Hagakure. Jocho YamamotoЧитать онлайн книгу.
eine neue Philosophie für Krieger in Friedenszeiten zu formulieren, war der einflussreiche Militärstratege und konfuzianische Philosoph Yamaga Sokō (1622–1685), der heute als Vater der Bushidō-Ethik betrachtet wird, obwohl er selbst diesen Begriff nie benutzte. Unter dem Namen shidō, einem Begriff aus dem Konfuzianismus, der mit »Weg des konfuzianischen Edelmanns« übersetzt werden sollte, konstruierte Yamaga tatsächlich eine Philosophie, die daraufhin konzipiert war, den japanischen bushi eine neue Identität zu verleihen. An die Stellen, wo frühere Bezeichnungen wie kyūba-no michi (»Weg des Bogens und Pferdes«) oder mononofu-no michi (»Weg der Recken«) nur eine rein militärische Bedeutung hatten, führte Yamaga, wie auch sein Zeitgenosse Kumazawa Banzan (1619–1691), die konfuzianische Vorstellung vom »Weg« als »Ethos« als eine neue Dimension in die Kriegerexistenz ein. Er rechtfertigte den unproduktiven, quasi parasitären Lebensstil der bushi, indem er ihnen eine neue soziale Funktion zusprach, nämlich die, ein ideales Beispiel an Moral und Tugend für die anderen Klassen zu verkörpern.27 Indem er die soziale Rolle der Samurai hauptsächlich in moralistischen Begriffen definierte, versuchte Yamaga also, die japanischen bushi mit dem konfuzianischen Edelmann (shi) von überlegenem moralischen Niveau zu identifizieren. Dabei kam der konfuzianischen Moral und Gelehrsamkeit eine zentrale Bedeutung zu. Das hatte unter anderem zur Folge, dass Begriffe, die normalerweise als »Weg des Kriegers« übersetzt werden, eine zweite Bedeutung erhielten.
Während das Selbstverständnis der bushi, nämlich in erster Linie ein Kriegeradel zu sein, durch ständige Betonung der Notwendigkeit von militärischer Bereitschaft seitens der Obrigkeit unterstützt wurde, rationalisierte Yamagas Philosophie die Umwandlung der Kriegerklasse zu einer gebildeten Klasse von Beamten und Bürokraten. Diese Entwicklung wurde fortgesetzt in den Schriften von Schülern Yamagas wie Daidōji Yūzan (1639–1731), der, wie sein Lehrer, die Bedeutung von Gelehrsamkeit und rationalem Denken betonte.28 Im Hagakure sollte demgegenüber diese Art der konfuzianischen Argumentation vom »wahren Weg« als einem »Weg der menschlichen Moral« kritisiert werden, weil der Konfuzianismus einem Krieger, der als Mensch natürlicherweise dem Leben verhaftet sei, nur zu einer intellektuellen Ausrede verhelfe, in extremen Situationen am Leben bleiben zu können und diese Einstellung dann auch noch zu legitimieren. Im Hagakure sollten im Gegenteil Reinheit und Unverfälschtheit betont werden, die nur im Tod und im Abwerfen des »Ich« und der Bindung an das Leben zu finden seien.29
Zeitgenössische Beobachter wie Daidōji oder auch der berühmte Schriftsteller aus der Edo-Zeit Ihara Saikaku erkannten, dass der »ideale Krieger« die Ausnahme ist.30 Aber gerade weil die realen Lebensumstände der bushi der unteren Ränge und des einfachen Volks kaum zu unterscheiden waren, hing die Identität der Krieger von dem Anspruch darauf ab, dass ein essentieller Unterschied zwischen den Ständen besteht. Die Kluft zwischen dem sozialen Status und der aktuellen wirtschaftlichen Situation sowie der politischen Machtlosigkeit der meisten Krieger machte die ideologische Instrumentalisierung solcher Unterschiede, real oder fiktiv, umso notwendiger. Von bushi wurde erwartet, dass sie sich in einer Art und Weise verhielten, die sich fundamental von den angeblich niedrigen Verhaltensweisen des gemeinen Pöbels unterschied. Diese Art der Arroganz gegenüber Nicht-Samurai war genauso ein Teil des Selbstverständnisses japanischer Krieger wie Bekundungen von Bereitschaft zum militärischen Einsatz von bushi, die in ihrem Leben nie an einer Schlacht oder einem Kampf teilgenommen hatten. Aus den gleichen Gründen wurden Krieger auch für verhältnismäßig geringe Vergehen in der Regel strenger bestraft als das einfache Volk.31
Ein weiteres Bild der eher grauen Samurai-Realität zeichnet Fukuzawa Yukichi (1835–1901), dessen Beschreibung der Lebensbedingungen von bushi in seiner eigenen Domäne eine tiefe Kluft in der Samuraiklasse selbst aufzeigt. Das, was als der ideale Bushidō betrachtet wurde, d. h. ein »selbstperfektionierendes« Gelehrtenleben mit einer Betonung auf Etikette und erblichem Status, wurde und konnte in der Realität nur von den wenigen Angehörigen der höheren Ränge praktiziert werden, weil nur sie über die entsprechenden finanziellen Mittel und Freizeit verfügten. Samurai der mittleren und niederen Ränge, die die Mehrheit dieser Klasse darstellten, hatten weder die Ressourcen noch die Zeit, sich mit Fragen einer hehren Kriegerethik zu beschäftigen, sondern waren gezwungen, durch Nebenarbeiten ein produktives Leben zu führen, obwohl dies weder legal noch mit dem Kriegerideal vereinbar war.32 Daher erscheint es in diesem Zusammenhang signifikant, dass jene bushi, die eine instrumentale Rolle in der Meiji-Restauration 1867–68, der japanischen Modernisierung und letztendlich der Auflösung der Kriegerklasse spielen sollten, sich hauptsächlich aus den unteren Rängen der Samurai rekrutierten. Das Bushidō-Ideal erzeugte so eine Atmosphäre von selbstgewissem Klassenbewusstsein und Arroganz nicht nur zwischen der Krieger- und den anderen sozialen Klassen, sondern auch in der bushi-Klasse selbst. Vor diesen historischen Hintergründen gilt es nun das Milieu zu betrachten, in dem das Hagakure entstand.
Die Saga-Domäne
Die Saga-Domäne, auch Hizen-Domäne genannt, gehörte zu den tozama oder außenstehenden Fürstentümern, weil sie sich erst nach der Schlacht von Sekigahara im Jahre 1600 den Tokugawa unterworfen hatte. Gleichzeitig nahm sie, wie oben beschrieben, aufgrund der Verwandtschaftsbeziehungen der Nabeshima zur shogunalen Familie und ihres Wachauftrages in Nagasaki, wo der gesamte japanische Außenhandel abgewickelt wurde, eine besondere Stellung ein. Durch Einflüsse zum Beispiel aus Holland, die Saga über Nagasaki erfuhr, sollte die Domäne im 19. Jahrhundert neben Satsuma, Chōshū und Tosa deutlich zur Meiji-Restauration und der Modernisierung Japans beitragen. Dass Saga sich Ende des 16. und Anfang des 17. Jahrhunderts derart behaupten konnte, ist größtenteils den militärischen Fähigkeiten und dem politischen Geschick von Nabeshima Naoshige (1538–1618) und seinem Nachfolger und erstem Nabeshima-daimyō Nabeshima Katsushige (1580–1657) zu verdanken.
Nachdem Ryūzōji Takanobu, der sengoku daimyō von Saga, 1584 gefallen war, musste die Domäne zwar erhebliche Landverluste verkraften, konnte aber letztendlich unter der Führung Naoshiges überleben und ihren Bestand beim Tokugawa-bakufu durchsetzen. Weil das Fürstenhaus von Saga nicht in eine andere Domäne versetzt wurde, konnte es seine angestammten Territorien behalten und festigen. Aus diesem Grund behielt das Haus die alten Feudalstrukturen seiner Vasallengruppierung auch größtenteils bei, und dies bedeutete, dass viele Vasallen ihre eigenen Ländereien als Lehen verwalteten und Abgaben bezahlten, ihre militärischen Pflichten ableisteten und ihre eigenen Gefolgsleute unterhielten. Das hatte eine große Belastung der Klan-Finanzen und eine verhältnismäßig geringe Zentralisierung der Domäne zur Folge, die während der Edo-Zeit erst allmählich zentraler organisiert wurde.
Nachdem Nabeshima Katsushige 1607 den Fürstentitel von Saga übernommen hatte, wurden von 1606 bis 1611 umfassende Landvermessungen durchgeführt, um die Jahresproduktivität der Agrarflächen zu berechnen. Die Vermessungen ergaben 357 036 koku, nach denen sich nicht nur die Steuereinnahmen berechneten, sondern auch der Status des daimyō gegenüber anderen Fürsten ermessen wurde. Darüber hinaus konfiszierte Katsushige zur Festigung der Klanfinanzen die Lehen und Einkommen aller Krieger unter 50 koku, enthob sie ihrer Ämter und bezahlte ihnen als Ausgleich ein Gehalt aus den Vorratsspeichern der Domäne. Trotzdem hatten diese niederen bushi der unteren Ränge weiterhin die Pflicht, zu Kriegszeiten mit Speer und Rüstung Militärdienst zu leisten. 1611 setzte Katsushige zusätzlich durch, dass alle Vasallen 30 Prozent ihrer angestammten Lehen, d. h. ihrer angestammten Ländereien, an die Domäne abgeben mussten. Mit diesen zusätzlichen Einkünften wurden für den Erhalt des Klans vier Zweigfamilien des Nabeshima-Hauses eingerichtet und mit Ländereien ausgestattet, nämlich die Häuser der Kashima, Ogi, Hasunoike und Shiraishi. Außerdem wurden den Familien von Vasallen Kinder des Nabeshima-Hauses zur Adoption gegeben bzw. wurde ihnen das Recht verliehen, ihrem Familiennamen den Namen Nabeshima anzuhängen. Auf diese Weise errichteten die Nabeshima eine breite Basis für den Erhalt und erreichten einen starken Zusammenschluss ihrer Domäne.
1642 wurden allerdings die Oberhäupter der Kashima-, Hasunoike- und Ogi-Nebenlinien aufgrund der Höhe ihrer Einkommen selbst zu daimyō mit ihren eigenen Domänen erklärt, die sich als Zweigdomänen von Saga abspalteten und so praktisch wieder eine Zerstückelung der Klan-Finanzen nach sich zogen. Die militärische Bewachung Nagasakis