show.«
»Streng genommen heißen die auch nicht Spielerinnen.«
»Gewinnen die Geld?«
»Nee, nur einen Ehemann. Aber dann kriegen sie lauter Werbeverträge und Talk-Show-Auftritte, also gewinnen sie doch irgendwie Geld.«
»Es kam mir schon immer seltsam vor, dass Laura sich diesen Schrott anschaut. War sie nicht mal so eine Art Anarchistin?«
»Ja, früher war sie richtig schwarzer Block.«
»Was für ein Klischee: Die desillusionierte Revoluzzerin.«
»Nicht ganz. Sie geht da sehr anthropologisch dran. Sie nennt das kritisches visuelles Engagement.«
»Vielleicht sieht sie auch einfach nur gern fern. Ich könnte das besser akzeptieren, wenn sie es nicht als etwas Intellektuelles verkaufen würde.«
»Du solltest dankbar sein, dass ich wegen Laura so viel fernsehe, sonst würde ich all deine kulturellen Referenzen gar nicht verstehen.«
»Aber ich schaue nie fern.«
»Musst du auch nicht, du bist ja in den USA aufgewachsen. Du hast doch sicher ferngesehen, als du ein Kind warst.«
»Nie. Pat hat mich nicht gelassen.«
Interessant. Das war eine neue Information für ihre Sammlung.
Louis nannte seine Mutter beim Vornamen, das war ihr bekannt. Anja hatte solche Fakten über Louis nebenbei erlangt, wie durch Osmose. Anders als die meisten Paare, hatten sie keinen Background-Check betrieben, als sie zusammengekommen waren. Diese langgezogene Phase der Erzählungen über das eigene Ich und der Mitteilung biografischer Informationen, die Schlussfolgerungen über die Beschaffenheit der Psyche des Anderen zuließen, hatte zwischen ihnen nie stattgefunden. Aus früheren Beziehungen, selbst aus ihrer Zeit mit Howard, hatte sie diesen Prozess erwartet, sich sogar darauf gefreut, und war verwirrt gewesen, als Louis wenig Interesse daran zeigte, etwas über ihr früheres Leben zu erfahren, was sie als einen generellen Mangel an Interesse an ihrer Person missinterpretierte.
Doch es war offensichtlich, dass ihre Gespräche unendlich unterhaltsamer und aufschlussreicher waren als die vorgezeichneten Unterhaltungen aus dem Beziehungshandbuch; sie lernten voneinander und schrieben die abgestandenen Narrative darüber, wer sie waren, neu, anstatt sie zu verfestigen. Sie schafften neue Inhalte. War es wichtig, was Louis wirklich »passiert« war, vor ihr? Das Netz aus Referenzen, Witzen und Ideen, das sich in der Gegenwart entfaltete, war realer als diese Art von Küchenpsychologisierung des eigenen Selbst. Sie hatten interessantere Dinge zu besprechen. Sie lachten viel.
Zwei Jahre lang waren sie seitwärts nebeneinanderher getänzelt und hatten die Schritte hin zur Monogamie (Exklusivität, als Paar auf Partys zu gehen, ihre Freunde einander vorzustellen, zusammenzuziehen) ohne großes Trara geschehen lassen. Dies waren Krebsschritte in eine logische Richtung, und nicht die Art von Stufen in einer Aufwärtsbewegung, von denen Anja andere Frauen oft hatte als Errungenschaft sprechen hören. Und über diese Schritte wurde nie so diskutiert, als wären sie folgenschwere Entscheidungen. Louis war in der Lage, Pläne zu schmieden, aber er machte keine Versprechungen. Das musste er auch nicht.
Und dennoch widerstand sie nicht dem Verlangen, ein grundlegendes biografisches Gerüst für ihren Freund zusammenzubasteln. Sorgfältig sammelte sie die Fakten, die er nebenbei abwarf, Überreste anderer Geschichten. Diese Fakten fügte sie behutsam zusammen. Es war wichtig, dass sie ihn besser kannte als alle anderen.
Louis’ Vater war Maschinenbauingenieur gewesen, der in einem blau-grauen Bürogebäude auf der gegenüberliegenden Seite der Schnellstraße einer Fabrik für Dieselmotoren in Columbus, Indiana, gearbeitet und sonntags in einer frühchristlichen Kirche die Orgel gespielt hatte. Als Louis noch klein war (ca. 10 J.), hatte er sich eine Herzkrankheit zugezogen, und während einer Chorprobe eine Lungenembolie erlitten, an der er noch auf seinem Stuhl in der Kirche verstorben war.
»Lungenembolie« lautete die einzige Beschreibung, die sie jemals vom Vater erhalten hatte, nicht einmal ein Name, nur »Lungenembolie« – das Gesicht ein runder Klecks geronnenen Fettes und Bluts, Arme, die leblos an ihm herabbaumelten, oder vielleicht waren seine leblosen Handgelenke auch mit einem lauten Klappern auf die Tasten gefallen. Alles sehr morbid.
Die Mutter, die bis vor Kurzem noch am Leben gewesen war, hatte natürlich einen Namen. Pats Geschichte begann, wo die des anderen Elternteils aufhörte. Nach drei Monaten im Feld und acht Monaten in der Reha, kehrte Pat erst kurz vor der Lungenembolie von ihrem Einsatz im Irak zurück. Sie war noch im Begriff, sich an ihre neuen Beine zu gewöhnen, als sie sich plötzlich allein mit Louis wiederfand – und zur alleinerziehenden Mutter auf Lebenszeit wurde. Aber sie hatte auch übermenschliche Kräfte gewonnen: Die mechanischen Gliedmaßen, die Louis sich als hölzerne Würste vorgestellt hatte, bevor er sie zum ersten Mal sah, beeindruckten ihn zutiefst. Pat verkraftete den Verlust ihrer Beine ebenso spielend wie den ihres Ehemanns (was darauf schließen ließ, dass eine gewisse Härte oder Apathie in der Familie lag, wie Anja zur Kenntnis nahm).
In seiner Jugendzeit verehrte Louis Pat und versuchte verzweifelt, sie zu beeindrucken. Er folgte ihr zu all ihren Ehrenämtern. Sie arbeitete für die Interessenvertretung der Veteranen, den Gestaltungsbeirat der Stadt, die öffentliche Bibliothek, das Reinigungsteam der Kirche. Irgendwann wurden aus flüchtigen Sonntagsbesuchen der Episkopalkirche vier Wochentage, an denen sie sich die volle Dröhnung Religion gab.
So landete Louis in der Samstags- und Sonntagsschule, im Nachmittagschor, beim Benefiz Lunch, bei der Kirchenfreizeit und bei mehr als einer Übernachtungsparty. Er musste nicht lange überredet werden; die Kirche war ein sanktionierter Ort, an dem er Basketball spielen und Mädchen kennenlernen durfte. Er hatte nie an Gott geglaubt, aber er glaubte an diese beiden Dinge. Und er glaubte an Pat. Soweit Louis das beurteilen konnte, hatte Pat keinerlei Interesse daran, wieder zu heiraten, und bis er fortzog, um zum College zu gehen, fuhr sie ihn in ihrem vollautomatischen, von der Armee finanzierten Van zur Schule, zum Basketballtraining und zum Kino. (Dass Louis es hasste, selbst zu fahren, wurde während dieser fürchterlichen Fahrt nach Hamburg klar, als Louis mit dem Wagen von der Autobahn abkam.)
Als Louis es zum Studium nach New York geschafft hatte (Bundesstaat, nicht Stadt), lernte er als Erstes, dass eine Veteranin zur Mutter zu haben, hier nicht das gleiche moralische Gewicht hatte wie im Mittleren Westen. Er lernte seine kleinbürgerliche Erziehung herunterzuspielen, und als wollte er sie wettmachen, büffelte er wie verrückt – nicht für die Uni, die er im Schlaf hätte bewältigen können, sondern um sich die intellektuellen Referenzen anzueignen, die ihm aufgrund seiner provinziellen Herkunft so grausam verwehrt worden waren (ähnlich wie Anja sie von ihm erlangte, aus zweiter oder dritter Hand). Zum ersten Mal in seinem Leben schämte Louis sich für Pat, wenn sie ihn besuchte, und in ihrem braunen Van mit den vielen Veteranen-Aufklebern am College vorfuhr. Sie glaubte, dass er sich für ihre Behinderung schämte – auch wenn das ganz und gar