Sophienlust Staffel 15 – Familienroman. Elisabeth SwobodaЧитать онлайн книгу.
»Na, weil deine Mutti weg ist.«
»Sie war doch sowieso nie da«, sagte Ulrike. »Und wenn sie da war, hat sie immer gesagt: ›Lass mich in Ruhe, ich habe keine Zeit.‹« Diesen Satz hatte sich Ulrike gut gemerkt.
»Dann bist du also nicht unglücklich?«, erkundigte sich Daniel vorsichtig.
»Nein«, sagte sie unbekümmert und sprach schon im nächsten Moment von etwas anderem.
Daniel war ungeheuer erleichtert. Er wollte nicht, dass seine Kinder unter der Scheidung litten.
Während der Fahrt nach Davos war Daniel sehr schweigsam. Da Ulrike und Jens miteinander beschäftigt waren, fiel ihnen das nicht auf. So konnte er ungestört seinen Gedanken nachhängen.
Diese Gedanken beschäftigten sich mit der Zukunft. Mit einer Zukunft ohne Anjuta. Dass er Jens und Ulrike nach Hause holen würde, stand inzwischen für ihn fest. Denn er hatte eine Erzieherin für sie gefunden. Eine ältere Frau, die erst in zwei Monaten zu ihm kommen konnte. So lange sollten die Kinder noch in Sophienlust bleiben.
Wird Anjuta dann noch leben?, fragte er sich. Vielleicht ist dieser Besuch bei ihr schon der letzte. Er trat abrupt auf die Bremse und lenkte den Wagen auf den nächsten Parkplatz.
»Was ist, Vati?«, fragte Ulrike erschrocken.
»Nichts«, sagte Daniel schnell. »Ich bin nur ein bisschen übermüdet und möchte frische Luft schöpfen.« Er lief ein paar Schritte in den angrenzenden Wald hinein.
Verwundert blickten Jens und Ulrike ihm nach. Doch als Daniel zurückkam, hatte er sich wieder in der Gewalt. Er fuhr weiter.
Kurz vor Davos brach die Dunkelheit herein.
»Wir übernachten hier irgendwo«, bestimmte Daniel. »Für einen Besuch im Sanatorium ist es ohnehin schon zu spät.«
»Schade«, sagte Jens. Er hatte sich schon so auf das Wiedersehen mit seiner Mutti gefreut.
Ulrike griff mitfühlend nach seiner Hand. Diese Geste fand Daniel rührend. Wie gut die beiden sich verstehen, dachte er. Dann erklärte er Jens die Situation. »Die Nachtschwester würde uns wahrscheinlich wieder hinauswerfen«, sagte er.
»Dann gehen wir lieber erst morgen hin«, meinte Jens verständnisvoll.
Obwohl es schon spät war, telefonierte Daniel noch mit Anjuta. »Bitte, entschuldige, Liebling. Hast du schon geschlafen?«
»Nein, ich habe auf deinen Anruf gewartet. Ich dachte mir, dass ihr es heute nicht mehr schafft.«
»Wir sind schon ganz in der Nähe. Morgen früh kommen wir vorbei. Ich habe eine wunderbare Neuigkeit für dich.«
»Verrate es mir«, bat Anjuta.
Doch er blieb fest. »Erst morgen. Ich möchte dein Gesicht dabei sehen. Und jetzt gebe ich dir noch schnell Jens und Ulrike. Sie möchten dir gute Nacht sagen.«
*
Eigentlich müsste ich mich doch freuen, dachte Daniel, als er am nächsten Morgen erwachte. In spätestens zwei Stunden sehe ich Anjuta. Ich werde die Berührung ihrer Hände spüren, ihr Gesicht sehen und sie küssen.
Aber gerade die Sehnsucht nach all diesen Dingen machte ihn traurig, weil er wusste, dass es vielleicht das letzte Mal war. Trotzdem gelang es ihm, sich vor den Kindern zusammenzunehmen. Jens und Ulrike merkten nichts. Sie freuten sich auf das Wiedersehen mit Anjuta. Ulrike genauso wie Jens. Und sie sprachen von der Zeit, da Anjuta wieder gesund sein und nach Hause kommen würde.
»Wann holst du uns nach München, Vati?«, fragte Ulrike.
»In ein bis zwei Monaten.«
»Wie lange ist das?«, wandte sich Ulrike an Jens.
»Nicht so lange«, antwortete er stolz. Dass Ulrike in ihm den großen Bruder sah, verlieh ihm ein ganz neues Selbstwertgefühl. Es hatte ihm geholfen, seine Unsicherheit zu überwinden. »Spätestens zu Weihnachten sind diese zwei Monate vorbei«, sagte er und schaute fragend zu Daniel.
Der nickte nur. Die Vorstellung, Weihnachten vielleicht ohne Anjuta verbringen zu müssen, tat ihm entsetzlich weh. »Lasst uns gehen«, sagte er und stand auf.
Die Kinder kamen seiner Aufforderung mit Freuden nach.
Zu dritt erreichten sie das Sanatorium in Davos kurz nach zehn. Freudig erregt stürmten die Kinder die Treppe hinauf. Auf den Lift konnten sie nicht warten.
Jens riss die Tür des Krankenzimmers auf. »Mutti!«
»Tante Anjuta!« Ulrike prallte auf Jens, der abrupt auf der Schwelle stehen geblieben war. Über seine Schultern konnte sie nicht blicken. Erst als er weiterging, erkannte sie, was ihn so überrascht hatte: Anjuta lag nicht im Bett. Sie saß in einem Hausmantel vor dem Fenster. Auf einem Liegestuhl.
»Mutti!« Im nächsten Moment lag Jens in Anjutas Armen.
Ein wenig hilflos blieb Ulrike stehen. Doch Anjuta vergaß die Kleine nicht. »Komm«, sagte sie mit einem zärtlichen Blick und streckte einen Arm nach Ulrike aus.
So fand Daniel Anjuta. Mit zwei Kindern im Arm. Er wusste nicht, was er davon halten sollte, dass sie im Hausmantel am Fenster saß. »Du bist leichtsinnig, Anjuta«, sagte er mahnend und begrüßte sie mit einem freundlichen Kuss auf die Wange.
»Der Arzt hat es mir erlaubt«, erklärte sie strahlend.
Im gleichen Moment öffnete sich die Tür. »Haben Sie einen Moment Zeit?«, bat die Schwester.
Daniel nickte verwundert und folgte ihr.
Die Schwester brachte ihn zum Chefarzt des Sanatoriums. Der schien nur auf Daniels Besuch gewartet zu haben.
»Das ist ein seltener Fall in unserem Sanatorium.« Er bat Daniel, Platz zu nehmen.
Daniel wusste nicht, was er davon halten sollte. Er setzte sich und blickte sein Gegenüber abwartend an.
Lächelnd sprach der Arzt weiter.
»Sie sind überrascht. Das sehe ich Ihnen an. Aber ich selbst war genauso überrascht, als ich die Röntgenaufnahmen sah.«
»Welche Röntgenaufnahmen?«, fragte Daniel. Er saß kerzengerade auf seinem Stuhl.
»Von Frau Fabricius. Wie gesagt, es grenzt fast an ein Wunder. Die Patientin hat ihre Krankheit überwunden.«
Daniel war so erregt, dass ihm die Zigarette aus der Hand fiel.
»Natürlich wird sie immer anfällig bleiben«, fuhr der Arzt fort. »Auch schwach und empfindlich. Aber sie ist geheilt.«
Daniel konnte nicht sprechen. Er saß nur da und starrte den Arzt an. Geheilt, dachte er. Anjuta ist gesund. »Ist das wirklich wahr, Herr Doktor? Ich flehe Sie an, mir die ganze Wahrheit zu sagen. Ich könnte es nicht ertragen …«
»Es ist die Wahrheit«, unterbrach der Chefarzt ihn. »Sonst hätte ich Sie gar nicht zu mir gebeten. Ich beobachte die Patientin schon lange. Aber erst in den letzten Tagen konnte ich mir Gewissheit verschaffen. In spätestens einem Monat können Sie Frau Fabricius mit nach Hause nehmen.«
Daniel taumelte von seinem Stuhl hoch. Das Glück und die Freude machten ihn benommen. Ich muss zu ihr, dachte er. Ich muss sie in die Arme nehmen, muss es ihr sagen.
Er schaute den Arzt fragend an. »Weiß sie es?«
»Ja. Wir haben es ihr gesagt. Gehen Sie zu ihr, Herr Fernau. Sie erwartet Sie sehnsüchtig.«
Daniel stürmte in Anjutas Zimmer. So impulsiv und plötzlich, dass die Kinder aufsprangen und zurückwichen. »Anjuta!« Er nahm sie in die Arme und bedeckte ihr Gesicht mit Küssen. »Du bist gesund. Du wirst leben.«
»Ich weiß es«, flüsterte sie. »Ich weiß es seit zwei Tagen. Aber ich wollte es dir persönlich sagen. Nicht am Telefon.« Sie küsste die Tränenspur von seinen Wangen. Dann streckte sie die Arme nach