Das einfache Leben. Ernst WiechertЧитать онлайн книгу.
Schwester öffnete die Lippen, aber schon hatte eine kleine, braune, zerschrammte Hand sich über sie gelegt. »Schwester Beate sagt«, rief die helle Stimme, »dass man mit einem Kriegsschiff nicht schlafen geht, und ich habe gesagt, dass der Sohn eines Kapitäns mit zwanzig Kriegsschiffen schlafen gehen kann. Sag ihr, dass das recht ist, Vater!«
Thomas trat ans Bett und griff nach dem plumpen Spielzeug. Die feindlichen Hände ließen gehorsam los, und er hob es vor die Augen wie vorher das alte Buch. »Der Sohn eines Kapitäns kann in einem Kriegsschiff schlafen, Joachim, oder auch unter einem Kriegsschiff, aber mit einem Kriegsschiff schlafen, glaube ich, nur kleine Mädchen, die es für eine Puppe halten. Ein Junge stellt sein Schiff auf den Schrank, dort, wo die Morgensonne es trifft, und wenn er aufwacht, dann steht es da und ruft ihn zu seinem Dienst, nicht wahr?«
Er sah, wie die Haut über der jungen Stirn sich faltete in der Anstrengung, jedes Wort zu verstehen, und er wendete sich mit dem kleinen Schiff in der Hand zum Spielzeugschrank, um seine Bewegung zu verbergen. Man hatte im Kriege selten Kinder gesehen.
»Du bist der klügste Mann auf dieser Erde, Vater«, sagte Joachim tief aufatmend, mit zweifelloser Sicherheit.
»Nicht ganz, Joachim, aber wenigstens nicht der dümmste … und jetzt wird geschlafen, nicht wahr?«
»Allright, Vater. Luken dicht und gepennt … sagt man so?«
»Ja, so sagt man.«
»Und wohin gehst du jetzt, Vater? Bleibst du nicht, wenn der Admiral kommt?«
»Nein, ich habe viele Admirale in meinem Leben gesehen. Ich muss jetzt etwas suchen gehen.«
»Was willst du suchen?«
»Das wirst du später sehen. Erst wenn man gefunden hat, soll man sagen, was man gesucht hat. Gebetet?«
»Ja, Herr Kapitän«, sagte die Schwester und zog die Decke zurecht.
Seine Gedanken gingen schon wieder fort. »Später, Schwester«, sagte er, »können Sie den Psalm mit ihm beten, in dem der Vers steht: ›Wir bringen unsere Jahre zu wie ein Geschwätz.‹ Das ist ein gutes Gebet … ich habe es erst heute gefunden …«
Ihre Augen, die ihn ansahen, füllten sich langsam mit Tränen, aber er stand schon an der Tür und winkte mit der Hand. »Wissen Sie, dass es eine Grabschrift auf Ihren Namen gibt, Schwester Beate?« fragte er. »Hören Sie zu:
›Hier ruhet, die Beate heißen sollte,
und lieber sein als heißen wollte.‹
Ja, von Lessing sogar. Ich habe es neulich gefunden … ›und lieber sein als heißen wollte …‹ Nun gute Nacht und schlaft wohl!«
Er lächelte sein zerstreutes Lächeln und schloss leise die Tür hinter sich.
Draußen blieb er eine Weile unter den Kiefern des Vorgartens stehen und sah zu den ersten Sternen auf. Immer noch war er auf dem Meer und suchte die leitenden Bilder über dem Horizont. Ein Unglück, dass sie schon zu Anfang des Krieges in diese Stadt gezogen war, aber der Hafen war ihr verhasst gewesen, von Anfang an. Sie hatte das Meer niemals geliebt, die großen Winde, das streng in den Rahmen des Dienstes gespannte Leben. Sie hatte seine Uniform geliebt und ihren Traum, dass er in jungen Jahren Flottenchef werden würde.
Er ging nun schon die Straße zur Untergrundbahn entlang. Nein, so war es doch wohl nicht gerecht … Liebe war gewesen, aber ohne Prüfung und Leid, das war es. Sie alle hatten das Leben ja genommen wie Früchte von einem guten Baum. Der liebe Gott hatte ihn in ihren Garten gestellt, und sie pflückten und aßen. Wehe dem, der zu sagen wagte, dass sie es nicht verdienten! Und doch verdienten sie es nicht, keiner von ihnen. Der Ausgang hatte es bewiesen und auch das, wie sie es nun hinnahmen. Ohne Würde, und wer ohne Würde ist, ist ohne Wert.
Man muss fort, dachte er, wie aus einer Peststadt. Sie wird nicht mitgehen, aber ich muss fort. Ich will nicht einer dieser »unbesiegten Helden« werden. Ich weiß, bei Gott, wie besiegt ich bin, mehr als sie ahnen … nur das Kind, das Kind …
Er stand schon in dem kühlen Tunnel und starrte auf die Fahrkarte in seiner Hand. Ein ungeheurer Preis war quer über das braune Blatt gedruckt … woher nahm sie all das Geld? Für das Haus, die Mädchen, die Schwester? »Es ist eines Offiziers unwürdig, an der Börse zu spielen.« Hieß es nicht so? Aber sie spielte sicherlich Tag und Nacht. Nicht nur Admirale waren unter ihren Gästen. Die alten Götter stürzten, Stunde für Stunde. Ein unvorstellbarer Narr, das war er sicherlich.
Und weshalb wartete er nur auf einen dieser Züge? Auf diese donnernden Ungetüme mit ihrem grellen Licht, ihrer verbrauchten Luft und den verwüsteten Gesichtern, die geradeaus ins Leere starrten? Weshalb wartete er fast jeden Abend auf sie, um ziellos und sinnlos durch diese Stadt zu fahren, die er hasste? Stunde für Stunde, kreuz und quer? Mit der Stadtbahn, dem Autobus, der Straßenbahn? Durch die Elendsviertel und die Paläste (aber sie waren elender als jene), die Augen von Gesicht zu Gesicht wendend, als suchten sie etwas schrecklich Verlorenes? Konnte er nicht mehr ertragen, allein zu sein, oder tat er es gerade, um allein zu sein, hoffnungslos allein unter Verfluchten und Verlorenen? Die anderen kauften Rauschgifte; an dunklen Straßenecken, finsteren Torwegen konnte man sie haben. Und er fuhr und fuhr, stieg aus und fuhr wieder weiter, berauschter als sie alle, aber doch mit der eiskalten Angst im Herzen, es könnte ihm entgehen, es könnte nicht gefunden werden, was er suchte: ein Gesicht, eine Erkenntnis, der Friede … er wusste es nicht.
»Nun, auch das wird ein Ende haben«, sagte er laut. Er sprach nun manchmal mit sich selbst.
Er hatte nicht auf das beleuchtete Schild gesehen und wusste nun nicht, wohin der Zug ihn führte. Er wollte es auch nicht wissen. Er saß in seiner Ecke, sauber und gerade, und ließ wie immer die Blicke von Gesicht zu Gesicht wandern. Manche waren ihm nun längst bekannt: der Mann mit dem Holzbein und den Schnürsenkeln, der nachher an der großen Kirche stand; die Schauspielerin, die zu ihrer Vorstellung fuhr und aus deren erloschenem Gesicht zu lesen war, dass sie an diesem Abend zum hundertsten- oder zweihundertsten Mal dieselbe Rolle spielte; das Fabrikmädchen mit der roten Schleife und die alte Exzellenz, an der alles leise und unaufhörlich zitterte außer dem Monokel, das wie vor einem Totenauge schimmerte.
Die Türen wurden geöffnet und wieder zugeschlagen, wie Fallen, die sich hinter Gefangenen schlossen. Dann heulte der Motor auf, und die unterirdischen Lampen zogen wie ein zerrissenes Band vorüber. Mitunter hob sich der Zug, Schächte und Fenster sprangen aus verwitterten Hauswänden, und der Fetzen einer Lichtreklame schoss wie auf der Flucht die Dächer hinauf. Dann donnerten wieder die Tunnelwände, Kellerluft strömte durch die halb geöffneten Fenster, und weiße Gesichter erschienen an den Scheiben, wie tote Fische hinter