Stern der Ungeborenen. Ein Reiseroman. Franz WerfelЧитать онлайн книгу.
der Leinwand. Stell dir vor, das, was du bisher für dein Leben genommen hast, sei nichts als ein Krampf, eine verkümmernde Kontraktur aller Muskeln, und mit einem Schlage bist du von diesem Krampf erlöst und in der richtigen Haltung. So ungefähr empfanden wir das Leben während der Transparenz . . . Oh, du hast viel verschlafen, F.W.“
„Ich habe mir nicht gewünscht, geweckt zu werden“, erwiderte ich ebenso unlogisch wie pikiert.
„Fühlst du dich wirklich so unwohl in deinem Mantel aus Durchsichtigkeit?“ fragte er, und ich merkte, daß ich ihn gekränkt hatte.
„Wenn ich deinen klaren Bericht überdenke, B.H.“, lenkte ich ein, „so hat es sich weniger um ein astronomisches Ereignis gehandelt, das unrettbar zum Untergang geführt hätte, als um ein unendlich kurzfristiges Schwanken in der Sonnennatur zwischen Dauer und Vernichtung, zwischen Fortstrahlen und Zusammenflammen, um einen Augenblick auf des Messers Schneide gleichsam, der sich in der Lichterscheinung ausdrückte, die du oder die Wissenschaft ,Transparenzʻ nennt. Ich verstehe die Begeisterung, die Ekstase des Jüngsten Tages und der Welterlösung, die diese Transparenz auslöste. Sonst aber scheint sie ergebnislos und ohne Folgen vorübergegangen zu sein . . .“
„Sie hatte Folgen“, fiel er mir ins Wort, „die Transparenz verlief nicht nur wie ein Schauspiel . . .“
„Aber keine physikalischen und chemischen Folgen.“, warf ich ein, „bis auf die augenblickliche Vermehrung des atmosphärischen Sauerstoffs . . .“
„Irrtum“, sagte B.H., „das Ereignis hatte eine Menge von physikalischen Folgen. Daß einige Millionen Menschen während der Transparenz starben, ist nicht so wichtig. Aber sieh nach oben, F.W., und du wirst die Folgen sehen, oder richtiger, nicht sehen . . .“
Ich blickte gehorsam zum strahlenden Himmel. Er kam mir viel leerer, viel stummer vor als zu meiner Lebenszeit. Plötzlich fühlte ich in mir einen kurzen, wunderlichen Schreck: „Wo sind die Vögel?“ fragte ich.
„Das Geschlecht der Vögel ist dahin seit dem dreizehnten November-Freitag“, entgegnete er, nicht ohne schleppende Feierlichkeit, und er fügte hinzu: „Ihre Angst und ihre Begeisterung war zu groß. Sie haben’s nicht überlebt.“
Nach diesen Worten sagte B.H. nichts mehr. Er ging auf die dunkle Baumgruppe zu, die einige Schritte von uns entfernt lag. Nach einem schnellen, mißtrauischen Blick zur hochstehenden Sonne empor folgte ich ihm.
Nun, da ich mich mit fliegender Feder der eigentlichen Reisebeschreibung der mentalen oder astromentalen Zeit und Welt zuwenden sollte, fühle ich mich aufgehalten und halte mit mir, was weit gefährlicher ist, den noch immer verdutzten und vielleicht schon erbosten Leser auf.
Ich erforsche mit möglichster Wahrheitstreue mein Gedächtnis und kann es doch nicht genau ermitteln, wieviel mir B.H. von den Voraussetzungen dieser Zeit und Welt verriet, ehe wir das Haus der Hochzeiter betraten. Jetzt, ich meine jetzt, während ich dies schreibe, da immerhin einige Nächte und Tage seit meiner Heimkehr vergangen sind, scheint es mir, als habe mein Freund sich dazu bewegen lassen, mir einige knappe Informationen zu erteilen, ehe er vor einer umwucherten Gartenpforte eine kurze Verbeugung vollführte und mit halblauter Stimme ins Leere rief: „Wir sind hier, wie verabredet“, worauf sich die Pforte öffnete.
Vielleicht aber irre ich mich, und der Wiedergeborene, der mir die „Transparenz“ oder „Sonnenkatastrophe“ so beredsam preisgegeben hatte, hielt mich kurz, ehe er mich seinen Freunden vorstellte. B.H. war durchaus nicht so dienstwillig zu mir wie, um einen überheblichen Vergleich zu wagen, Vergilius etwa zu Dante. Es herrschte zwischen uns beiden trotz aller Freundschaft eine Art von unterdrücktem Streit dann und wann. Wie jeder echte Cicerone wollte B.H. mich, den Touristen, stets überwältigt sehen und vor Erstaunen fassungslos. Ich aber, wie jeder Tourist, setzte diesem Bestreben meinerseits einen hartnäckigen Widerstand entgegen und zeigte mich lieber — oft gegen meinen eigenen Willen ― abgestumpft und blasiert. So geschah es, daß B.H. nicht selten gekränkt war und mir seine Belehrung vorenthielt. Gar mancher ungeahnter Tatsachen wurde ich ohne alle Erklärung inne, durch Penetration und Osmose, ich kann’s nicht besser ausdrücken. Schon dadurch, daß ich in ihr anwesend war, durchdrang mich die unbekannte Welt und Zeit mit einem unverhofft rasch wachsenden Verständnis für ihre Besonderheiten und unermeßlichen Verwandlungen. Nur so ist es erklärbar, daß ein, nach Stunden gemessen, sehr kurzer Aufenthalt mir genügte, um diesen ausführlichen Bericht hier erstatten zu dürfen, wobei ich teils aus Zweifel an der Zuverlässigkeit meines Gedächtnisses, teils aus Scheu, den Geist des Lesers mit allzuviel Neuem zu ermüden, nur eine Auswahl aus der Fülle des Gesehenen, Erfahrenen und Gewußten in möglichst chronologischer Folge aufs Papier werfe.
B.H. hatte es vorhin verstanden, jenes ungeheure Himmelsereignis der Transparenz mir so glorios vor die Seele zu stellen, daß es mir, als ich scheu zur Sonne emporblickte, plötzlich so vorkam, als hätte ich es selbst erlebt, als wäre ich mit Körper und Seele dabei gewesen, obwohl es doch einige Jahrzehntausende oder Weltepochen vor meiner Besuchszeit stattgefunden hatte, während der tiefsten Tiefe meines Todesschlafes. Es war ein ganz richtiger Instinkt gewesen, der mich darauf bestehen ließ, zuerst in das Ereignis eingeweiht zu werden, bevor ich die Schwelle des Hochzeitshauses überschritt. Daß eine Hochzeit, das Fest der Eheschließung, so viel mehr bedeutete als in meinen Tagen, auch das hing ja mit jener erhabenen Transparenz zusammen. Seitdem unsere Sonne ihren „Anfall“ erlitten hatte, jenen infinitesimalen Augenblick zwischen strahlendem Fortbestand und explosivem Verderben, welcher so leicht unser ganzes Planetensystem hätte in dünnste Urmaterie zurückverwandeln können, seit jenem Augenblick der Augenblicke hatten nämlich auf unserer lieben und leidigen Erde einige Umwälzungen stattgefunden, die nicht unwichtiger waren als das Verschwinden des Vogelgeschlechtes.
Obwohl der Augenblick der Augenblicke so kurz gewesen, daß B.H. nicht genug Nullen in die Luft schreiben konnte, um seine Kürze darzustellen, so hatte er doch genügt, um den Abstand des Erdglobus vom Sonnengestirn etwas zu vergrößern. Es war eine ganz und gar unwesentliche Vergrößerung, welche die Umlaufszeit der Erde und somit das Jahr um kaum ein oder zwei Stunden verlängerte. Und doch — diese winzige Dehnung drückte sich in der Naturund Menschheitsgeschichte aus, nicht anders wie die leicht erlahmte Achsendrehung der Erde, die in ebenso winzigem Ausmaße die vierundzwanzig Stunden des Tages um ein Häuflein von Sekunden vermehrte. Blutiger Laie, der ich bin, berichte ich diese Veränderungen nur, ohne sie astronomisch und physikalisch beschreiben, begründen und rechtfertigen zu können. Es wird Sache der Gelehrten sein, diese von mir heimgebrachten Fakten zu prüfen.
Der skeptischeste Gelehrte jedoch wird die Wahrscheinlichkeit nicht ausschließen, daß auch geringe kosmisch-astronomische Veränderungen nicht ohne biologische Folgen bleiben können. Mit der wichtigsten dieser Konsequenzen, soweit sie die Krone der Schöpfung anbetrifft, platze ich ganz ungehöriger Weise sofort heraus. Es war dies eine sehr beträchtliche Erhöhung des menschlichen Lebensalters. Ob diese freilich einzig der Verlängerung und Verlangsamung des planetaren Rhythmus zu danken war, oder ob eine kunstvolle Verminderung jener Gefahren und Schädigungen mitspielte, wie sie den hinfälligen Körper des Menschenkindes meiner Zeit bedrohten, auch dies ist eine der Fragen, mit denen ich die Schultern der Gelehrten belasten muß. Es ist eine gewisse furchtsame Verlegenheit, die mich zwingt, die Frist an der Gartenpforte der astromentalen Epoche ein wenig hinauszuziehen. Sind wir einmal eingetreten, so wird es unsere schwierige Aufgabe sein, mit einer erdrückenden Fülle grandiosen Fortschritts fertig zu werden, der ganz und gar nichts mit technischen Verbesserungen und Erleichterungen zu tun hat, welche wir in den Anfängen der Menschheit beinahe ausschließlich mit „Fortschritt“ identifizierten. Dieses Wort, naiv und schnurgerade verwendet, umschließt, was inzwischen auch schon den Minderklugen bekannt ward, eine arge Illusion. Andererseits bleibt aber vom Bienenfleiße der wechselnden Generationen so mancher Honigtropfen der Erfahrung in den Waben zurück, den selbst Sonnen- und Erdkatastrophen sowie der partielle Gedächtnisverlust der Menschheit nicht völlig vergeuden können. Jede gehende Uhr, die dem Menschen die Stunde schlägt, ist eine Sparbüchse, in welcher die sich sammelnden Sekunden nicht ganz zinsenlos hinwegschmelzen. Die Zeit an sich thesauriert für das Menschengeschlecht, das sie erlebt und erleidet, ein gewisses Kapital, das allerdings, wie durch den letzten Willen eines weitsichtig geizigen Erblassers, nur als winzige Rente in großen