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In Fesseln. John GalsworthyЧитать онлайн книгу.

In Fesseln - John Galsworthy


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sodass er abends lautlos hinein- und hinausschlüpfen konnte.

      Doch Holly schlief und lag da wie eine kleine Madonna von der Art, die die alten Maler nicht von Venus unterscheiden konnten, wenn sie sie fertiggestellt hatten. Ihre langen dunklen Wimpern ruhten fest auf ihren Wangen, auf ihrem Gesicht war vollkommener Frieden – ihrem kleinen Körper ging es offensichtlich wieder gut. Und der alte Jolyon stand im Halbdunkel des Zimmers und bewunderte sie! Es war so bezaubernd, feierlich und liebevoll, dieses kleine Gesicht. Er war in besonderem Maße mit der Fähigkeit gesegnet, in den Jungen wieder neues Leben zu finden. Sie waren für ihn sein zukünftiges Leben – in dem Ausmaß, wie sein grundsätzlich heid­nischer Verstand ein zukünftiges Leben zulassen konnte.

      Da lag sie und hatte noch alles vor sich, und in ihren zarten Adern floss sein Blut – ein Teil davon. Da lag sie, seine kleine Gefährtin, um so glücklich gemacht zu werden, wie er sie nur glücklich machen konnte, damit sie nichts außer Liebe kannte. Sein Herz wurde weit und er ging hinaus, wobei er versuchte, keine Geräusche mit seinen Lacklederschuhen zu machen. Im Korridor überkam ihn ein sonderbarer Gedanke: Die Vorstellung, dass aus Kindern solche Menschen werden sollten wie die, denen Irene half, wie sie ihm gesagt hatte! Frauen, die alle einmal so klein gewesen waren wie dieses kleine Mädchen, das hier schlief! ›Ich muss ihr einen Scheck geben!‹, dachte er sich. ›Ich kann den Gedanken an sie nicht ertragen!‹

      Er hatte Gedanken an jene armen Ausgeschlossenen noch nie ertragen können, zu sehr verletzten sie den Kern wahren Edelmuts, der unter den Schichten der Anpassung an den Besitzinstinkt verborgen lag, zu schwer verletzten sie sein Innerstes – eine Liebe zur Schönheit, die auch jetzt noch sein Herz erbeben ließ, wenn er an diesen Abend in Gesellschaft einer hübschen Frau dachte. Und er ging nach unten, durch die Schwingtür, zu den hinteren Räumen. Dort, im Weinkeller, war ein deutscher Weißwein, von dem die Flasche mindestens zwei Pfund wert war, ein Steinberger Kabinett, besser als jeder Johannisberger, der jemals eine Kehle hinuntergelaufen war, ein Wein von vollendetem Bukett, süß wie eine Nektarine – wie Nektar gar!

      Er nahm eine Flasche davon heraus, vorsichtig wie ein Baby, und hielt sie prüfend gegen das Licht. Diese Flasche, eingehüllt in einen Staubmantel, weiche Farbe, schlanker Hals, bereitete ihm große Freude. Drei Jahre Zeit, um seit dem Umzug von der Stadt hierher wieder zu lagern – sollte in erstklassigem Zustand sein! Vor fünfunddreißig Jahren hatte er ihn gekauft – Gott sei Dank hatte er seinen guten Gaumen noch, er hatte sich das Recht erworben, ihn zu trinken. Sie würde ihn zu schätzen wissen; hatte nicht einmal einen Ansatz von Säure. Er wischte die Flasche ab, zog den Korken eigenhändig, beugte seine Nase hinunter, atmete den Duft ein und ging zurück in das Musikzimmer.

      Irene stand am Klavier. Sie hatte ihren Hut und das Spitzentuch, das sie getragen hatte, abgelegt, sodass nun ihr goldfarbenes Haar und ihr blasser Nacken zu sehen waren. In ihrem grauen Kleid gab sie vor dem Rosenholz des Klaviers ein hübsches Bild ab für den alten Jolyon.

      Er reichte ihr seinen Arm und sie machten sich feierlich auf den Weg. In dem Zimmer, das so angelegt worden war, dass dort vierundzwanzig Personen bequem essen konnten, stand nun nur noch ein kleiner runder Tisch. In seiner momentanen Einsamkeit belastete der große Esstisch den alten Jolyon. Er hatte veranlasst, dass er weggeräumt wurde, bis sein Sohn wieder zurück war.

      Er aß hier für gewöhnlich alleine, nur zwei wirklich gute Nachbildungen raffaelischer Madonnen leisteten ihm Gesellschaft. Das war die einzige trostlose Zeit seines Tages bei diesem Sommerwetter. Er war nie ein großer Esser gewesen wie dieser Riesenkerl Swithin, oder Sylvanus Heythorp, oder Anthony Thornworthy, jene Gefährten der alten Zeiten. Und alleine zu essen, beobachtet von den Madonnen, war für ihn nur eine traurige Beschäftigung, die er schnell hinter sich brachte, um zu den eher geistigen Genüssen seines Kaffees und seiner Zigarre übergehen zu können.

      Doch dieser Abend heute war anders! Mit funkelnden Augen sah er sie über den kleinen Tisch hinweg an und sprach von Italien und der Schweiz, erzählte Geschichten von seinen Reisen dorthin und von anderen Erlebnissen, von denen er seinem Sohn und seiner Enkelin nicht mehr berichten konnte, da sie sie schon kannten. Dieses neue Publikum bedeutete ihm sehr viel.

      Er war nie einer jener alten Männer geworden, die immer nur in den Gefilden ihrer Erinnerungen umherwanderten. Da ihn selbst Menschen ohne Feingefühl schnell ermüdeten, vermied er es instinktiv, andere zu ermüden, und seine naturgegebene Koketterie gegenüber Schönheit ließ ihn bei einer Frau ganz besonders darauf achten. Er hätte sie gerne aus der Reserve gelockt, doch obwohl sie immer wieder zustimmend murmelte und lächelte und seine Geschichten sie zu unterhalten schienen, merkte er immer jene geheimnisvolle Unnahbarkeit, die die Hälfte ihrer Anziehungskraft ausmachte. Er konnte es nicht ausstehen, wenn Frauen mit ihren Schultern kokettierten und schöne Augen machten und drauflosquasselten. Oder wenn Frauen verbissen und rechthaberisch waren und einem sagen wollten, wo es langging.

      Es gab nur eine Eigenschaft, die er bei einer Frau ansprechend fand – Charme. Und je stiller dieser Charme war, desto besser. Und diese Frau hatte Charme, so schattenhaft wie das Nachmittagssonnenlicht auf jenen italienischen Bergen und Tälern, die er so gemocht hatte. Und durch das Gefühl, dass sie gewissermaßen für sich war, zurückgezogen, schien sie ihm näher zu sein, eine seltsam wünschenswerte Gefährtin.

      Wenn ein Mensch sehr alt und aus dem Rennen ausgeschieden ist, dann fühlt er sich gerne sicher vor den Rivalitäten der Jugend, denn im Herzen der Schönheit möchte er noch immer an erster Stelle stehen. Und er trank seinen deutschen Weißwein und betrachtete ihre Lippen und fühlte sich fast jung. Doch der Hund Balthasar lag da und betrachtete ebenfalls ihre Lippen und verachtete von Herzen die Unterbrechungen ihres Gesprächs und das Anheben jener grünlichen Gläser, die mit einer goldenen Flüssigkeit gefüllt waren, die für ihn ungenießbar war.

      Es wurde gerade dunkel, als sie zurück ins Musikzimmer gingen. Und die Zigarre im Mund, sagte der alte Jolyon: »Spiel mir etwas von Chopin.«

      An den Zigarren, die er raucht, und den Komponisten, die er liebt, erkennt man die Beschaffenheit der Seele eines Mannes. Der alte Jolyon konnte weder starke Zigarren noch Wagners Musik ausstehen. Er liebte Beethoven und Mozart, Händel und Gluck und Schumann und aus irgendeinem unerklärlichen Grund die Opern von Meyerbeer. Doch in den letzten Jahren hatte Chopin ihn in seinen Bann gezogen, so, wie er der Malerei Botticellis erlegen war.

      Er war sich bewusst, dass er durch sein Nachgeben gegenüber diesen Vorlieben vom Standard des Goldenen Zeitalters abwich. Ihre Poesie entsprach nicht der von Milton und Byron und Tennyson oder der von Raphael und Tizian oder Mozart und Beethoven. Sie war gewissermaßen verschleiert. Ihre Poesie traf einen nicht direkt ins Gesicht, sondern ließ ihre Finger unter die Rippen gleiten und grub und wühlte und brachte das Herz zum Schmelzen. Und er war sich zwar nie sicher, ob das gesund war, aber er nahm dieses Herzpochen gerne in Kauf, solange er nur die Bilder des einen betrachten oder die Musik des anderen hören konnte.

      Irene setzte sich ans Klavier unter die elektrische Lampe mit perlgrauem Schirm und der alte Jolyon setzte sich in einen Sessel, von dem aus er sie sehen konnte, schlug die Beine übereinander und zog langsam an seiner Zigarre. Sie ließ für einen Moment ihre Hände auf den Tasten ruhen und suchte offenbar in ihrer Erinnerung nach einem Stück, das sie für ihn spielen konnte. Dann fing sie an zu spielen und der alte Jolyon wurde von einer angenehmen Traurigkeit ergriffen, an die kaum etwas anderes in dieser Welt herankam. Langsam verfiel er in einen Trancezustand, der nur in langen Abständen von der Bewegung unterbrochen wurde, mit der er die Zigarre aus seinem Mund nahm und wieder hineinsteckte.

      Sie war da, in ihm der Weißwein, und es roch nach Tabak. Doch da war auch noch eine Welt voller Sonnenschein, der in Mondlicht überging, mit Teichen, an denen Störche waren, und darüber bläuliche Bäume, leuchtende Farbpunkte weinroter Rosen, Lavendelfelder, in denen milchweiße Kühe grasten, und eine schemenhafte Frau mit dunklen Augen und weißem Nacken lächelte und streckte ihre Arme aus, und aus der Luft, die wie Musik war, fiel ein Stern herab und blieb am Horn einer Kuh hängen. Er öffnete die Augen. Wunderschönes Stück. Sie spielte gut – ihr Anschlag war engelsgleich! Und er machte die Augen wieder zu. Er fühlte sich auf wundersame Weise traurig und glücklich zugleich, wie man sich fühlt, wenn man unter einer Linde in voller Blüte steht. Nicht das eigene Leben noch einmal leben, einfach nur dastehen,


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