Logotherapie und Existenzanalyse heute. Elisabeth LukasЧитать онлайн книгу.
den obigen Experimenten ging es um Einflüsse auf das Selbstbild. Doch auch, was wir über andere Menschen glauben, welches Bild wir uns von (speziellen?) anderen machen, bestimmt entscheidend mit, wie wir jenen anderen begegnen. Hierzu ein irrwitziges Detail aus meiner Studienzeit:
Die 1960er Jahre waren die Jahre unzähliger Rattenexperimente in den Psycholabors. Eine der Anordnungen bestand darin, dass eine Ratte von einem Podest, auf das sie gesetzt wurde, zu einem zweiten Podest nur über ein elektrisch aufgeladenes Gitter gelangen konnte, dessen Überquerung ihr heftige Schmerzen bereitete. Warum sollte sie also über das Gitter laufen? Na, weil sich dort etwas Verlockendes befand. Im ersten Versuch setzte man ein hübsches Weibchen auf das zweite Podest. Das Männchen auf dem ersten Podest sah zwar begehrlich hinüber, verkniff sich aber den schmerzhaften Weg zu seiner Geschlechtspartnerin. Im nächsten Versuch bestückte man das zweite Podest mit duftender Nahrung. Die ausgehungerte Ratte auf dem ersten Podest lief zuckend und quietschend hinüber, um sich zu sättigen, aber als man sie sogleich wieder zurückversetzte, blieb sie hocken. Der Hunger war ihr doch lieber als der Schmerz. Im nächsten Versuch legte man ein Rattenjunges auf das zweite Podest und beobachtete die Rattenmutter auf dem ersten Podest. Was würde sie tun? Sie lief über das elektrisch aufgeladene Drahtgitter zu ihrem Jungen. Man setzte sie zurück, und wiederum lief sie zu ihrem Jungen. Man erhöhte die Stromstärke im Gitter, und wiederum lief sie zu ihrem Jungen. Sie lief so lange, bis sie tot war.
Mir ist dieses Experiment – gegen das heutzutage die Tierschützer vehement protestieren würden – in Erinnerung geblieben, weil es mich zutiefst ergriff. Umso eigenartiger aber war der Kommentar der damaligen Professorengilde. „Meine Damen und Herren, Sie sehen, dass der Muttertrieb der stärkste Trieb ist, stärker noch als der Sexualtrieb oder der Nahrungstrieb. Alles, was Ihre Mütter folglich jemals für Sie getan haben, haben sie getan, um ihren eigenen stärksten Trieb zu befriedigen …“
Wir Studenten lachten – aber war es zum Lachen? War nicht mit wenigen Sätzen unser bisheriges Mutterbild umgestülpt, wenn nicht gar entwertet worden? Ach, wie gut, dass ich später in Frankls Vorlesung gestolpert bin! Dort erfuhr ich postwendend, dass es sich bei dem Professorenkommentar um eine unzulässige Projektion aus der menschlichen Dimension, in der sich so etwas wie selbstlose Mutterliebe findet, in die tierische Ebene der Triebe und Instinkte handelte – und mein Mutterbild war wieder okay.
2. DOKTRINÄRE FÜGSAMKEIT
Batthyány: Ja, wie Sie sagen, ist nicht nur das Selbstbild, sondern auch das Menschenbild ein entscheidender Faktor für die Art und Weise, wie wir der Welt und anderen Menschen begegnen. Es gibt auch dazu empirische Befunde, die mit demselben experimentellen Paradigma wie die oben beschriebenen Studien die Wechselwirkung von dem Glauben an Willensfreiheit und Dankbarkeit bestätigen. Um das kurz zu fassen: Menschen, die an die Wahl- und Willensfreiheit glauben, empfinden, wenn sie sich an Situationen erinnern, in denen ihnen jemand geholfen oder sich großzügig gezeigt hat, signifikant mehr Dankbarkeit als jene, die nicht an die Willensfreiheit glauben. Im Prinzip ist auch dieser Befund relativ leicht erklärbar – Deterministen sehen die „Ursache“ des großzügigen Verhaltens eines Dritten nicht in seiner freien persönlichen Entscheidung, sondern in unbewussten oder anderen nicht steuerbaren Einflussfaktoren begründet. Daher werten sie auch die persönliche Leistung der Großzügigkeit ab – warum auch jemandem sonderlich danken, der ohnehin „nicht anders konnte“ als eben so zu handeln, wie es die jeweiligen Determinanten vorgegeben haben? Wir sehen also: Wir haben es hier mit durchaus sozial- und alltagsrelevanten Wirkungen des Glaubens oder Nichtglaubens an die eigene Willensfreiheit bzw. des Selbst- und Menschenbilds insgesamt zu tun.
Wie subtil und tiefgreifend solche Effekte sind, zeigt sich allerdings auch daran, dass sie nicht nur im Bereich der bewussten steuerbaren mentalen Funktionen wirken und keineswegs nur das Problem der Willensfreiheit betreffen. Andere Untersuchungen haben etwa nachgewiesen, dass Patienten orthodoxer Psychoanalytiker überzufällig häufig von klassisch psychoanalytischen Traumthemen wie sexuellen Symbolen berichten, wohingegen Patienten klassischer Individualpsychologen Träume produzieren, in denen es „theoriegerecht“ um Selbstbehauptung, Geltungsstreben und Gruppendynamik geht. Und Patienten von Jungianern träumen signifikant oft von archetypischen und mythischen Figuren. Man nennt dieses bemerkenswerte Phänomen „doktrinäre Fügsamkeit“.28
Nun enden diese Wechselwirkungen zwischen Selbst- und Menschenbild auf der einen Seite und Erleben und Verhalten auf der anderen Seite keineswegs in den eben besprochenen Phänomenen selbst. Vielmehr beschreiben beide Befunde, jene zur Frage der „geglaubten Willens(un)freiheit“ ebenso wie die zur „doktrinären Fügsamkeit“ darüber hinaus einen sich fortwährend selbst verstärkenden Prozess. Das ist leicht nachzuvollziehen: Denn natürlich bestätigt das Erleben und Verhalten indoktrinierter Personen denjenigen, der aus den Beobachtungen ihres Erlebens und Verhaltens psychologische Modelle und Theorien abzuleiten versucht. Wenn also Versuchspersonen bewusst oder unbewusst Erwartungseffekte des Forschers oder Therapeuten erfüllen, dann liefern sie zugleich ja auch in hohem Maße theoriebestätigende Daten; und je mehr diese Daten die Theorie bestätigen, desto sicherer wird der jeweilige Forscher oder Therapeut sich fühlen, dass seine Theorie stimmt. Und je sicherer er sich fühlt, desto eher und stärker wird er seinerseits Erwartungseffekte evozieren.
Dieser sich selbst verstärkende Prozess macht die experimentelle Psychologie natürlich massiv artefaktanfällig.29 Vermutlich erklärt dieser Rückkoppelungsprozess auch einen Großteil der widersprüchlichen Befunde einzelner psychologischer und psychotherapeutischer Schulen – selbst wenn bei ihren Messungen methodisch sauber gearbeitet wird, was wir einmal voraussetzen wollen. Die Psychologiegeschichte besteht ja zu einem gar nicht so geringen Anteil aus einem Katalog an Modellen und Theorien, die sich zumindest eine Zeit lang bestätigen und bestätigten, obwohl wir zugleich aus der Forschung wissen, dass sie gar nicht gültig oder haltbar waren oder sind. Und in dem Zusammenhang fällt dann meist auf, dass diese Befunde nur von jenen Arbeitsgruppen erfolgreich wiederholt werden, die von der Richtigkeit dieser Modelle und Theorien hinreichend überzeugt sind, von anderen aber nicht (daher gilt ja auch die unabhängige Wiederholung als Goldstandard der Forschung). Kurz: Es ist anzunehmen, dass (neben einer unsauberen Methodologie) die genannten Rückkoppelungs- und Erwartungseffekte bei dem Bestätigungsphänomen obsoleter psychologischer Theorien eine Rolle spielen.
Abgesehen vom „Schulenstreit“ und der Artefaktanfälligkeit der psychologischen Forschung scheint mir jedoch noch wichtiger, auf die praktischen, sozialen und auch moralischen Implikationen der hier besprochenen Querverbindungen hinzuweisen. Fügt man nämlich all dieses Wissen zusammen, dann wird einem die Verantwortung, aber auch die Aufgabe (insbesondere des Logotherapeuten) bewusst, gegenzusteuern gegen eine Verkennung des Menschen. Frankl selbst ist immer wieder gegen den Reduktionismus, gegen eine egozentrische Psychologisierung und gegen den wachsenden Nihilismus gerade in den Wohlstandsgesellschaften aufgetreten und hat den Menschen verteidigt gegen jedweden Versuch, ihn „schlechter zu machen, als er ist“.
Lukas: Es ist eine blendende Idee von Ihnen, zwischen den Auswirkungen und den Entstehungen von Menschenbildern einen „circulus vitiosus“ zu wittern. In der Tat verhalten wir Menschen uns gemäß unseren Selbstbildern und unserem Selbstverständnis, und dieses unser Verhalten wird dann zum bekräftigenden Beweis jener Bilder und jenes Verständnisses, die Wissenschaftler (und andere Führungspersonen, z. B. Religionsvertreter) uns Menschen zuordnen. Vermutlich gibt es gar keinen Ausstieg aus diesem Zirkelprozess. Es gibt nur Veränderungen, die entweder an einem allmählichen Verhaltenswandel vieler Menschen ansetzen – und damit Veränderungen im populären Menschenbild nach sich ziehen, oder an einem allmählichen (Selbst-)Bewusstseinswandel vieler Menschen ansetzen – was sich modulierend auf ihr Verhalten auswirkt. Auch Zirkelprozesse sind dem „Panta rhei“ unterworfen.
Nun ist die Frage der gezielten suggestiven Beeinflussung, wie gesagt, uralt, allgegenwärtig und im Zeitalter der totalen Vernetzung aktueller als jemals zuvor. Wer hätte sich noch vor 60 Jahren vorstellen können, dass man Menschenmassen vom Schreibtisch aus per Mausklick mobilisieren, ja, sogar radikalisieren kann, etwas Bestimmtes zu tun oder zu glauben? Dass man Werbekampagnen