Gott singt. Ulrike GadenneЧитать онлайн книгу.
Beine lahm, die Zunge klebt am Gaumen, aber das heftige Schütteln des Fahrzeugs sorgt für eine automatische Körperverlagerung und damit Entspannung.
Die Gedanken driften ab, und je mehr sie sich auf den Körper konzentrieren, umso unerträglicher wird es. In einer Art Halbschlaf ziehen die Situationen dieses Aufenthalts an mir vorbei, immer wieder Baba, Sein Gesicht, die kräftigen, aber feingliedrigen Hände, die zierlichen Füße, die schrägen Augen, der unergründliche Blick, der gleichzeitig alles Sichtbare und Unsichtbare umfasst, alles ist merkwürdig fließend und doch klar. Ich bin wach, aber gleichzeitig wird jede Vorstellung sofort aufgelöst. Es gibt keine Zeit … Die Erinnerung setzt aus. Nach einer Ewigkeit werden plötzlich die Sinne wieder wach – Autos hupen, Fahrräder klingeln, Händler schreien – die Stadt nähert sich. Ich realisiere überwach meine Situation und denke: »Bald ist es geschafft!«
In dem Moment gibt es einen Ruck, und der Bus steht – wie es sich anfühlt – im Stau. Meine Erwartungshaltung bewirkt, dass die sechsstündige Bewegungslosigkeit sich jetzt furchtbar bemerkbar macht: auf Beinen und Armen kribbeln Ameisen, die Gliedmaßen wollen aus imaginären Eisenklammern ausbrechen, alle Ungeduld meines Lebens konzentriert sich in diesen Moment. Ich kann nichts tun und bin wie gelähmt. Der Körper ist ein quälendes, schmerzendes, unerträgliches Gefängnis.
Der nächste Moment ist schwer zu beschreiben: wie aus einem alten Schlauch löst sich der Teil, der sich als Ich fühlt, wird leicht und schwebt nach oben … Ich schaue nach unten, wo meine Kleider bzw. mein Körper liegen. Aber wer ist Ich? Hinter mir sagt M.: »Hier stehen wir noch bis übermorgen«, aber da ist niemand mehr, den das interessiert, mag der Bus auch noch eine Woche da stehen … Dieser Zustand von Sein findet in einer anderen Wirklichkeit statt. Ohne Körper sein, frei, reine Freude, nur leicht und selig, nur Sein … Der Bus setzt sich wieder in Bewegung, ein weißer Vogel fliegt mit …
Das Ganze mochte nur einige Sekunden gedauert haben (eigentlich geschah es außerhalb von Zeit, denn jemand, der über Zeit nachdenkt, existiert hier nicht), dann verschwindet alles in einer blauen Mattscheibe und ein gnädiger Schlaf lässt mich sanft in den Körper zurückkehren. Am Busbahnhof weckt mich M. auf, ich komme aus weiter Ferne und finde nur schwer zurück.
Erst als wir in der Riksha sitzen, löst sich ein heftiger Gewitterregen und wir kommen tropfnass im Ashram an. Baba sitzt schon mit einigen Devotees im Büro und begrüßt uns von weitem.
Am nächsten Morgen lasse ich das Ereignis noch einmal an mir vorüberziehen. Ich realisiere, dass erst die Erwartungshaltung gegen Ende der Fahrt den Zustand der Bewegungslosigkeit unerträglich gemacht hat.
So mag sich Sterben anfühlen, wenn die Seele sich löst aus dem Gefängnis des Körpers und sich weitet in ihre ureigene Freiheit. Aber das schien nicht die eigentliche Botschaft zu sein. Was war geschehen? Ein sich zunächst wohlfühlender, dann mehr und mehr gefühlloser und schließlich schmerzender Körper, also etwas, das in ständigem Wechsel unterschiedliche Zustände erfährt und das Objekt von Freude und Leiden ist, liegt plötzlich schlaff und leblos da – ein Stück Abfall, das achtlos fortgeworfen wurde. Allerdings ist dasjenige, das Ich zu diesem Objekt gesagt hat, noch da – es »sieht« ohne Augen und »hört« ohne Ohren. Es IST – reines Bewusstsein, Freiheit und Seligkeit – ohne die Einschränkungen, die der Körper setzt. Das also war das Thema des »Crashkurses«: »Ich bin nicht mein Körper!«
Hörtraining
Obwohl sich hinterher immer alles als sinnvoll herausgestellt hat, bin ich immer noch unsicher, wie ich das verstehen soll, was ich »höre«.
Wir sind für einige Tage in dem kleinen Ashram in Banjara-Hills, Hyderabad. Eines Morgens soll ich mich besser nicht mit einer bestimmten Gesichtscreme einreiben, die außerdem noch ziemlich teuer gewesen ist. Da ich diesmal der »Stimme« misstraue und die Creme zu kostbar finde, reibe ich mich trotzdem damit ein. Als Baba zum Darshan herauskommt, fangen meine Augen an, höllisch zu brennen, so dass ich rausgehen muss, um die Creme abzuwaschen. Vorher ist diese Reaktion nie aufgetreten, aber da die Creme ein rein chemisches Kunstprodukt war, tat ich mir wohl nichts Gutes damit.
Eines Nachts wache ich gegen 4 Uhr mit heißen Füßen auf. Wenn ich nachts aufwache, schlafe ich gewöhnlich sofort wieder ein und hasse es aufzustehen. »Geh nach draußen«, klingt es in mir. Ich laufe zwei Runden im Hof, die Füße sind kühler, und ich bin froh, als ich weiterschlafen kann. Aber das »Programm« ist noch nicht zu Ende: »Geh aufs Dach!« Das ist eigentlich nicht erlaubt, weil man an Babas Räumen vorbei muss, aber ich schiebe alle Bedenken beiseite und den Türriegel zurück, steige die Treppe hoch und gehe an Babas Wohnungstür vorbei aufs Dach.
Da es regnet, mache ich nur eine Runde. Im Bett ist es warm und trocken, aber kurz vor dem Einschlafen »höre« ich zum dritten Mal die Stimme: »Geh aufs Dach!« und nehme einen intensiven Sandelholzduft wahr – einen von Babas Düften – und entriegele leise die Tür. Auf der Treppe noch einmal der Sandelholzduft. Langsam dämmert der Morgen. Auf dem Dach ist es still, nur ein Hund bellt und der Wind raschelt in den Palmen. Zwischen den Wolken verblassen die Sterne …
Bei der Meditation am Morgen ein Schwingen im Kopf, ein leichtes Druckgefühl hinter der Stirn, Kribbeln bis in die Haare, die Arme zucken unwillkürlich. Mein abgewinkeltes Bein schläft ein – »Bleib so sitzen!« –, plötzlich werde ich wie auf eine höhere Stufe getragen, statt Schmerz ein Gefühl von Leichtigkeit und Weite.
In der nächsten Nacht wache ich um die gleiche Zeit auf, gehe aufs Dach. Ein Nachtvogel schreit, ein lauer Wind durchlüftet mich. Als ich runter gehen will: »Bleib noch ein bisschen!« Statt Runden laufe ich jetzt Lemniskaten – die Richtungsänderungen wirken wie erfrischende Energieschübe, im Gegensatz zu den Runden, die auf die Dauer schwindelig und schläfrig machen. Auf der Treppe wieder Babas Duft. Erst viele Jahre später lese ich in einem Buch, dass die Lemniskate das geometrische Symbol für die Beziehung zwischen einem »Weißen Meister« und seinem Schüler ist…
Beim morgendlichen Bhajansingen sitzt ein fremder Yogi in der ersten Reihe, ruhig, aufrecht, vollkommen entspannt. Diesmal versuche ich auch während des Singens aufrecht und still zu sitzen. Nach einer Weile schmerzt die Haltung. Baba kommt im pinkfarbenen Gewand die Treppe herunter und setzt sich auf den Simhasana (Löwenthron). »Der Schmerz ist nicht real, konzentriere dich auf mich!«, klingt es innen. Je mehr ich mich auf Babas Form und den göttlichen Namen konzentriere, umso mehr vergesse ich die schmerzenden Knie.
Was das Sitzen angeht, war ich anfangs völlig unerfahren und darum entspannt, je mehr ich jedoch lerne, aufrecht und still zu sitzen, umso mehr wird der Schmerz ein »Thema« und die Konzentration flackert zwischen den beiden Polen hin und her, was zusätzlich störenden Gedanken Tür und Tor öffnet. Gleichzeitig ist es paradoxerweise so, dass, der Schmerz, wenn er unerträglich wird, die stärkste Hilfe ist, mich voll und ganz auf das Mantra zu konzentrieren.
Mit Babas Hilfe gelingt es jedes Mal, den »Klang« des Mantras so zu steigern, dass er den Schmerz »übertönt«, so dass die Glocke meistens unerwartet früh das Ende der Meditation anzeigt.
Am nächsten Tag zur Nachmittagsmeditation setze ich mich bequem im Schneidersitz auf den Boden. Früher als sonst schmerzt das rechte Hüftgelenk, am Steißbein fühlt es sich an, als ob ich direkt auf einem Nerv säße, das linke Bein schläft ein …
Das OM in meinem Kopf wird lauter und ich versuche, mich aus dem Schmerz herauszuziehen. Ich höre: »Don‘t move, entspanne dich!« Die Kraft des göttlichen Namens wird stärker, »wandert« in meinem Kopf, zieht vom rechten Ohr zur Schädeldecke, unter der es anfängt zu kribbeln. Die Konzentration auf den Scheitelpunkt lässt mich schwitzen, Babas Kraft strömt von oben nach unten, der Oberkörper zittert. Der Hinterkopf fühlt sich an, als würde er ausgebeult. Kein Schmerz … nach einer halben Stunde ertönt das Shanti, Shanti, Shanti.
Es dauert eine Weile, ehe ich die Beine anziehe und lockere, das linke fühlt sich dick und unförmig wie ein Elefantenbein an, aber Hüft- und Rückenschmerzen