Maigret verliert eine Verehrerin. Georges SimenonЧитать онлайн книгу.
einmal betrat er das Schlafzimmer der Tante, die dort mit diesem unerklärlichen Strumpf am Bein in ihrem Mahagonibett lag.
Es war etwa ein Uhr, als auf dem Gehweg ein Tumult entstand, der sich erst in das Treppenhaus und dann in Richtung der Wohnungstür bewegte. Der Kommissar saß zu diesem Zeitpunkt im Mantel und mit dem Hut auf dem Kopf im tiefsten Sessel des Wohnzimmers, und er hatte so viel geraucht, dass ein blauer Dunst in der Luft hing. Er fuhr zusammen, als erwachte er aus einem Traum. Stimmen drangen an sein Ohr.
»Nun, mein lieber Kommissar?«
Es war der Vertreter der Staatsanwaltschaft Bideau, der ihm lächelnd die Hand reichte, gefolgt von dem kleinen Untersuchungsrichter Mabille, dem Gerichtsmediziner und dem Schreiber, der schon nach einem Tisch Ausschau hielt, auf dem er seine Papiere ausbreiten konnte.
»Ein interessanter Fall? Das sieht hier ja nicht gerade lustig aus …«
Gleich darauf hielt der Wagen des Erkennungsdienstes am Straßenrand, und die Fotografen fielen mit ihren sperrigen Apparaten in das Haus ein.
Eingeschüchtert und ein wenig betrübt, weil sich niemand um ihn kümmerte, zwängte sich der Polizeikommissar von Bourg-la-Reine zwischen den Herren hindurch.
»Gehen Sie bitte wieder in Ihre Wohnungen, meine Herrschaften«, sagte der vor der Wohnungstür Wache stehende Polizist noch einmal. »Es gibt hier nichts zu sehen. Sie werden gleich alle der Reihe nach vernommen. Aber um Himmels willen gehen Sie jetzt, nun gehen Sie doch …«
Es war fünf Uhr nachmittags. Der Nebel hatte sich in einen Nieselregen verwandelt, und die Straßenlaternen waren früher angegangen als sonst. Den Hut tief in die Stirn gedrückt, hastete Maigret durch den zugigen Torbogen der Kriminalpolizei und ging dann schnell die schlecht beleuchtete Treppe hinauf.
Unwillkürlich warf er einen Blick in das Wartezimmer, das jetzt im künstlichen Licht noch mehr an ein Aquarium erinnerte. Vier oder fünf Personen saßen dort starr wie die Wachsfiguren im Musée Grévin, und der Kommissar fragte sich, warum man den Raum mit dieser grünen Tapete, dieser grünen Sitzgarnitur und auch noch einem grünen Tisch ausgestattet hatte, deren Widerschein den Gesichtern eine leichenblasse Farbe verlieh.
»Ich glaube, Sie werden gesucht, Herr Kommissar«, sagte im Vorbeigehen ein Inspektor mit mehreren Akten unterm Arm.
»Der Chef möchte Sie sprechen«, empfing ihn auch der Bürodiener, der gerade Briefe frankierte.
Ohne vorher in sein Büro zu gehen, klopfte Maigret an die Tür des Direktors. Nur die Schreibtischlampe brannte.
»Nun, Maigret?«
Schweigen.
»Eine unerfreuliche Angelegenheit, nicht wahr, Sie Armer? Haben Sie etwas Neues erfahren?«
Maigret spürte, dass der Chef ihm etwas Unangenehmes mitzuteilen hatte. Mit besorgter Miene wartete er ab.
»Ich habe versucht, Sie zu informieren, aber Sie waren in Bourg-la-Reine schon nicht mehr zu erreichen. Es geht um die junge Frau … Vorhin hat Victor …«
Der stotternde Victor war einer der Pförtner im Palais de Justice. Mit seinem Schnurrbart und seiner rauen Stimme erinnerte er Maigret an einen Seehund.
»Victor hat auf dem Flur den Generalstaatsanwalt getroffen. Er war schlecht gelaunt …
›Nennen Sie das einen gefegten Boden, mein Freund?‹«
Jeder wusste, was es bedeutete, wenn der Generalstaatsanwalt jemanden ›mein Freund‹ nannte.
Maigret versuchte zu erahnen, was der Leiter der Kriminalpolizei ihm sagen würde.
»Victor war so erschrocken, dass er gleich zum Besenschrank gerannt ist. Raten Sie mal, was er da gefunden hat …«
Der Kommissar senkte den Kopf und antwortete ohne Erstaunen:
»Cécile.«
Er hatte in Bourg-la-Reine, während um ihn herum die sogenannte Beweisaufnahme vonstatten ging, genügend Zeit gehabt, alle möglichen Hypothesen über Cécile aufzustellen, aber keine hatte ihn zufriedengestellt. Er war immer wieder auf dieselbe Frage zurückgekommen:
Was hat sie nur dazu bewegen können, den Quai des Orfèvres zu verlassen, obwohl sie mir etwas so Wichtiges mitzuteilen hatte?
Er war mehr und mehr zu der Überzeugung gelangt, dass sie nicht aus eigener Initiative weggegangen war.
Jemand musste sich ihr dort, im ureigensten Refugium der Polizei, angenähert haben, wenige Schritte von Maigret entfernt, und Cécile war mit ihm gegangen.
Mit welchen Argumenten hatte man sie weggelockt? Wer hatte eine solche Macht über die junge Frau, um …
Plötzlich begriff Maigret.
»Ich hätte es wissen müssen«, murmelte er und schlug sich mit der Faust gegen die Stirn.
»Was wollen Sie damit sagen?«
»Dass sie den Quai nicht verlassen hat, dass nichts sie dazu bringen konnte, dieses Gebäude zu verlassen …«
Er war wütend auf sich selbst.
»Tot natürlich«, brummte er, auf den Boden starrend.
»Ja. Wenn Sie mitkommen wollen …«
Der Direktor der Kriminalpolizei drückte den Knopf einer Gegensprechanlage und wies den Bürodiener an:
»Falls jemand nach mir fragt oder für mich anruft, ich bin gleich wieder da.«
Sie waren beide gleichermaßen besorgt, aber der Kommissar spürte zudem die Last des schlechten Gewissens. Der Tag hatte so schön begonnen. Der Duft von Milchkaffee, von Croissants und von Rum fiel ihm wieder ein. Der strahlende Nebel im Morgengrauen …
»Übrigens, Janvier hat angerufen. Es scheint, dass Ihre Polen …«
Maigret machte eine abwinkende Geste, als wollte er alle Polen der Welt aus seinem Blickfeld verbannen.
Der Direktor öffnete eine Glastür, von der es seit mindestens zehn Jahren hieß, dass man sie zumauern werde. Aus praktischen Gründen zögerte man es jedoch hinaus, denn diese Tür ermöglichte den direkten Weg von der Kriminalpolizei zum Palais de Justice und zur Registratur. Die engen Treppen und verwinkelten Korridore erinnerten an die Kulissen eines Theaters. Wenn man einen Verdächtigen zur Staatsanwaltschaft bringen musste …
Rechts führte eine Treppe ins Dachgeschoss hinauf, wo sich der Erkennungsdienst und das Labor befanden. Ein Stück weiter hörte man hinter einer Milchglastür das pausenlose Stimmengemurmel des Palais, der Anwälte, die kamen und gingen, und der vielen Schaulustigen, die Strafgerichtsprozesse und Verhandlungen vor dem Schwurgericht mit anhörten.
Vor einer schmaleren Tür, die Gott weiß warum mitten in die Wand eingelassen war, stand ein Inspektor und rauchte. Als er die beiden Männer bemerkte, drückte er seine Zigarette aus.
Nur jemand, der das Gebäude genau kannte, konnte von dieser Tür wissen! Hinter ihr befand sich ein recht tiefer Wandschrank, eine etwa zwei Quadratmeter große dunkle Nische, in der Victor aus Bequemlichkeit seine Besen und Eimer untergebracht hatte.
Der Inspektor trat zur Seite. Der Chef öffnete die Tür, und da es in dem Verschlag keine Lampe gab, zündete er ein Streichholz an.
»Das ist sie«, sagte er.
Céciles Körper hatte sich beim Fallen nicht einmal ganz ausstrecken können; ihr Oberkörper lehnte an der Wand, und der Kopf war auf die Brust gesackt.
Maigret, dem plötzlich heiß geworden war, fuhr sich mit seinem Taschentuch übers Gesicht und steckte seine noch brennende Pfeife in die Tasche.
Es bedurfte nicht vieler Worte. Sie standen beide da und betrachteten sie, der Direktor und der Kommissar, und dieser zog unwillkürlich den Hut.
»Wissen Sie, was ich denke, Chef? Jemand ist in den Warteraum gegangen und hat ihr gesagt, dass ich sie statt in meinem Büro in einem