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Das Logierhaus zur schwankenden Weltkugel. Franziska zu ReventlowЧитать онлайн книгу.

Das Logierhaus zur schwankenden Weltkugel - Franziska zu Reventlow


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aber hatte Hieronymus organisatorisch eingegriffen und das Gebiet erweitert, so daß jetzt auch Ansichten, Meinungen, persönliche, erotische und dergleichen mehr unter den Mitgliedern erörtert wurden. Er selbst zum Beispiel korrespondierte mit einer stellenlosen Gesellschaftsdame in Sevilla über freie Liebe und hatte sie bereits von der Notwendigkeit dieser Institution überzeugt ... Eben jetzt wolle er nach dem Festland fahren, sie persönlich kennenlernen und womöglich mit hierherbringen. Sein Monokel strahlte bei diesem Gedanken, und er ließ uns immer tiefere Einblicke in seine Ideenwelt tun. Der Verein, ja der Verein sei eigentlich nur Mittel zum Zweck. Er brauche ein großes Menschenmaterial, um eine engere Auslese zu treffen und dann – es fielen einige bedenkliche Worte: Freiheit, Schönheit, Ausleben, die in seinem Munde doppelt beängstigend wirkten – kurz, er wollte in diesem Sinne einen Bund gründen, derselbe sollte »Der Flammenbund« genannt werden und allen Beteiligten ungemeines Vergnügen bereiten. Nachdem er geendet, sah er sich Beifall und Zustimmung heischend im Kreise um, äußerte noch, er habe bereits mit dem Wirt gesprochen, um einen Teil des Hauses für seine Zwecke zu mieten, hieb sich dann den Tropenhelm aufs Haupt und enteilte zum Hafen, um seine Reise aufs Festland anzutreten. Es war soeben gemeldet worden, das Schiff fahre statt morgen schon heute nacht ab.

      Die Statuten des Korrespondenzvereins hatte er uns zurückgelassen. Wir ersahen daraus, daß der Verein tatsächlich existierte. Da war vor allem eine Liste der Mitglieder, neben jedem Namen eine Reihe von kabbalistischen Zeichen – Strichen, Kreuzen, Sternen usw. Verstand man diese, so wußte man sofort, wofür das betreffende Mitglied sich interessierte, was es wünschte und erstrebte. Auf einem Fragebogen, der jedem Neueintretenden zur Ausfüllung zuging, wurde das näher erläutert. Da wurde zum Beispiel gefragt, mit wem man zu korrespondieren wünsche – Mit Herren? Mit Damen? – Oder mit beiden? Und worüber? Wofür man sich in erster oder auch in zweiter Linie interessiere? Etwa für Philosophie? – Ethik? – Nacktkultur? – Los von Rombewegung? Friedensbestrebungen? Reform der Ehe – Wandervogelbewegung? und sofort – eine Fülle von hübschen und anregenden Dingen.

      Seufzend legten wir das Zeug aus der Hand und gingen schlafen.

      Am folgenden Morgen fanden wir uns zum erstenmal ohne Hieronymus am Frühstückstisch zusammen, und die nächste Folge war, daß wir uns gegenseitig erstaunt und verlegen betrachteten. Wir hatten schon eine ganze Woche zusammengelebt, uns Spitznamen gegeben, wir bildeten eine Art Familie, aber das alles schließlich doch nur, weil Hieronymus Edelmann sich unserer bemächtigt und uns organisiert hatte. Solange er da war, hatte man das als selbstverständlich hingenommen, aber jetzt, heute, wo wir unter uns waren, empfanden wir auf einmal die ganze UnWahrscheinlichkeit der Situation. »Wer, um Gottes willen, ist denn eigentlich dieser Hieronymus?« so fragte sich jeder im stillen, »und wer sind wir? – Was haben wir miteinander zu tun?«

      Die gute Schwester Hildegard aus Afrika, der gestern abend allerhand moralische Bedenken aufgestiegen waren, obwohl sie sicher nicht alles verstanden hatte, brach den Bann und begann zu fragen. Gesellschaftliche Skrupel kannte sie nicht, sondern war nur um ihr Seelenheil besorgt, und das schien ihr gefährdet, wenn Hieronymus wirklich die stellenlose Gesellschaftsdame mitbrachte. So fragte sie nach seinem Vorleben, nach allem möglichen, und es stellte sich heraus, daß keiner von uns ihn je zuvor gesehen, bisher aber jeder den anderen für seinen alten Bekannten gehalten und sich darüber gewundert hatte.

      Man fühlte sich ein wenig blamiert, aber zugleich sehr erleichtert.

      Doktor Gräber, der Assistenzarzt, schlug sich vor die Stirn:

      »Wie konnte das nur geschehen, verehrte Anwesende? – Wie ein verschlagener Zauberer hat er uns ins Netz gelockt. – Wir kamen her, um uns zu erholen oder zu vergnügen, aber doch nicht ...«

      »Um unter schrecklichen Strapazen Flammenbünde zu gründen«, ergänzte der Loreley.

      »Pfui, dieser Flammenbund«, sagte die Schwester mit einem Seitenblick auf das Trapezmädel. Das aber lachte nur.

      »Mitglieder des Korrespondenzvereins sind wir schon«, seufzte der junge Kaufmann.

      »Wir wohnen miserabel«, fuhr Doktor Gräber fort. »Erst gestern hat unser Hauswirt wieder mit einem Ingenieur darüber gesprochen, daß die Mauer gestützt werden müsse. – Im linken Flügel oben wird die halbe Nacht Grammophon gespielt – Gott weiß, was da überhaupt alles logiert ...«

      »Oh, ich glaube, da fängt der Flammenbund schon an«, rief das Trapezmädel. »Herr Edelmann geht oft hinüber, und mich hat neulich auf der Hintertreppe ein Herr in den Arm zwicken wollen.«

      »So, und was hatten Sie denn auf der Hintertreppe zu tun?« fragte der Loreley strafend, und die Schwester war aufrichtig erschrocken. Ja, sie hätte überhaupt das Gefühl, als ob dieses Haus ein etwas bedenklicher Aufenthalt sei.

      Längeres Schweigen, dann nahm wieder der Assistenzarzt das Wort:

      »Meine Herrschaften, wir sind hier allem Anschein nach, wie es sonst nur schutzlosen, alleinreisenden Mädchen passiert, in eine etwas zweifelhafte Atmosphäre geraten, und wer weiß, wo das alles noch hinausläuft ...«

      »O Gott«, sagte das Trapezmädel, »wenn das meine Eltern wüßten. Ich habe ihnen gerade geschrieben, ich hätte hier so netten Anschluß gefunden.«

      »Und meine Oberin« rief die Schwester, »nein, hören Sie, Herr Doktor, ich ziehe heute noch aus. Ich kann doch unmöglich in meiner Schwesterntracht ...«

      »Wir ziehen alle aus«, erklärte der Loreley ritterlich, »wir andern werden die Damen doch nicht im Stich lassen. Und abgesehen von allem andern bietet unser Logierhaus »Zur schwankenden Weltkugel« wirklich etwas zu wenig Komfort. Hätten wir uns nur nicht – aber das ist jetzt nicht mehr zu ändern.«

      Gesagt, getan, die Tafel wurde aufgehoben, und wir gingen sofort daran, unseren Auszug zu organisieren. Es gab eine bittere Auseinandersetzung mit dem dicken Holländer, dann begaben wir uns, von zwei Gepäckträgern gefolgt, geraden Wegs nach dem ersten Hotel der Stadt, erfuhren jedoch, daß alles besetzt sei. Es gab noch zwei weitere Hotels geringeren Ranges, aber überall wurde uns derselbe Bescheid. Als sich der gleiche Vorgang auch noch in einer Familienpension wiederholte, dämmerte uns eine furchtbare Ahnung auf. Wir waren hier in dem kleinen Ort längst als Gäste der »Schwankenden Weltkugel« bekannt, und nur das konnte der Grund sein, weshalb man sich so ablehnend verhielt. Unsere Wanderung erregte inzwischen einiges Aufsehen, man folgte uns, wenn wir weitergingen, stand um uns herum, wenn wir haltmachten.

      Was nun? Vielleicht eine Privatwohnung? Um den neugierigen Blicken zu entgehen, ließen wir unsere Träger an einer Ecke warten und bogen in die Seitenstraßen ein. Hier nun sahen wir fast über jeder Tür eine viereckige Papptafel mit der Inschrift: Hay viruelas! Was viruelas bedeutete, wußten wir nicht, nahmen aber an, es handle sich um Zimmer, die hier zu vermieten wären, und drangen mutig in das nächste Gebäude ein. Eine dicke Frau erschien und bedeutete uns mit geradezu entsetzten Gebärden, es sofort wieder zu verlassen. Nun wurde es uns aber doch zu dumm. Wir schrien wütend: camera, chambre, Zimmer – sie schrie: viruelas und tupfte sich dabei auf Gesicht und Hände, als ob sie nicht recht bei Verstand sei. Gut, also viruelas – sie sollte uns nur ihre viruelas zeigen, vielleicht waren es doch Zimmer, und wir wollten mit allem vorliebnehmen. – Mit einer resignierten Gebärde stieß sie schließlich eine Tür auf und wies auf einen Kranken, der im Bett lag. Doktor Gräber und die Schwester traten näher und wurden plötzlich sehr still. »Gott im Himmel«, sagte Gräber, »der Mann hat die Blattern. Viruelas heißt natürlich Blattern und die Plakate sind zur Warnung aufgehängt. Rasch hinaus, meine Herrschaften.«

      Wir verließen das Haus nun ohne weiteres Widerstreben und standen im wahren Sinne des Wortes obdachlos auf der Straße. Da man uns auch hier gefolgt war und den Vorgang beobachtet hatte, würden wir in der ganzen Stadt kein Quartier mehr finden. Es blieb nichts übrig, als, immer noch gefolgt von den beiden Packträgern und einer nicht unbeträchtlichen Menschenmenge, in das Logierhaus »Zur schwankenden Weltkugel« zurückzukehren und dem dicken Mynheer zu erklären, wir hätten uns die Sache inzwischen anders überlegt. Er empfing uns mit schlecht verhehlter Schadenfreude und meinte, die Mauern würden sich wohl noch eine Zeitlang halten. Es war nur ein Glück, daß er von


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