Chefarzt Dr. Norden Staffel 6 – Arztroman. Helen PerkinsЧитать онлайн книгу.
das tat, dann entspannte Torben sich und versank nach und nach in der Fantasiewelt, die die junge Kinderpsychologin für ihn malte wie ein buntes Bild.
Nach mehr als zwei Stunden wurde Torben müde und schlief schließlich ein, neben Heike zusammengerollt wie ein Baby.
Auf leisen Sohlen verließ sie den Raum und schloss behutsam die Tür. Dr. Fee Norden war nicht in ihrem Büro. Heike hinterließ ihr eine kurze Nachricht und kümmerte sich dann um ihre anderen kleinen Patienten.
Bei der Visite sahen die beiden Ärztinnen sich wieder.
»Wie ist es gelaufen? Als ich in mein Büro gekommen bin, waren Sie weg und Torben hat geschlafen.«
»Ich habe ihm von Waldo erzählt.« Dr. Kreisler seufzte. »Er leidet unter einem akuten Trauma. Es wird dauern, es aufzulösen und Zugang zu dem Jungen zu finden. Wir müssen uns auf eine längere Behandlung einstellen.«
»So sehe ich es auch. Bitte verbringen Sie so viel Zeit mit Torben wie möglich. Und halten Sie mich auf dem Laufenden. Ich habe den Jungen heute offiziell auf meine Station genommen.«
Heike Kreisler versprach es. Sie war eine sehr engagierte Medizinerin, wie eigentlich alle, die in der Behnisch-Klinik arbeiteten, ob Ärzteschaft oder Pflegepersonal. Und da ihr ›Bär‹ an diesem Abend länger arbeitete, beschloss sie, es ihm einfach gleich zu tun. Sie verbrachte den Abend in Torbens Krankenzimmer mit weiteren Episoden aus Waldos Leben in den Kanälen der Stadt und hatte dabei bald noch mehr kleine Zuhörer. Fast fühlte sie sich wie eine Märchentante. Und die glänzenden, aufmerksamen Augen in den blassen Kindergesichtern taten ihr richtig gut. Nur das eigentliche Ziel, das erreichte Waldo an diesem Abend leider nicht: Eine Reaktion, ein Wort von Torben Wagner. Was Heike Kreisler sah, das war der Schrecken, der den Bub verfolgte und einfach nicht mehr los ließ, und der sich in seinen großen Augen voller Angst allzu deutlich zeigte, deutlicher vielleicht, als Worte dies vermocht hätten …
*
»Ich habe mit meinem Chef telefoniert.« Mark Hansen warf Dr. Gruber einen betretenen Blick zu. »Leider hat das auch nichts gebracht. Was das Berufliche angeht, weiß ich längst wieder über alles Bescheid. Ich erinnere mich auch an die Zeit in Kenia, mein letztes Projekt, die große Brücke am Meer.«
»Das Kalenderbild«, scherzte Amelie.
»Genau das. Ich habe Herrn Schuhmann offen gesagt, was mir passiert ist. Immerhin wollte ich ihn ja bitten, mir etwas über meine Schwester zu erzählen.« Er seufzte. »Es war eine vage Hoffnung. Leider wusste er nur wenig.«
»Was hat er Ihnen denn erzählt?«
»Dass Lisa nach München gezogen ist. Das wusste ich ja mittlerweile auch wieder. Sonst konnte er mir nichts sagen.«
»Es war einen Versuch wert.« Sie reichte ihm seine Medikamente. »Wir müssen dran bleiben.«
Nachdem er die Tabletten geschluckt hatte, fragte er sie offen: »Glauben Sie wirklich daran, dass meine Erinnerungen vollständig zurückkehren? Oder ist das nur Zweckoptimismus?«
»Ich bin von meinen Fähigkeiten als Psychologin überzeugt.«
»So habe ich das nicht gemeint. Ich wollte nicht an Ihnen zweifeln, ich frage mich nur …« Er schaute sie bekümmert an. »Wäre es nicht möglich, dass ich einige Dinge einfach für immer vergessen habe?«
Amelie Gruber schüttelte angedeutet den Kopf. »So etwas ist mir noch nicht untergekommen.«
»Aber es wäre trotzdem möglich.«
»Das Ödem hat sich vollständig zurückgebildet, die Commotio ist ebenfalls abgeklungen. Es bestehen keine körperlichen Gründe, die eine solche Prognose stützen könnten.«
»Es könnte trotzdem sein. Sie haben gesagt, dass man dem Gehirn nicht befehlen kann. Was, wenn ich mich nicht erinnern kann, weil ich es unterbewusst nicht will?«
»Welchen Grund sollte es dafür geben?«
»Ich habe den Überfall vielleicht verdrängt. Und was meinen Grund für die Reise hierher angeht, nun, den hatte ich wohl im Kopf, als ich überfallen wurde.«
»Sie denken an eine geistige Verbindung dieser beiden Erinnerungen? Eine gewagte These. Aber sehen Sie, Herr Hansen, das Gehirn ist kein Computer, Erinnerungen sind keine Dateien, die beschädigt werden können. Sie sind in lebendem Gewebe gespeichert. Der Körper arbeitet mit Aminosäuren, nicht mit Bits und Bytes. So rein mechanisch kann man das nicht erklären, da würde eine Schieflage entstehen.«
»Dann sagen Sie mir, warum ich diese Dinge nicht mehr weiß.«
Dr. Gruber wirkte ratlos. Offen gab sie zu: »Ich wünschte, ich könnte es …«
»Ich würde gerne raus, an die frische Luft. Geht das?«
»Warum nicht?« Die junge Ärztin warf einen Blick aus dem Fenster. Es war ein schöner Vorfrühlingstag, der Himmel spannte sich in klarem Hellblau über die Weltstadt mit Herz, im Klinikpark spitzten bereits die ersten Blütensterne. Amelie Gruber empfand plötzlich auch das Verlangen nach frischer Luft und Vogelgezwitscher.
»Ein Gang durch den Park kann nicht schaden. Wenn Sie ein wenig Geduld haben, begleite ich Sie. Ich habe aber vorher noch etwas zu erledigen.«
»Sie kommen mit?« Mark war ein wenig zu begeistert, wie sie lächelnd feststellte.
»Möchten Sie lieber allein sein?«
»Nein, ich dachte nur, ein Pfleger würde mich begleiten. Haben Sie denn Zeit für so was?«
»Es wird Sie überraschen, aber auch Ärzte haben manchmal Freizeit, essen, schlafen oder gehen mal spazieren.« Ihr Lächeln vertiefte sich. »Ich opfere Ihnen meine Mittagspause, wenn Sie es ganz genau wissen wollen. Aber ich tue es freiwillig, Sie müssen also kein schlechtes Gewissen haben.«
»Das ist wirklich nett von Ihnen.« Er bedachte sie mit einem Blick, der sie tatsächlich erröten ließ. Dr. Gruber schwankte zwischen Ärger und Verlegenheit und machte sich dann recht schnell aus dem Staub. Fast schien es Mark, als bereute sie ihre Einladung und er müsste wohl umsonst auf ihre Rückkehr warten. Doch sie kam eine halbe Stunde später in einer warmen Jacke und mit einer Tüte, in der sich zwei belegte Semmeln aus der Kantine befanden, wieder. Mark hatte sich inzwischen angezogen. Er war noch ein wenig wacklig auf den Beinen, lehnte aber einen Rollstuhl entschieden ab. Amelies Arm war ihm bedeutend lieber …
Der junge Ingenieur war sportlich und es gewöhnt, ein flottesTempo vorzulegen. Nun aber bremste ihn sein Körper auf ungewohnte Weise aus. Er fühlte sich schlapp und kam sogar nach ein paar Schritten außer Atem. Beschämt dachte er über den wenig positiven Eindruck nach, den er auf seine Angebetete machte.
»Ich hätte vielleicht besser den Rollstuhl genommen«, murmelte er verlegen. »Ich fühle mich wie ein alter Mann.«
»Sie haben eine Weile nur gelegen, daran gewöhnt sich unser Körper leider allzu gern. Es dauert, wieder in die gewohnte Form zu kommen. Machen Sie Sport?«
»Ja, ich gehe jeden Morgen laufen.«
Amelie lächelte erfreut. »Ich auch!«
»Und ich fahre mit dem Rad zur Arbeit.«
»Ich auch!«
»Und im Sommer habe ich immer eine Dauerkarte fürs Schwimmbad.« Er schaute sie fragend an. »Sie auch?«
»Nein, aber ich gehe schon gerne schwimmen. Leider fehlt mir oft die Zeit dazu.«
»Wir haben ein schönes Freibad, ganz in der Nähe, wo ich wohne. Waren Sie schon mal in Ulm?«
»Eine Tante von mir lebt da. Eine schöne Stadt.«
Sie hatten die Klinik verlassen und spazierten nun durch den frühlingshaften Park. Mark war einen Moment lang ganz überwältigt. Nach der Zeit in seinem Krankenzimmer empfand er die Umgebung beinahe als märchenhaft schön. Den blauen Himmel, die frische Luft, in der schon leichte, süße Blütendüfte lagen, die gepflegten Rabatten, wo das neue Grün spitzte.