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In Fesseln. John GalsworthyЧитать онлайн книгу.

In Fesseln - John Galsworthy


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      Am letzten Maitag Anfang der 1890er Jahre gegen sechs Uhr abends saß der alte Jolyon unter der Eiche unterhalb der Terrasse seines Hauses in Robin Hill. Er wollte noch warten, bis die Mücken ihn stachen, ehe er sich von der Herrlichkeit des Nachmittags verabschiedete.

      In seiner dünnen braunen Hand, auf der blaue Venen hervortraten, hielt er einen Zigarrenstummel zwischen den nach oben hin schmäler werdenden Fingern mit den langen Nägeln – spitze, polierte Fingernägel hatten mit ihm jene früheren Viktorianischen Zeiten überdauert, als es so distinguiert gewesen war, nichts anzufassen, nicht einmal mit den Fingerspitzen. Seine hohe, gewölbte Stirn, sein großer weißer Schnurrbart, seine hageren Wangen und sein breiter, hagerer Kiefer wurden von einem alten braunen Panamahut vor der sinkenden Sonne geschützt. Seine Beine waren übergeschlagen. Seine gesamte Haltung strahlte Ruhe und eine Art Eleganz aus, wie die eines alten Mannes, der jeden Morgen Eau de Cologne auf sein Seidentaschentuch träufelt. Zu seinen Füßen lag ein wuscheliger braun-weißer Hund, der versuchte, wie ein Zwergspitz auszusehen – der Hund Balthasar. Die anfängliche Abneigung zwischen ihm und dem alten Jolyon hatte sich über die Jahre in Zuneigung gewandelt.

      In der Nähe seines Stuhles hing eine Schaukel und auf dieser Schaukel saß eine von Hollys Puppen – ›die dumme Alice‹ ‒ mit nach vorne über die Beine gekipptem Oberkörper, die traurige Nase in einem schwarzen Petticoat vergraben. Sie war ohnehin stets in Ungnade, deshalb war es ihr egal, wie sie dasaß. Unterhalb der Eiche erstreckte sich der Rasen einen Abhang hinunter bis zu dem Farnwäldchen und ging jenseits dieses schön gestalteten Bereiches in Felder über, die zu dem Teich hinabführten, dem Wäldchen und dem Ausblick (›ausgezeichnet, bemerkenswert‹), den Swithin Forsyte vor fünf Jahren von genau diesem Platz unterhalb des Baumes aus betrachtet hatte, als er mit Irene hergekommen war, um das Haus anzuschauen.

      Der alte Jolyon hatte von der Heldentat seines Bruders gehört – jener Spazierfahrt, die an der Forsyte’schen Börse für ziemliche Begeisterung gesorgt hatte. Swithin! Und nun war der Kerl letzten November einfach gestorben, mit nur neunundsiebzig Jahren, und hatte damit wieder die Zweifel aufleben lassen, ob Forsytes ewig leben könnten, die mit Tante Anns Tod das erste Mal aufgekommen waren. Gestorben! Und nun waren nur noch Jolyon und James, Roger und Nicholas und Timothy, Julia, Hester und Susan übrig! Und der alte Jolyon dachte: ›Fünfundachtzig! Ich fühle mich nicht so – außer, wenn ich diese Schmerzen habe.‹

      Er versuchte, sich zu erinnern. Er hatte sein Alter nicht mehr gespürt, seit er das unselige Haus seines Neffen Soames gekauft und sich hier in Robin Hill niedergelassen hatte. Es war, als wäre er jeden Frühling jünger geworden durch das Leben auf dem Land mit seinem Sohn und seinen Enkelkindern – June und den beiden Kleinen aus der zweiten Ehe, Jolly und Holly. Ein Leben fern von dem Lärm Londons und dem Gerede an der Forsyte’schen Börse, frei von Vorständen, in einer traumhaften Atmosphäre, in der es keine Arbeit, sondern nur Spaß gab.

      Und dennoch war er gut beschäftigt mit der Perfektionierung und Anpassung des Hauses und seiner zwanzig Morgen Land und dem Eingehen auf die Launen von Holly und Jolly. All die Verknotungen und Wirren, die sich während jener langen und tragischen Sache mit June, Soames, dessen Frau Irene und dem armen jungen Bosinney in seinem Herzen gebildet hatten, waren gelöst. Selbst June hatte endlich ihre Melancholie abgeschüttelt – davon zeugte diese Spanienreise, die sie gerade mit ihrem Vater und ihrer Stiefmutter machte. Ihre Abreise hinterließ eine seltsam vollkommene Ruhe, selig und dennoch leer, weil sein Sohn nicht da war. Jo war für ihn nun stets Trost und Freude – ein liebenswerter Kerl. Doch Frauen – selbst die besten – kosteten einem irgendwie ein wenig Nerven, außer natürlich, man bewunderte sie.

      In der Ferne rief ein Kuckuck, eine Ringeltaube gurrte auf der ersten Ulme im Feld; und wie die Gänseblümchen und Butterblumen seit dem letzten Mal Mähen zu sprießen begonnen hatten! Und der Wind hatte sich nach Südwesten gedreht – eine herrliche Luft, saftig! Er schob seinen Hut zurück und ließ die Sonne auf sein Kinn und seine Wangen scheinen. Irgendwie wünschte er sich heute Gesellschaft – ein hübsches Gesicht zum Ansehen. Die Leute behandelten die Alten, als ob sie nichts wollen könnten.

      Und mit der für einen Forsyte untypischen Philosophie, die sich immer wieder in seine Seele schlich, dachte er: ›Man hat nie genug! Selbst wenn man schon mit einem Bein im Grab steht, wird man wahrscheinlich noch irgendetwas wollen!‹ Hier unten – fern von geschäftlichen Verpflichtungen – flüsterten ihm seine Enkelkinder, die Blumen, die Bäume und die Vögel in seinem kleinen Reich, ganz zu schweigen von Sonne, Mond und Sternen über ihnen, Tag und Nacht ›Sesam, öffne dich!‹ zu. Und Sesam hatte sich geöffnet – wie sehr, wusste er vielleicht gar nicht. Er war immer empfänglich gewesen für das, was man nun ›Natur‹ nannte, wahrhaft, fast schon auf religiöse Weise empfänglich, obwohl er immer daran fest­gehalten hatte, einen Sonnenuntergang Sonnenuntergang zu nennen und eine Aussicht Aussicht, wie sehr sie ihn auch berührt haben mögen. Doch jetzt bedeutete ihm die Natur so viel, dass es geradezu wehtat.

      Jeden dieser ruhigen, heiteren, länger werdenden Tage spazierte er umher, Holly an seiner Hand, vor ihnen der Hund Balthasar, der emsig auf der Suche nach etwas war, das er nie fand, und beobachtete, wie die Rosen aufblühten, wie das Spalierobst an den Mauern Knospen trieb, wie das Sonnenlicht die Eichenblätter und die Schösslinge in dem Wäldchen hell erstrahlen ließ, wie die Blüten der Wasserlilien sich öffneten und glänzten. Er beobachtete die silbrigen jungen Getreidehalme des einen Weizenfeldes, lauschte den Staren und den Lerchen, dem Wiederkäuen der Alderney-Kühe, die langsam ihre in einer Quaste endenden Schwänze hin und her schlugen. Und an jedem dieser schönen Tage empfand er aus bloßer Liebe zu all diesen Dingen einen leichten Schmerz, denn vielleicht spürte er im Innersten, dass er es nicht mehr allzu lange genießen können würde. Der Gedanke, dass ihm eines Tages – vielleicht schon in weniger als zehn Jahren, vielleicht in nicht einmal fünf Jahren – diese ganze Welt genommen werden würde, ohne dass er sein Potential, sie zu genießen, voll ausschöpfen hatte können, erschien ihm als eine Ungerechtigkeit, die dunkel an seinem Horizont aufzog. Sollte es irgendetwas nach diesem Leben geben, es wäre nicht das, was er wollte. Es wären nicht Robin Hill und die Blumen und die Vögel und die hübschen Gesichter – selbst jetzt schon hatte er davon zu wenig um sich! Seine Abneigung gegen Humbug war mit den Jahren noch stärker geworden.

      Die Orthodoxie, die er in den 1860ern zur Schau getragen hatte, wie er auch aus reinem Überschwang einen Backenbart getragen hatte, gehörte schon lange der Vergangenheit an, sodass es nur noch drei Dinge gab, vor denen er Ehrfurcht empfand: vor Schönheit, vor Anstand und vor dem Besitzinstinkt. Und das Wichtigste von diesen dreien war nun Schönheit. Seine Interessen waren schon immer breit gefächert gewesen und er konnte auch jetzt noch die Times lesen, doch er legte sie jederzeit zur Seite, wenn er eine Amsel singen hörte. Anstand, Besitz – irgendwie war beides ermüdend. Die Amseln und der Sonnenuntergang ermüdeten ihn nie, sie gaben ihm nur das ungute Gefühl, dass er nie genug von ­ihnen bekommen könnte. Während er in das stille Leuchten des frühen Abends und auf die kleinen goldenen und weißen Blumen auf dem Rasen starrte, kam ihm ein Gedanke: Dieses Wetter war wie die Musik von Orpheus, die er vor Kurzem im Royal Opera House in Covent Garden gehört hatte.

      Eine wundervolle Oper, nicht wie Meyerbeer, auch nicht wirklich wie Mozart, aber vielleicht auf ihre Art sogar noch schöner. Sie hatte etwas Klassisches, etwas vom Goldenen Zeitalter, etwas Reines und Liebliches, und die Ravogli hatte ›fast das Niveau der alten Zeiten‹ ‒ das höchste Lob, das man von ihm bekommen konnte.

      Die Sehnsucht von Orpheus nach der Schönheit, die ihm entglitt, nach seiner Liebe, die in den Hades hinabfuhr, so, wie auch im Leben Liebe und Schönheit schwanden – die Sehnsucht, die durch die glanzvolle Musik klang und pulsierte, regte sich auch in der nachklingenden Schönheit der Welt an jenem Abend. Und mit der Spitze seines korkbesohlten Stiefels mit Elastikeinsätzen an den Seiten stupste er versehentlich dem Hund Balthasar in die Rippen, woraufhin dieser aufwachte und auf seine Flöhe losging. Denn auch wenn er angeblich gar keine hatte, ließ er sich durch nichts davon überzeugen.

      Als er fertig war, rieb er die Stelle, an der er gekratzt hatte, an der Wade seines Herrchens, ließ sich dann wieder nieder und legte die Schnauze auf den Spann des störenden Stiefels. Und plötzlich kam dem alten Jolyon eine Erinnerung


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