Stern der Ungeborenen. Ein Reiseroman. Franz WerfelЧитать онлайн книгу.
Zu dem verlegenen Nacktheitsgefühl meiner Unsichtbarkeit trat somit die furchtsame Scham hinzu, mein Denken, Wünschen, Planen, meine Zustimmung, meine Ablehnung, meine Zweifel und meine Kritik nicht völlig verbergen zu können.
„Unser Rendezvous“, sagte er, ohne meine Frage abzuwarten, „spielt sich in California ab.“
„Wie das, B.H.?“ gab ich zurück, ohne eine Anwandlung raschen Ärgers verwinden zu können. „California kenne ich. Dort hab ich gelebt. Dort lebe ich vielleicht noch immer, trotz deiner merkwürdigen Theorie über mich und mein Totsein (übrigens erinnere ich mich nicht, dir ein Rendezvous gegeben zu haben). Hättest du mir gesagt, wir befänden uns hier im Mittelwesten des Kontinents, dort wo einst die endlosen Prärien sich dehnten, ich hätte dir ohne weiteres geglaubt. Aber California kenne ich ziemlich gut. Man nennt es mit Fug und Recht paradiesisch, obwohl gewisse Snobs mißbilligende Bemerkungen über diesen schönen Erdenfleck zu machen pflegen und sogar behaupten, sie zögen das platte Florida der abwechslungsreichen Westküste vor. Diese Snobs schelten California eine mit künstlicher Üppigkeit überzogene Wüste, deren geschminkte Rosen, Bougainvillas, Poinsettias und sonstige Blumen nicht duften, deren Früchte und Gemüse nicht schmecken und deren Menschen schöngewachsen, aber gewissermaßen lemurisch sind. Das mag damit zusammenhängen, daß California, noch lange vor den uns beiden so vertrauten Anfängen der Menschheit, zu dem teilweise versunkenen Kontinent Lemuria gehörte. Davon hat sich eine Erinnerung erhalten. Die Lemuren scheinen ein schattenhafter, unernster Stamm gewesen zu sein, übertünchte Gräber, mit einem Wort, Schauspieler, die der Welt allerlei Gefälschtes und Gefärbtes vorgaukelten, das ernster Prüfung nicht standhielt. Es gibt einen zeitgenössischen Ausdruck für dieses Ur-Lemurische, das Wort „phony“, und so rümpfen die Snobs heute (ich meine mein eigenes Heute oder Gestern) ihre Nase über California hauptsächlich deshalb, weil dort in einer berühmten Stadt jene Filme, jene photographischen Phantasiegeschichten hergestellt werden, welche ihre Zeit erobert haben, obwohl oder gerade weil sie lemurisch sind. Aber vielleicht weißt du und deine gegenwärtige Menschheit gar nicht mehr, was das ist, ein Film?“
B.H. schüttelte langsam den Kopf und sah mich aufrichtig an:
„Nein, das wissen wir wirklich nicht.“
„Gleichviel, B.H.“, fuhr ich fort, leicht verwundert über meine eigene erregte Beredsamkeit. „Dieses California ist zumeist ein bergiges Land. Gegen Osten erheben sich die gewaltigen, schneebedeckten Sierren, die vielleicht noch keines Menschen Fuß erklomm. Aber auch im Westen, wo der Pazifische Ozean die Küsten benagt, gibt es überall Berge und Hügel, und wären’s auch nur Sandhaufen aus verwittertem, zerbröckeltem Urgestein. Dazwischen ziehn die breiten Täler hin, mit unendlichen Obstkulturen bepflanzt, Orangen, Limonen, Grapefruits, immer ist Blütezeit, daß einem Hören und Sehen vergeht von dem Duft. Und selbst die Wüsten blühen im April rosa und violett mit ihren hundertfältigen Kakteen. Wo immer man steht und geht, blauen die Berge in der Ferne. Hier aber . . .“
„Du vergißt“, unterbrach mich B.H., „daß du einige längere Erdepochen versäumt hast.“ (Es klang nach „unentschuldigt versäumter Schulzeit“.) „Inzwischen sind die meisten Erhebungen der Erdoberfläche eingeebnet worden, teils durch die ordnungsgemäß geologische Entwicklung des Planeten, teils durch den Zweckwillen seiner Bewohner und teils durch jenes grandios entscheidende Ereignis, von dem ich vorläufig noch schweigen will, um dich nicht allzusehr zu erschrecken . . . Berge aber gibt es nur mehr außerhalb der Kulturzone . . .“
Dagegen ließ sich freilich nichts mehr einwenden. Nur um zu nörgeln, brummte ich noch:
„Das alles ist so monoton . . . Ich wünschte mir eine Stadt hierher.“
„Wir sind in einer Stadt“, meinte mein Freund gutmütig und freute sich dieser Pointe, ehe er nach einer Weile erklärend hinzufügte: „Wir sind in einer Stadt, wofern du unter diesem Worte eine zusammenhängende Siedlung verstehst. Alles was du siehst, ist Stadt. California ist der Name einer Stadt. Sie geht nach einigen hundert Meilen Weges in Städte über, die anders heißen, obwohl die Grenzen zwischen diesen Städten abstrakter, ja rein geistiger Natur sind, denn der ganze bewohnte Globus ist eine einzige Stadt.“
„Nun gut, nenn es Stadt“, sagte ich, mehr müde als friedfertig, „obwohl ich jetzt mit Heimweh an die Türme und Tore unsrer mittelalterlichen Heimatstadt denken muß, an ihre Hochburg, den Hradschin, und an ihre gotischen und barocken Paläste . . . Wie? Und hierher bin ich eingeladen? Hast du mir nicht vorher verraten, daß ich hierher eingeladen bin, oder sollte ich’s nur geträumt haben?“
Seine Stimme wurde ein wenig feierlich:
„Du bist mehr als eingeladen. Man hat dich zitiert . . .“
Meine Unsichtbarkeit kam zweifellos meiner Intelligenz und schnellen Auffassung zu Hilfe. Ich verstand sofort. Man hat mich zitiert. Wen „zitiert“ man? Die Geister der Verstorbenen. Ich selbst war, ohne ein Gefühl besonderer Unheimlichkeit, ein solcher Geist. Und wer zitiert uns? Die Spiritisten, als da zumeist sind alte, jumperstrickende Damen, pensionierte Generale des Friedensstandes, ausrangierte höhere Staatsbeamte und so weiter. Wer kennt nicht diese leichtgläubige Gesellschaft um ein hopsendes Tischchen?
„Also so weit habt ihr es gebracht“, fuhr ich unziemend auf, „daß ihr diese Fingerübungen der Ärmsten im Geiste aus den Anfängen der Menschheit repetiert und die Intelligenzen der Toten zitiert? Plato, Napoleon, Jack the Ripper und Madame Pompadour? Wie? Ist das ausdenkbar? Und ich, ich muß es mir gefallen lassen, eine Materialisation zu sein, obwohl selbst das eine Übertreibung ist, denn ich bin ja nicht einmal ein ekdoplastisches Phänomen, sondern schlechthin unsichtbar und nur als Bewußtsein vorhanden.“
B.H. blieb ruhig und ernst:
„Manches, was dir noch viel unausdenkbarer erschiene, würdest du es kennen, wir haben’s längst verworfen; einiges aber haben wir gerettet und fortentwickelt, was du verachtet hast zu deiner Zeit.“
„Zu meiner Zeit? War’s nicht auch deine Zeit, B.H.?“
„Gewiß, F.W., es war unter andern Zeiten auch meine Zeit.“
Bitter drang es aus mir hervor:
„Und warum hast du mich zitieren lassen, gerade mich?“
Erst nach einem längern Schweigen fragte er mich zur Antwort:
„Hast du nicht in den letzten Tagen viel an mich denken müssen, F.W.?“
„Jedenfalls scheine ich nur durch dich in diese Verlegenheit gekommen zu sein, mich hier zu befinden.“
„Nein, man hat allgemein deinem Namen zugestimmt“, wehrte er rasch ab.
Mich aber durchschauerte es eitel bei diesen Worten, vom unsichtbaren Scheitel zur unsichtbaren Sohle. Wie, nach fünfzig-, sechzig-, ja vielleicht hunderttausend Jahren kennt man noch meinen Namen? Berge sind eingeebnet, Meere sind ausgetrocknet, die Gravitation der Sonne scheint abgeschwächt, vermutlich ist ihr die Erde ferner gerückt, wie diese grellen aber matten Strahlen beweisen, unter denen selbst ein Gespenst wie ich friert. Vielleicht sind auch die Tage länger geworden und mit ihnen das menschliche Leben. Trotz dieser Verwandlung jedoch über alle Maße und Begriffe, kennt man noch meinen Namen, den Namen eines Menschen, dessen ganzes verdienstloses Verdienst es ist, zwischen endlosen Perioden von Dumpfheit und Faulheit in ein paar kurzen aufgeputschten Stunden eine Anzahl von nackten Seiten Papiers mit Worten angefüllt zu haben, gereimten und ungereimten. B.H. erriet natürlich meine überheblichen Gedanken ohne Verzug.
„Nein, nein, mein Lieber, das ist es nicht“, lachte er, beinahe boshaft. „Für solcherlei hat man fast gar kein Verständnis mehr. Ich habe deinen Namen einfach aus dem Alphabet gestochen, ,durch Zufall’, würde man damals gesagt haben, in den dunklen Anfängen der Menschheit. Dein Name gefiel allen Hausgenossen recht wohl, und sie meinten einhellig, F.W. soll unser Hochzeitsgast sein, und er soll einen Blick tun aus seiner primitiven Zeit in unsere fortgeschrittene Zeit. Und wir wollen uns durch ihn von der körnigen Kraft jenes urtümlichen Weltalters anwehen lassen, von dem wir nur so wenig wissen . . . Das ist alles! Und deshalb hat man dich zitiert.“
„So, so, da bin ich nun