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Politisches Storytelling. Michael MüllerЧитать онлайн книгу.

Politisches Storytelling - Michael Müller


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Fakes und Facts: Was sind wahre Geschichten?

       Zehn Postulate für ein verantwortungsvolles politisches Storytelling

       KAPITEL 5 NARRATIVE KOMPETENZ UND POLITISCHES HANDELN

       Narrative Intelligenz und narrative Dummheit

       Kleiner Werkzeugkoffer für narrative politische Arbeit

       ANMERKUNGEN

       LITERATUR

      EINLEITUNG:

      GESCHICHTEN? WELCHE GESCHICHTEN?

      Warum man über Storys sprechen muss,

      wenn man über Politik spricht

      Geschichten, Erzählungen, Storys und Narrative sind in gesellschaftlichen oder politischen Diskursen, Diskussionen und Prozessen allgegenwärtig, ob auf der Oberfläche sichtbar oder auf den ersten Blick unsichtbar in den Strukturen. Wenn man sich, so meine These, mit Politik und gesellschaftlicher Meinungsbildung beschäftigen will, dann muss man sich auch mit Storytelling beschäftigen – sonst kann man einen wesentlichen Teil der Diskurse und Prozesse nicht verstehen.

      Ich weiß: Viele Menschen haben eine emotional-wertende Haltung zu diesen Begriffen, seit Wörter wie ›Storytelling‹ oder ›Narrativ‹ Modebegriffe (›Buzzwords‹) geworden sind – eine Haltung mit positiver oder negativer Ausprägung, je nach den Bedeutungsinhalten, die man mit ihnen verbindet. Der Begriff ›Storytelling‹ hat vor allem im Unternehmens- und Marketing-Kontext Karriere gemacht, der des ›Narrativs‹ im Feuilleton und in den Geistes- und Gesellschaftswissenschaften. Die Ablehnung dieser Begriffe bezieht sich allein auf die Häufigkeit, mit der man diesen Begriffen begegnet; nicht selten hört man in den entsprechenden Kontexten den Seufzer »Ich kann’s nicht mehr hören! Alles ist heute Storytelling / alles sind auf einmal Narrative!« Der sich darin ausdrückende Überdruss ist natürlich auch einem inflationären und häufig nicht sehr reflektierten Gebrauch dieser Begriffe geschuldet.

      Gerade im Unternehmenskontext, in dem ich unter anderem als Berater unterwegs bin, höre ich oft die abenteuerlichsten ›Definitionen‹ von ›Storytelling‹: Da sind dann emotionale Kommunikation, der Gebrauch von Metaphern oder ein Interview schon Storytelling. Man benutzt den schicken Begriff, um die eigene Kommunikation aufzuhübschen. Eine wirkliche Geschichte, die aus einem Anfang, einer Mitte, in der eine Veränderung geschieht und einem Ende besteht (wie schon Aristoteles wusste), ist da häufig nicht zu finden. Ähnlich im Feuilleton: Wenn zum Beispiel vom »Narrativ der Abstimmung« auf einem Parteitag geschrieben wird, dann ist beim besten Willen nicht zu sehen, wo da der aristotelische Dreiklang verborgen sein soll.

      Aber: Auch scheinbar noch so berechtigter Überdruss sollte uns nicht davon abhalten, uns mit Geschichten und Narrativen zu beschäftigen. Der Grund ist einfach: Sie sind »immer und überall«, wie man frei nach dem bekannten Songtext der »Ersten Allgemeinen Verunsicherung« sagen könnte.

      Über diesen einfachen Überdruss hinaus gibt es in unserer Kultur aber auch ein tiefer sitzendes Misstrauen gegen das Erzählen. Wieder einmal deutlich wurde dies im Dezember 2018 im Zuge des Relotius-Skandals. Dabei wurde aufgedeckt, dass Claas Relotius, ein mit Preisen überhäufter junger Reporter, der unter anderem für den Spiegel schrieb, sehr viele seiner Reportagen in Details oder zur Gänze gefälscht hatte. In die Aufarbeitung dieses Skandals mischten sich auch Stimmen, die dem Erzählen – für das Genre der Reportage ja fundamental – eine Mitschuld an den Fälschungen gab. So schrieb etwa die taz: »An Journalistenschulen lernt der Nachwuchs, dass Reportagen beim Leser ›Kino im Kopf‹ erzeugen sollen, dass ein guter Text starke ›Protagonisten‹ braucht und einen ›Konflikt‹, dass die ›Dramaturgie‹ des Textes wichtig ist. Man lernt, die Texte nicht Artikel zu nennen, sondern ›Geschichten‹. Journalistenschüler belegen ›Storytelling‹-Seminare, als schrieben sie für Netflix.«1 Ähnlich kritische Haltungen gegenüber einer zu starken Betonung des Erzählerischen im Journalismus wurde in vielen Medien geäußert; die Storytelling-Beraterin Petra Sammer hat auf der Online-Plattform LinkedIn eine kritische Zusammenfassung dieser Stimmen geschrieben.2

      In bestimmten Kontexten – etwa im Journalismus oder auch in der Politik – ist offenbar das Geschichtenerzählen in Verruf geraten. Hinter vielen Reaktionen auf den Relotius-Skandal steht implizit die Forderung, das Erzählen solle zurückkehren zu den ihm angestammten Bereichen der Literatur, des Films und anderer Fiktionen, und es sei aus Bereichen, die es mit ›Wahrheit‹ und Argumenten zu tun haben, zu verbannen. Zu gefährlich scheint das Erzählen als eine Form, in der sich Wahrheit und Fiktion auf undurchschaubare Weise mischen und die einen dramaturgischen Schleier vor die argumentative Auseinandersetzung mit der Realität hängt. Der angestammte Bereich des Erzählens, so legen diese Haltungen nahe, sei die Unterhaltung im weitesten Sinne: Film, Roman, Kunst, etc. Wenn es ernst wird – in der Politik, in der Wirtschaft – habe das Erzählen allenfalls als ausschmückender Schnörkel seine Rechte, aber sonst gehe es eben um harte Fakten und sachliche Argumente.

      Doch ganz so einfach ist es mit dem Erzählen nicht. Narrative Strukturen liegen sehr vielen Diskursen zugrunde, Narrative stecken, sichtbar oder verborgen, in zahlreichen Kommunikationen im Alltag und in den Medien. Narrative Strukturen bestimmen unser Denken sehr viel stärker, als die meisten von uns ahnen. Wir sind in gewisser Weise tatsächlich »Storytelling Animals«, wie es der amerikanische Autor Jonathan Gottschall behauptet (GOTTSCHALL 2012). Die narrative Psychologie, eine in den 1980er-Jahren entstandene, ständig an Gewicht gewinnende Forschungsrichtung, beschäftigt sich mit dieser fundamentalen Bedeutung, die Geschichten und narrative Strukturen für uns Menschen haben (vgl. z.B. BRUNER 1986; SARBIN 1986; LÁSZLÓ 2008), in den letzten beiden Jahrzehnten sekundiert von der Gehirnforschung (z.B. ROTH 2003). Die Art und Weise, wie wir Kausalitäten herstellen, Erlebnissen und Ereignissen einen Bedeutungsrahmen und damit Sinn geben, ist die der narrativen Strukturen, Geschichten, Erzählungen. Allein schon deshalb kann sich Politik nicht darum drücken, sich mit Storytelling zu beschäftigen. Und Storytelling zu betreiben, wenn sie die Menschen wirklich erreichen will.

      Aber was bedeutet ›Storytelling‹ im politischen Bereich? Sieht man sich, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, einmal an, wie der Begriff ›politisches Storytelling‹ in Alltag und Medien verwendet wird, kristallisieren sich folgende drei Bedeutungen heraus:

      •Politisches Storytelling als ein rein unterhaltendes Element, um damit Reden mit Anekdoten und launigen Schnurren zu würzen und unterhaltsamer zu machen. Politisches Überzeugen aber, so die Perspektive dieser Haltung, geschehe ›natürlich‹ immer noch mit Argumenten.

      •Politisches Storytelling als ein rhetorisches Stilmittel, mit dessen Hilfe politische Programme und Argumente besser an die Frau / den Mann gebracht werden können. Diese Bedeutung ist, dank der Popularisierung des »Buzzwords« Storytelling, zurzeit die wohl am meisten verbreitete: Politiker, die von der Kraft des Erzählens gehört haben, hoffen, es genüge eine gute Geschichte, um Menschen dazu zu bringen, auf den Wahlzetteln das Kreuz an der richtigen Stelle zu machen. »Narration als Gleitmittel für trockene Zahlen«, wie es der Schriftsteller und Philosoph Jonas Lüscher ausdrückt (LÜSCHER 2020: 66).

      •Politisches Storytelling als strategische Maßnahme, bei der ein bestimmter Strauß von Geschichten oder Geschichten-Formen geschnürt wird, der eine politische Haltung ausdrücken soll. In diesem Sinn wird der Begriff nicht selten von Agenturen verwendet, die Politiker oder Parteien im Wahlkampf unterstützen.

      Natürlich drücken all diese Bedeutungen Qualitäten von Geschichten und Erzählen aus. Und doch greifen sie, isoliert


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