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Das einfache Leben. Ernst WiechertЧитать онлайн книгу.

Das einfache Leben - Ernst Wiechert


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Herr Pfar­rer«, sag­te er ent­schul­di­gend.

      Der an­de­re er­hob nur die Hand. »Wir wol­len von den wich­ti­gen Din­gen spre­chen«, un­ter­brach er.

      »Auch die Bi­bel habe ich lan­ge nicht ge­le­sen«, fuhr Tho­mas fort, »seit mei­ner Ein­seg­nung nicht. Der Dienst war schwer, und es woll­te nie recht zu­sam­men­stim­men … Heu­te nun fand ich un­ter mei­nen Bü­chern den Psal­ter, eine ganz alte Aus­ga­be, groß ge­druckt, durch eine Erb­schaft wäh­rend des Krie­ges zu mir ge­kom­men. Ich habe dar­in ge­blät­tert und fand den neun­zigs­ten Psalm. Ich ent­sann mich wie­der, auf das meis­te we­nigs­tens, aber ein Vers war mir un­be­kannt. Als Kind liest man dar­über hin­weg, und auf Kin­der trifft er ja nicht zu. ›Wir brin­gen un­se­re Jah­re zu wie ein Ge­schwätz‹, steht dort ge­schrie­ben. Zu­erst las ich wei­ter, als sei es wie das üb­ri­ge, aber dann kehr­te ich gleich wie­der zu­rück und las ihn noch ein­mal. Und dann las ich nicht mehr wei­ter … es war wie ein Mast, der über einen stürzt, und man kann nicht auf­ste­hen un­ter ihm …«

      Der Pfar­rer nick­te. Er hat­te den Kopf in die rech­te Hand ge­stützt und Tho­mas un­be­weg­lich an­ge­se­hen. »Ja«, sag­te er, »Sie wer­den das na­tür­lich als einen Zu­fall be­zeich­nen, dass Sie ge­ra­de dies ge­le­sen ha­ben. Ich selbst, wenn es mir wi­der­fährt – und es wi­der­fährt mir oft –, ich sehe es na­tür­lich an­ders an. Ich weiß dann, dass ein sol­cher Vers ge­war­tet hat, bis es Zeit ge­wor­den ist. Ver­ste­hen Sie? Es ist nicht so, dass ein Mensch für sich lebt und ein Vers wie­der für sich und viel­leicht kreu­zen ihre Wege sich ein­mal. Son­dern es ist so, für mich na­tür­lich nur, dass der Vers auf sei­nen Men­schen war­tet und der Mensch auf sei­nen Vers. Aber wenn es sich er­füllt hat, ein be­stimm­tes Stück der Le­bens­bahn, ein Sturz oder ein Auf­stieg, oder auch nur eine be­stimm­te Düs­ter­nis und Ver­wir­rung, dann ist der Vers da. Er schlägt ge­wis­ser­ma­ßen das Buch auf, er selbst, er ent­hüllt sich, er stellt sich auf den Weg. Und dann kann man nicht her­um­ge­hen oder aus­wei­chen. Er ist wie Ei­sen, das zu­schlägt. Er hat uns … ist es nicht so?«

      »Ja«, sag­te Tho­mas lei­se, »er hat uns … so ist es.«

      »Und nun soll ich Ih­nen sa­gen, was Sie da­mit an­fan­gen sol­len, nicht? Der Vers be­drückt Sie, er ist wie ein lei­ser, dump­fer Schmerz, der im­mer da ist. Sie le­sen et­was an­de­res, oder Sie ge­hen spa­zie­ren, vie­le Stun­den lang, am Tage oder lie­ber in der Nacht. Oder Sie den­ken an Ska­ger­rak oder an das Ende. Aber er geht im­mer mit Ih­nen, er ist nicht mehr au­ßen, in ei­nem Buch, das in Ihrem Hau­se bleibt, wenn Sie das Haus ver­las­sen. Er ist schon in Ih­nen, in Ihrem Blut, ganz tief, Sie sind nicht mehr sein Herr.«

      »Ja«, sag­te Tho­mas, »so ist es.«

      »Sie müs­sen es nun so an­se­hen«, fuhr der Pfar­rer fort, »oder viel­mehr, es ist wohl rich­tig, wenn Sie es so an­se­hen: der Vers hat das Sei­ne ge­tan, er hat sich gleich­sam vom Tode auf­er­weckt, er ist für Sie auf­er­stan­den. Und nun fragt sich, ob Sie das Ihre tun wol­len. Ich will es nicht ›au­fer­ste­hen‹ nen­nen, denn das ist ein sehr großes Wort. Es fragt sich, ob Sie den Vers wie­der be­gra­ben wol­len, ihn er­wür­gen und zu­schüt­ten … ja, ich sag­te, ›er­wür­gen‹! Dann rührt er sich noch eine Wei­le, so wie das Kind bei Tol­stoj, wis­sen Sie? In der Nacht, wenn Sie aus ei­nem Traum auf­fah­ren, oder in ei­ner Ge­sell­schaft, oder viel­leicht, wenn Sie Ihren Jun­gen an­se­hen. Aber dann ist er still, so still wie vor­her. Er hat an­ge­klopft, und Sie ha­ben nicht auf­ge­macht. Sie ha­ben die Hun­de auf ihn ge­hetzt, und er ist tot. Für Sie ist er tot, ewig und un­ab­än­der­lich.

      Das ist der eine Weg. Der an­de­re ist eben­so klar, näm­lich, dass auch Sie nun das Ih­ri­ge tun, nicht wahr? Dass Sie eben auf­hö­ren da­mit, Ihre Jah­re zu­zu­brin­gen wie ein Ge­schwätz. Und wenn Sie das tun, dann ist der Vers still. Das heißt, sei­ne Mah­nung ist still, sein Vor­wurf, sei­ne Kla­ge. Er trifft nicht mehr zu für Sie, Sie ha­ben ihn er­löst. Im Mär­chen wird aus ei­nem Dra­chen eine Prin­zes­sin. Im Le­ben ist es so, dass man eben auf­hört, so zu sein. Dass man an­ders wird, kein Hei­li­ger und kein Pro­phet, aber eben an­ders, nicht?«

      »Ja«, sag­te Tho­mas, »aber wenn man nun das nicht so ohne wei­te­res kann … fromm wer­den, mei­ne ich, oder glau­ben, oder wie man es nennt …«

      »Fromm wer­den? Glau­ben?« Der Pfar­rer beug­te sich vor und sah ihn er­staunt an. »Wie kom­men Sie dar­auf? Ar­bei­ten soll man, ar­bei­ten! Ver­ste­hen Sie? Nichts als ar­bei­ten! Das heißt es.«

      »Aber Sie als Pfar­rer …«

      Der schwe­re Mann stand auf und trat vor das rie­si­ge Chris­tus­bild. Er war eben­so groß wie das Bild­werk, und sie sa­hen ein­an­der aus glei­cher Höhe in die Au­gen. »Die­ser hier«, sag­te der Pfar­rer lei­se, sich halb um­wen­dend, »wird mir ver­zei­hen, dass ich sei­nen Na­men so sel­ten nen­ne. Dass ich nur von dem einen spre­che, das uns heu­te not tut, von der Ar­beit. Auch in der Kir­che, ge­ra­de in der Kir­che. Vier Jah­re ha­ben wir sei­nen Na­men miss­braucht, nun wol­len wir ihn vier Jah­re ver­schwei­gen. Wir ha­ben ge­tö­tet, und nun wol­len wir ar­bei­ten, schwer und keu­chend und schweiß­be­deckt, nichts als ar­bei­ten. Und dann wol­len wir se­hen, ob wir wie­der wür­dig sind, sei­nen ge­lieb­ten Na­men aus­zu­spre­chen.«

      »Und wie ar­bei­ten, Herr Pfar­rer? Wel­che Ar­beit? Ich selbst, ich …«

      Der Pfar­rer hob die Hand. Er stand nun mit dem Rücken ge­gen das Fens­ter, als sei er eben aus dem Dun­kel der Nacht her­aus­ge­stie­gen, ein Bau­er, den sei­ne Fel­der nicht schla­fen las­sen. »In die­ser Ge­mein­de«, sag­te er, »woh­nen Mi­nis­ter und Stra­ßen­keh­rer. Bei­de kom­men nicht in die Kir­che, aber bei­de ar­bei­ten, und bei­der Ar­beit ist mir gleich wert. Die eine kann ich se­hen, wenn ich aus dem Haus tre­te, die an­de­re kann ich nicht se­hen, ich er­ra­te sie höchs­tens oder lese in der Zei­tung da­von. Ich glau­be auch, dass der Stra­ßen­keh­rer glück­li­cher ist mit sei­ner Ar­beit als der Mi­nis­ter. Er hat sei­nen Ab­schnitt, sei­nen Be­sen und sei­ne Kar­re. Er hat sei­ne Gren­zen, über die ihm kei­ner her­ein­kommt. Das hat der an­de­re nicht. Und ein Pfer­des­ap­fel ist leich­ter zu be­sei­ti­gen als Int­ri­gen, oder po­li­ti­sche Feind­schaft, oder was sie sonst wol­len. Aber au­ßer­dem kann der Stra­ßen­keh­rer im­mer hof­fen, ein­mal Mi­nis­ter zu wer­den, wäh­rend je­ner kei­nen Stern hat, den er aus dem Him­mel her­un­ter­ho­len könn­te. Aber das ist al­les gleich, ganz gleich. Sie dür­fen nicht fra­gen: ›Wel­che Ar­beit?‹ Se­hen Sie mei­nen Tisch an! Se­hen Sie die Brie­fe! Dut­zen­de, Hun­der­te von Brie­fen, mit Blut ge­schrie­ben, ja, ich sage es aus­drück­lich: ›Mit Blut ge­schrie­ben!‹ Wis­sen Sie nicht, wie Gott uns ge­schla­gen hat? Furcht­bar und er­bar­mungs­los ge­schla­gen? Ach …« Er hob die Hän­de und rang sie über sei­nem grau­en Haar, und für einen Au­gen­blick war sein Ge­sicht ver­zwei­fel­ter als das des grau­en Bil­des an der Wand.

      Aber dann ließ er die Hän­de sin­ken und lä­chel­te wie zur Ab­bit­te. »Es ist nur manch­mal«, sag­te er, »und geht gleich vor­bei … ich sehe Ih­nen schon lan­ge zu, fast fünf Jah­re, Herr von Orla. In die­ser Ge­mein­de bleibt ja nichts ver­bor­gen. Wie Sie mit Ihrem Jun­gen ge­hen und wie Sie al­lein ge­hen, lan­ge und viel al­lein. Aber ich war im­mer ge­trost, wenn ich an Sie dach­te. Er trifft sei­nen En­gel schon, habe ich ge­dacht. Wer so viel geht, trifft ihn schon ein­mal. Ich bin nicht zu Ih­nen ge­kom­men, das sind so neu­mo­di­sche Din­ge. Wenn die Kir­chen leer sind, wan­dern die Pfar­rer in die Häu­ser, um Ein­tritts­kar­ten zu ver­schen­ken. Nein, nein. Die Bau­ern war­ten auch, bis man kommt. Aber Sie wol­len


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