Die Musikantenstadt. Max GeißlerЧитать онлайн книгу.
hatte, waren auch die anderen drei über ihm, und wie eiserne Fesseln hielten ihn sehnige Arme umschlungen. Sie drehten ihm einen Knebel in den Mund; sie schnürten ihm die Arme auf den Rücken; sie warfen ihm eine Schlinge um die Füsse. Nur Stampfen und Stöhnen und das Rasen des Sturmes war zu hören und das Bersten und Ächzen der Stämme. Dann nahmen sie den machtlosen, geknebelten Mann, stellten ihn an dem Stamm einer Bergfichte auf und fesselten ihn mit verbundenen Augen an den Baum. Sie wandten sich ab und richteten sich die Moosbärte in ihren Gesichtern erst wieder zurecht. Dann lösten sie dem Gefesselten die Binde von den Augen, traten an ihn heran, und der Pechschaber redete mit tiefer, verstellter Stimme, indem er ihm das geladene Gewehr auf die Brust setzte:
„Jetzt passt auf, Mann! Wenn ich dir deine eigene Kugel in das Herz jagte, so wären wir dich los. Du, wenn du an unserer Stelle wärst, du besännst dich nicht! Und es mag nicht fern sein, dass sie einen der Waldleute heimtragen, dem dein Blei das Herz zerbissen hat.“
Der Pechschaber drückte ihm die Laufmündung fester auf die Brust. Der Gefesselte stiess wehe Laute hinter dem Knebel seines Mundes hervor und flehte mit qualvoll verängstigten Augen um Gnade.
„Du brauchst nicht um dein armselig Leben zu jammern; Mörder sind wir nicht. Wir schwärzen und schleichen auf die Wildbahn, weil unsere Weiber und Kinder hungern. Wem verschlägt das etwas? Nicht aus Lust am Gewerb’ und nicht aus Scheu vor der Arbeit, nein, die elendige Armut jagt uns hinaus in Nacht und Not. Und nun kommt so einer und will uns den Weg verlegen? Jetzt pass auf, Mann!“ — Der Pechschaber hing das Gewehr des Gefangenen an einen Aststumpf des nächsten Baumes. — „Wir haben dich nicht ins Dickicht geschleift, dass du dort verhungerst; du stehst hier ganz nah da am Wege, und diesen Weg herab geht schon noch einer, solang es Tag ist. Wer dich so sieht, wird dich lösen, wenn du auch aller Feind bist. Und wenn du frei bist, dann geh’ hin und sag: Das ist mir geschehen, weil ich den Johann Bratel einsperren liess, einsperren lumpiger Kreuzer wegen, um die er in Sturm und Nacht übers Gebirg gelaufen ist!“
Der Grenzwächter rührte den Kopf nicht, aber er schlug die Augen nieder. Da erkannten sie, dass sie den Richtigen gefangen hatten, und verschwanden im Jungholz.
10.
Der Sturm hatte den langen Tag hindurch Schnee und klirrendes Eis geworfen, und wie die Nacht hereinbrach, stieg da einer den Bergpfad hernieder, der trug ein Bund Holz auf dem Rücken. Das war der Pechschaber. Er ging gebückt, denn die mannslangen Knüppel drückten ihn krumm.
Auf einmal — er wollte gerad ein wenig verschnaufen und stützte sich auf den Ast, der ihm als Bergstock diente — auf einmal fiel sein Blick auf ein Gewehr, das vor ihm an einen Waldstamm gehängt war.
Der Pechschaber trat hinzu und wunderte sich in erstauntem Selbstgespräch, dass einer hier sein Schiesszeug aufgehängt hätte. Plötzlich vernahm er ungefüge Laute hinter sich.
„Jessmaria, was ist denn das?“
Der Pechschaber warf sein Holzbündel ab. „Nu sagen S’ mir bloss, was da geschehen ist! Und einen Knebel im Mund! O mei’, o mei’! Na warten S’, das werden wir gleich haben!“
Dabei zog er sein Messer aus dem Sack und zerschnitt die Stricke, mit denen der Wächter hundertfach an den Stamm geschlungen war. Dann sank der Mann, zum Tode matt, auf den Waldgrund. Der Pechschaber löste ihm mitleidig die Fesseln an Händen und Füssen, und schliesslich befreite der Wächter seinen Mund von dem quälenden Knebel.
„Nu sagen S’ mir nur, wie haben S’ das eigentlich angestellt, dass Sie sich da so niederträchtig fest aufgehängt haben?“
Der Grenzwächter hatte mit dem Stiefel mühsam feuchte, kalte Erde aufgewühlt und kühlte damit seine schmerzenden Handgelenke. Aber er stammelte nur zusammenhanglose Worte. Da sagte der Pechschaber:
„Was ich da versteh’, ist: Überfallen sein S’ worden. O mei’, o mei’! Jetzt, — ich werd Ihnen was sagen: Wenn Sie in dem Zustande bis zur Wachtstation laufen wollen, so kommen S’ unterwegs vollends um. Es ist von hier keine zehn Minuten, so sind wir beim Steinhof. Das Gebund Holz trag ich morgen heim und führ’ Sie, und Sie rasten sich beim Pechschaber ein wenig aus. Warm und satt müssen S’ erst werden, — und ich denke, auf beides wird’s bei den armen Pechschaberleuten schon noch reichen.“
Daheim hat der Pechschaber dem wunden Mann die Gelenke mit Ameisenspiritus eingerieben, und die Annemirl hat ihm ein schwarzes Brot und einen Kaffee gegeben.
„Sie,“ hat der Girgl zu ihm gesagt, wie der Mann dankbar den warmen Kaffee schlürfte, „heut kann ich Ihnen das schon verraten: Wenn ich das Säcklein Kaffee und das bisschen Zucker dazu im Sommer nicht gepascht hätte, da täten Sie jetzt heiss Wasser trinken.“
Und wie sie dem Wächter, weil er in dieser Nacht nach den ausgestandenen Qualen nicht schreiten konnte, eine Strohbucht in die eine Ecke der Stube gebreitet hatten, damit er seine geschwollenen Glieder pflege, tat die Annemirl das Licht aus und legte sich zu Bett. Der Pechschaber war schon drin.
„Sehen S’,“ sagte er zu dem Mann auf dem Stroh, „schlecht ist keiner von den Waldleuten, sonst wären Sie nicht so billig davongekommen. Aber arm sind sie — es ist nicht zum sagen! Und aus Niedertracht und Grausamkeit schleichen sie weder schwärzen noch wildern; aber ihr Leben müssen sie sich fristen; das müssen sie; denn der Herrgott hat ihnen zu leben geheissen.“
Da seufzte der Grenzwächter noch einmal in seinem Schmerz und dachte, so ähnlich hätte er schon heut morgen reden hören.
11.
Bald darauf ist der Johann Bratel aus dem Kotter wieder ins Waldhaus heimgekehrt. Da hat er alles erfahren, was sie dem Grenzwächter seinetwegen angetan hatten. Er hat lange versonnen auf der Ofenbank gesessen — es waren ihrer viele in sein Haus gekommen — und hat nachgedacht. Dann hat er den Mund aufgetan:
„Leut, es ist nicht gut, es ist aber auch nicht schlecht in jetziger Zeit!“
„Schlecht genug, wenn einer unschuldig acht Tage eingesperrt wird!“
„Hätt’ ich mich nicht fangen lassen, hätten sie mich nicht gehängt,“ gab der Heimgekehrte zurück. „Aber jetzt passt auf, jetzt sag ich euch eins: Wenn erst die Weiberleut im Waldgebirg sich behaben wie die Männerleut, und wenn auf sein ehrliches Wort keiner mehr ein Geld zu leihen kriegt, hernach, Leute, dann sind die schlechten Zeiten!“
Er sagte das mit weiten, geheimnisvollen Augen und einer klaren, lauten Stimme. Da wurden sie alle still im Haus; denn sie sahen in sein bleiches Gesicht und dachten über das Wort nach. Und sie dachten, das geheimnisvolle, fernschauende Wesen habe er von dem schwarzen Kreuzmann geerbt, dem über dem Schachtelmachen auch allerhand wundersame Einfälle kämen. Deshalb hatten sie den Alten vor vielen Jahren zum Gemeindevorsteher gewählt. —
Seit dem Tag, an dem der Johann Bratel den wunderlichen Ausspruch von den schlechten Zeiten getan hatte, vergassen sie seinen Namen und nannten ihn den ‚Propheten‘; das Büblein der Frau Bärbel aber, das die Pechschaberin vor einer Woche in süsser Ahnung künftiger Freuden geherzt hatte, war fortan ‚der kleine Prophet‘.
Wie die Leute aus dem Gemeindevorsteherhaus dann hinausgingen in die wüste Spätherbstnacht, dachten sie der Prophezeiung nach und sagten zueinander: „Das müsste eine elende Zeit für das Waldland sein, wenn sich die Weiberleut wie die Männer gebärdeten, und wenn einer auf sein ehrlich Wort hin kein Stück Geld sich leihen könnte. Gott mag uns behüten, dass das kommt!“
Die alte Steinhöferin aber, wie ihr die Pechschaberfrau an diesem Abend erzählte, was der Bärbel ihr Mann prophezeit habe, kreuzte die Arme vor der Brust und schloss die Augen. So lehnte sie eine Weile gegen die Kacheln. Dann sagte sie: „Leut, und ihr glaubt, dass der Schani das aus sich selber hätt’? Gott bewahr’ mich!“
Und dann begann sie zu erzählen, wie sie einst als blutjunges Dirnlein mit anderen auf der Waldwiese im Reigen gesprungen sei, und wie da auf einmal drei kniehohe Menschlein zwischen ihnen gewesen seien. Das hätten ihr die Leute hundertmal ausreden wollen. Aber die alte Steinhöferin war deswegen hundertmal zornig geworden