Reiten nur mit Sitzhilfe. Brigitte KaluzaЧитать онлайн книгу.
Wirbeltiere vor 530 Millionen Jahren stellte sich heraus, dass ein größeres Orchester am besten von einem Dirigenten zu gemeinsamer Musik trainiert wird.
(Illustration: shutterstock.com/decade3d – anatomy online)
Der Dirigent – das Kleinhirn
Der Dirigent des neuronalen Orchesters der Bewegungskoordination ist das Kleinhirn (Cerebellum). Es besteht einerseits aus Nervenzellen, die ein detailliertes inneres Abbild des Körpers erzeugen und andererseits aus einem neuronalen Prozessor, der Bewegungen vorausberechnet und ständig das Ergebnis überprüft.
Das Kleinhirn ist der Dirigent. Früher dachte man, die Aufgabe des Kleinhirns sei die Herstellung der Körperbalance, da diese völlig von dessen Funktion abhängig ist. Mit den Methoden der modernen Neurobiologie zeigte sich jedoch, dass das Kleinhirn eine viel umfassendere Rolle spielt: Es ist ein Prozessor für überwachtes Lernen (supervised learning). Der Begriff „supervised learning“ ist eigentlich in der Informationstechnologie für einen Typ des maschinellen Lernens gebräuchlich, bei dem ein Rechner darauf trainiert wird, richtige Assoziationen herzustellen. Was „richtig“ ist, wird durch einen „Lehrer“ in Form eines Trainingsdatensatzes definiert. Beim Erbsensortieren muss man dem Prozessor also zunächst als Trainingsdatensatz sowohl eine Handvoll „guter“ und eine Handvoll „schlechter“ Erbsen zeigen, sodass er anhand dieser Beispiele lernt, die „guten ins Töpfchen“ zu sortieren. Ein solcher Prozessor vergleicht das Bild jeder neuen Erbse mit seinem Datensatz für „gute“ und „schlechte“ Erbsen und ordnet die neue Erbse dann der entsprechenden Kategorie zu. Gleichzeitig wird seine Datenbank immer größer, sodass er immer besser im Erbsensortieren wird.
Das Kleinhirn ist exakt so ein Prozessor. Im Kleinhirn befinden sich zum einen extrem zahlreiche Nervenzellen (die sogenannten „granule cells“ oder Granularzellen), die in Kontakt stehen mit allen Schaltzentren der Muskelzellen und so im Kleinhirn ein detailreiches Abbild des Körpers und seiner Bewegungszustände erzeugen. Diese innere Körperwahrnehmung im Kleinhirn wird auch als Propriozeption bezeichnet.
Die Granularzellen sind die zahlreichsten Zellen im Gehirn, um das innere Körperbild der Propriozeption detailreich zu gestalten – ebenso wie eine gute Digitalkamera Bilder mit möglichst vielen Pixeln erzeugt. Daneben gibt es im Kleinhirn die sogenannten „Purkinje“-Zellen (nach ihrem Entdecker), von denen jede mit einer unterschiedlichen kleinen Gruppe von Granularzellen verschaltet ist. Die Purkinje-Zellen sind der eigentliche Prozessor für überwachtes Lernen. Wenn wir als Mensch einen Schritt mit dem rechten Bein nach vorne machen, aktivieren wir über unsere Gangmuster-Schaltzentren unsere Rumpf- und Beinmuskulatur, um das Bein nach vorne zu schwingen, bis es wieder Bodenkontakt hat, worauf dann das Körpergewicht auf dieses Bein verlagert wird. Bevor wir jedoch mit dieser Bewegung überhaupt beginnen, wird im Kleinhirn ein Modell davon berechnet. Nachdem wir die Bewegung vollendet haben, überprüft das Kleinhirn das Resultat. Dies lässt sich nachweisen, da die zugehörigen Purkinje-Zellen sowohl 400 Millisekunden vor als auch 100 Millisekunden nach der Bewegung aktiv werden (Popa, Hewitt, & Ebner, 2014). Bevor wir irgendeine Bewegung ausführen, hat also unser Kleinhirn bereits ein inneres Bild von dieser Bewegung, das anschließend mit der Wirklichkeit abgeglichen wird. Wir können im täglichen Leben das Kleinhirn ganz einfach bei der Arbeit beobachten – wenn wir bei unserem Schritt nach vorne übersehen haben, dass es dabei eine Stufe nach unten geht. Dann ist die 400 Millisekunden zuvor vorausberechnete Hypothese des Kleinhirns nämlich falsch, dass unser rechtes Bein an einer bestimmten Position wieder festen Bodenkontakt finden wird, wir stolpern und müssen uns notfallmäßig neu ausbalancieren.
Das Kleinhirn ist also ein Prozessor, der lernen kann, indem er Hypothesen überprüft. Das gilt ganz allgemein, nicht nur für die eigene Körperbewegung, sondern für jegliches Lernen (Wagner, Kim, Savall, Schnitzer, & Luo, 2017). Für das Reiten ist es wichtig zu wissen, dass unser Kleinhirn auch mit Bewegungshypothesen arbeiten kann, die über unseren eigenen menschlichen Körper hinausgehen. Auch dies kennen Sie bereits aus dem Alltag: Sie können zusammen mit ihrem Fahrrad die Balance halten, Sie können mit ihrem gewohnten Kraftfahrzeug problemlos eine Engstelle zwischen geparkten Autos und dem Gegenverkehr passieren, Sie können mit einer Handbewegung einen Pfeil auf einem Bildschirm steuern – es gibt unzählige Beispiele dieser Art. Wenn wir unserem Kleinhirn eine passende Hypothese anbieten, wie sich ein Pferd bewegt und wie wir als reitender Mensch von diesem Pferd bewegt werden, so kann es die gemeinsame Bewegung von Mensch und Pferd berechnen.
Das Kleinhirn bekommt seine Hypothesen aus zwei Quellen. Eine Quelle ist der Erfahrungsschatz aus dem motorischen und sensorischen Feedback des Körpers beim Ausprobieren von Bewegungen, die durch „Versuch und Irrtum“ erlernt wurden. So lernen Kinder neue Bewegungen. Das Kleinhirn eines Kindes ist noch ein relativ unbeschriebenes Blatt, was Hypothesen zum perfekten Bewegungsablauf anbelangt.
Wenn das Kleinkind laufen lernt, arbeiten die Schaltzentren im Rückenmark anfangs „irgendwie“ zusammen und das Kleinhirn registriert zunächst nur Erfolge und Misserfolge (autsch!, hingefallen). Die zweite Quelle für die Hypothesen des Kleinhirns ist unsere Großhirnrinde, der Sitz unseres Bewusstseins. Wenn das Kleinhirn unser innerer Dirigent ist, der alle Musiker in unserem Körper zu einer gemeinsamen Handlung dirigieren kann, der jeden Missklang bemerkt und mit jeder Wiederholung das Stück in perfekterer Harmonie ertönen lässt, so ist unsere Großhirnrinde unser innerer Komponist.
Der Komponist – die Großhirnrinde
Das Großhirn (Cortex) ist der Sitz des Bewusstseins. Es steuert Bewegung indirekt, indem es „die Ziele setzt“ oder die Komposition schreibt, die der Dirigent Kleinhirn mit dem Bewegungsorchester spielt. Außerdem kann es einzelne Körperteile, vor allem Hände und Füße, direkt und bewusst steuern, allerdings nicht die für das Reiten wichtige Rumpfmuskulatur.
Die Großhirnrinde (Cortex) ist das Organ unseres Bewusstseins. Wir nehmen unseren Körper bewusst wahr und können ihn bewusst steuern, wobei die bewusste Steuerung zwei Ebenen betrifft: Einerseits haben unsere Bewegungen in aller Regel ein bewusstes Ziel („da will ich hin“), andererseits können wir einzelne Körperteile bewusst und sehr geschickt steuern (beispielsweise unsere rechte Hand beim Greifen oder unseren Kehlkopf beim Sprechen). Diese beiden Funktionsebenen der bewussten Bewegungssteuerung haben unterschiedliche Mechanismen.
Die automatische Zielansteuerung
Fangen wir mit dem bewussten Ansteuern von Zielen an. Wir sehen ein Ziel (das kalte Buffet beim Stehempfang, ein Sonderangebot im Schlussverkauf …) und steuern darauf los, wobei das Fixieren des Zieles mit den Augen der wesentliche bewusste Vorgang dabei ist – die eigentliche Fortbewegung dorthin bleibt weitgehend unbewusst. Die hierfür verantwortlichen Schaltkreise waren bereits bei den Urahnen aller Wirbeltiere vor 530 Millionen Jahren angelegt (Ocana, et al., 2015): Die heute noch existierenden Lampreten, die dem Bauplan des Ur-Wirbeltieres entsprechen, haben eine „Pallium“ genannte Gruppe von Nervenzellen, die das Auge mit den motorischen Schaltzentren verbindet. Durch diese direkte Verbindung kann das Tier eine zielgerichtete Bewegung initiieren, sobald das Auge etwas sieht. Eine Lamprete, die ein attraktives Objekt (z. B. Futter) sieht, wendet den Kopf auf das Objekt zu und richtet ihre Schlängelbewegung neu aus, sodass sie auf das Objekt zuschwimmt. Ein gefährlich wirkendes Objekt löst umgekehrt Abwenden in eine Fluchtbewegung aus. Das Pallium der primitivsten Wirbeltiere dient also der Ausrichtung der Körperbewegung in die beabsichtigte Richtung. Aus dem Pallium hat sich im Laufe der Jahrmillionen die Großhirnrinde (Cortex) der Säugetiere entwickelt. Die grundlegende Funktion der Bewegungsausrichtung ist dabei erhalten geblieben – wir können auf ein Ziel zu oder vor etwas davonlaufen, ohne uns um die Neuausrichtung der Laufbewegung bewusst kümmern zu müssen.