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Toxische Männlichkeit. Sebastian TippeЧитать онлайн книгу.

Toxische Männlichkeit - Sebastian Tippe


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waren zu beobachten, als Hannover als erste große Stadt Deutschlands in ihren Behörden genderneutrale Sprache einführte und somit vom generischen Maskulinum abwich, bei dem bisher Mädchen und Frauen mitgemeint sein sollten, ohne jedoch explizit genannt zu werden. Offensichtlich fühlen sich Männer bedroht, wenn Männlichkeit und die Vorstellungen von Männlichkeit thematisiert und kritisiert werden. Seit dem antisemitisch motivierten Attentat in Halle (Saale) vom 9. Oktober 2019, bei dem der Täter unter anderem dem Feminismus die Schuld an seiner Situation gab, um somit sein Handeln zu legitimieren, werden zudem verstärkt die Parallelen zwischen rechten, antisemitischen und antifeministischen Einstellungen auch abseits des Hörsaals und wissenschaftlicher Literatur diskutiert.

      Sehr deutlich wurde die Angst von Männern um ihre Vormachtstellung, als die 16-jährige Klimaaktivistin und das Gesicht der Fridays-For-Future-Bewegung Greta Thunberg ihre Rede auf der UN-Klimakonferenz in New York am 24. September 2019 hielt und die weltführenden Politiker und Politikerinnen fragte, wie sie es wagen könnten, die Welt zu zerstören („How dare you?“). Greta Thunberg wurde daraufhin im Netz beleidigt aufgrund ihres Geschlechts, ihres Alters, ihres Aussehens, ihrer Größe, ihrer Herkunft, ihrer Zöpfe – die in Verbindung mit der NS-Zeit gebracht wurden – oder ihres Asperger-Syndroms. Es wurden in den sozialen Netzwerken Vergewaltigungs- und Ermordungsfantasien gepostet und eine ihr nachempfundene Puppe mit einer Schlinge um den Hals wurde an einer Brücke in Rom aufgehängt. Die Angriffe gegen Greta Thunberg sind persönlich, und sie kommen vor allem von Männern.

      Als im Jahr 2020 die Corona-Krise die Welt in einen Ausnahmezustand stieß, wurden patriarchale Strukturen deutlicher denn je: Das Erziehungs-, Betreuungs-, Pflege- und Gesundheitssystem sowie der Einzelhandel mit Nahrungsmitteln werden auch in der Krise fast ausschließlich von Frauen gestemmt. Diese ermöglichen erst, dass das gesellschaftliche Leben und die notwendigen Versorgungen und Betreuungen aufrecht erhalten werden – und dies, während Frauen völlig unterbezahlt sind. Parallel waren es ebenfalls Frauen, die flächendeckend ehrenamtlich kostenlos Masken nähten und ihre Arbeit, wenn möglich, ins Home Office verlegten, während sie sich zeitgleich um die Kinder kümmerten und ihnen Hausunterricht erteilten. Der Großteil der Väter ging wie gewohnt der Lohnerwerbstätigkeit nach – auf der Arbeitsstelle oder ebenfalls im Home Office, nur meist ohne sich um die Kinder zu kümmern, sie zu fördern und zu beschulen. Teilweise verlegten Väter ihr Home Office sogar in Hotels anstatt nach Hause. Die patriarchale Gesellschaft ließ zudem viele Frauen, die ohnehin hilflos und ungeschützt waren, allein zurück. Darunter fallen vor allem Mütter, Alleinerziehende – also ebenfalls in der Regel Mütter – sowie beispielsweise Prostituierte. Erschreckend waren zudem die gewaltige Zunahme von häuslicher Gewalt durch Männer sowie Femizide. Das Corona-Virus legte den Finger in die Wunde und offenbarte die hässliche Fratze des Patriarchats.

      Ich möchte mit Hilfe des vorliegenden Buches zur Auseinandersetzung mit all den Problemen männlicher Sozialisation ermutigen. Durch Reflexionsprozesse können sehr viele der problematischen Verhaltens- und Denkmuster durchbrochen und verändert werden. Ausschlaggebend dafür ist die Einsicht, dass das eigene Männlich-geworden-Sein problematische Anteile besitzt und es sich lohnt, diese näher zu betrachten und an ihnen zu arbeiten, um sie mit neuen Handlungs- und Denkoptionen zu überschreiben. Dies ist anstrengend und erfordert sehr viel Reflexion und Durchhaltevermögen. Eine Gesellschaft auf Augenhöhe ohne patriarchale Strukturen und ohne Gewalt durch Männer ist aber nur erreichbar, wenn männliche Geschlechterstereotype aufgebrochen und dekonstruiert werden. Dies führt nicht nur zu einer gleichberechtigteren und gewaltfreieren Gesellschaft, sondern auch dazu, dass die Lebenserwartung von Männern steigt. Es muss dabei jedoch nicht erst bei erwachsenen Männern, sondern bereits im Erziehungs- und Bildungssystem angesetzt werden.

      Ich möchte alle Männer und Jungen, pädagogischen Fachkräfte, Erziehende, Feministinnen und Feministen, Politikerinnen und Politiker sowie Interessierte dazu einladen, sich mit Hilfe des vorliegenden Buches der eigenen toxischen Anteile (und denen der anderen) bewusst zu werden, um daran zu arbeiten, diese zu verändern, Privilegien soweit wie möglich abzulegen, das patriarchal geprägte gesellschaftliche System zu hinterfragen, andere Männer zu sensibilisieren und Frauen im Kampf um Gleichberechtigung zu unterstützen.

      Wir (Männer) werden niemals nachfühlen können, was es bedeutet, auf allen Ebenen strukturell benachteiligt und permanent sexualisiert und objektiviert zu werden. Der erste Schritt für uns ist daher die Anerkennung von toxischer, mit Privilegien einhergehender Männlichkeit im patriarchalen und kapitalistischen System. Es ist ein Anfang, wenn wir beginnen, Frauen zuzuhören, ohne uns angegriffen zu fühlen, ihre Realität nicht infrage stellen und sie auf dem Weg zu einer gleichberechtigen Gesellschaft begleiten.

      Es wird sicherlich frustrierende Momente geben, Momente, bei denen sich Lesende angegriffen fühlen, bei denen beschriebene Zustände abgestritten werden und gesagt wird, dass dies so nicht zutreffen würde. Es ist wichtig, sich für die Veränderungsprozesse Zeit zu nehmen. Die Erfahrungsberichte von Männern und Frauen sowie von Expertinnen und Experten sollen auf diesem Weg unterstützen.

      Anmerkung: Ich verwende im vorliegenden Buch zum einen geschlechtsneutrale Bezeichnungen, zum anderen spreche ich aber ebenso explizit von Männern und Frauen. Dies ist wichtig, um die gesellschaftliche patriarchale Schieflage, die an Geschlechterzuschreibungen geknüpft ist, benennen zu können. Zudem werden jegliche Statistiken (Gehalt, Gewalt usw.) nach der gesellschaftlichen Dichotomie erhoben.

      Auch, wenn das Ziel ist, die Verknüpfung von biologischen Aspekten (die nicht immer eindeutig sind, jedoch existiert eine bimodale Verteilung von Clustering-Eigenschaften) und der Annahme, wie sich Menschen verhalten sollen, was sie leisten können, wen sie lieben dürfen etc., aufzulösen, so leben wir aktuell in einer binär-eingeteilten Gesellschaft, deren Machtmechanismen eben durch die Aufteilung Mann – Frau funktionieren. Diese müssen klar benannt werden, um sie dekonstruieren zu können.

      Ein in der Zukunft liegendes Ziel ist es, Zuschreibungen an Geschlechter abzubauen, wohlwissend, dass es Menschen gibt, die Kinder gebären können und andere mit Penis, die einen Beitrag zur Zeugung leisten. Das Problem ist nicht, dass wir sie Mann und Frau nennen, sondern dass wir ihnen bestimmte Fähigkeiten zuschreiben und eine ganz spezielle Performance von ihnen erwarten.

      All diese Vorstellungen von Geschlechtern führen nur zu eingeschränkten Handlungsmöglichkeiten und Diskriminierung, Benachteiligung und Gewalt, jedoch nicht zu einer individuellen friedfertigen Entfaltung.

      Ich wünsche auf dieser nicht einfachen Reise alles Gute.

      Sebastian Tippe,

      Hannover 2021

      Es gibt klare gesellschaftliche Erwartungen daran, wie „typische“ Männer und Frauen auszusehen haben, wie sie sich zu verhalten haben, was sie dürfen oder eben nicht dürfen und wozu sie fähig oder nicht fähig sind. Dieser Annahme liegt zu Grunde, dass bestimmte Attribute und Fähigkeiten naturgegeben an ein bestimmtes Geschlecht – entweder Mann oder Frau – gekoppelt und damit unveränderlich seien. Diese biologistische Argumentation ist mittlerweile wissenschaftlich hinreichend widerlegt. Aus der Soziologie und Geschlechterforschung ist bekannt, dass alle Menschen prinzipiell die gleichen Fähigkeiten besitzen oder erlernen können und vermeintliche biologische Unterschiede – von der Fortpflanzung abgesehen – kaum eine Rolle spielen. Carol Hagemann-White (1988, S. 224) verweist auf den „[…] erfolgreichen Nachweis, in der empirischen Forschung wie in der beruflichen und politischen Praxis, dass Mädchen und Frauen in der Tat über alle Fähigkeiten und Verhaltensweisen verfügen, die es bei Männern gibt“.

       Geschlecht ist eine soziale Kategorie

      Geschlecht wird daher im Folgenden nach Helga Bilden (vgl. 1991, S. 279 – 301) oder Raewyn W. Connell (vgl. 2000, S. 54 ff.) als soziale Konstruktion verstanden. Hagemann-White (1988, S. 229) konstatiert zudem: „Die Zweigeschlechtlichkeit ist zuallererst eine soziale Realität.“ Das bedeutet, dass alle Fähigkeiten, Kompetenzen, Denkmuster und Verhaltensweisen ausschließlich sozialisationsbedingt sind. Nicht die Biologie erschafft Männer und


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