Kursbuch 204. Группа авторовЧитать онлайн книгу.
vegetabilische Ernährung eine Erfindung des 21. Jahrhunderts sei. Gemeint ist damit eine fleischlose Ernährungsweise, die auf dem bewussten Fleischverzicht beruht und nicht auf möglichen Versorgungsengpässen mit tierischen Produkten. Diese Form der Enthaltsamkeit ist schon wesentlich älter, als heutige Diskurse vermuten lassen: So ist schon in der griechischen Antike karnivore Abstinenz ein Thema, das den Ernährungsalltag insbesondere gut situierter Personen mitbestimmt.
Auf dem europäischen Festland ist der bewusste Fleischverzicht schon seit mehreren Jahrhunderten vor allem Teil verschiedener Bewegungen, die sich mit einem gesunden Lebensstil auseinandersetzen und diesen auch mittels spezifischer Ernährungsweisen in ihrem Alltag umzusetzen versuchen. En vogue ist eine pflanzliche Ernährung dabei insbesondere in diversen Religionen, denn Fastenvorschriften beziehen oftmals den Fleischkonsum mit ein. Trotz teils raffinierter Umgehungsversuche dieser Speisevorschriften – sind beispielsweise Maultaschen doch ein bis heute beliebtes Gericht der schwäbischen Küche, das seinen fleischlichen Inhalt optisch gut verbirgt und nicht umsonst den Namen »Herrgottsbscheißerle« trägt – bestimm(t)en sie letzten Endes, ob und wann welches Fleisch gegessen oder nicht konsumiert werden darf. Daneben entwickelten sich auch nicht religiöse Fleischverzichtsbewegungen, die insbesondere im 19. Jahrhundert einen ersten Höhepunkt erreichten und deren Akteure sich sogar in eigens dafür gegründeten Verbänden zusammenschlossen.
Schlussendlich aber ist der bewusste Fleischverzicht ein Privileg – er beruht auf dem Luxus, dass Fleisch, wenn es auf dem Speiseplan gewollt wäre, als Teil der Nahrung zur Verfügung stünde, und es dennoch nicht in die Ernährung mit eingebunden ist. Dabei ist Fleisch ein Bestandteil der Ernährung, der den Menschen schon seit seiner Ur- und Frühgeschichte begleitet.
Fleisch in der menschlichen Ernährung
Als Jäger und Sammler hatte man von der Verfügbarkeit verschiedenster Fleischstücke, zumindest aus alimentärer Sicht, nur träumen können. Fleisch war ein rares Gut, dessen Verzehr erst mit ausgefeilten Jagdtechniken zunehmen konnte. Zunächst stand es in der Regel roh auf dem Speiseplan, fehlten doch geeignete Zubereitungsmöglichkeiten wie Feuerstellen. Und selbst heutige Freunde der Garstufen rare oder gar raw müssen wohl zugeben, dass die Möglichkeiten der Zubereitung von Speisen durch Hitze den Essenskosmos durchaus erweitern.
Erst die Nutzbarmachung des Feuers im Verlauf der älteren Altsteinzeit ermöglichte es, Fleisch gegart oder gebraten verspeisen zu können. Ein evolutionärer Kniff, der das geschmackliche Repertoire erweiterte und überdies dem Verdauungstrakt zugutekam. Leichter verdaulich und durch Erhitzung von Parasiten befreit, trug das am Feuer zubereitete Fleisch auch zur sozialen Entwicklung des Menschen bei: Die gemeinsame Mahlzeit war erfunden. Fleisch wurde nicht mehr to go verzehrt, sondern zunächst zur Feuerstelle geschafft, um es dort erhitzen und gemeinsam verspeisen zu können.
Es darf dabei nicht vergessen werden, dass die Jagd eine komplexe Aufgabe darstellte, die – anders als bei den meisten heutigen Supermarktstreifzügen – neben körperlicher Höchstleistung auch das ein oder andere Opfer erforderte. Das zog wiederum geschlechterspezifische Herausforderungen nach sich, mit denen es umzugehen galt: etwa die körperlich (meist) unterschiedlichen Konstitutionen von Mann und Frau oder die Betreuung der Kinder inklusive Säuglingspflege. Ausgehend von dieser neuen Entwicklung differenzierten sich Geschlechterrollen aus: Frauen versorgten die Kinder in der Nähe der Feuerstelle, Männer gingen auf die Jagd. Eine Rollenverteilung, die sich in den meisten Kulturen bis ins 21. Jahrhundert gehalten hat und deren Aufweichung nach wie vor nur langsam im Prozess begriffen ist.
Zumindest zieht sich dieser Wandel wesentlich länger hin als die Sesshaftwerdung der Menschen. Der schleichende Abschied vom Wildbeuterdasein stellte eine gravierende Veränderung des (Zusammen-)Lebens dar und läutete die neolithische Revolution ein. Und von einigen Nomaden, Aussteigern und Weltreisenden abgesehen, kann man behaupten, dass dieser Prozess nahezu menschheitsumfassend ablief. In Gemeinschaften an einem Ort zusammenzuwohnen ist auch derzeit noch die bevorzugte Lebensweise. Die Jäger und Sammler entdeckten im Zuge des Neolithikums zudem peu à peu Pflanzenanbau und Viehhaltung – meist Rinder, Ziegen, Schweine und Schafe – für sich. War es doch weitaus angenehmer, für das saftige und zudem energiereiche Stück Fleisch nicht erst tagelang, von Familie und Freunden getrennt, durch die Gegend ziehen und Ausblick nach geeignetem Jagdwild halten zu müssen.
Irgendwann reichte es nicht mehr, das Vieh zu halten, zu schlachten und dann in aller Eile verspeisen zu müssen, um dem Verderb des Fleisches durch Konsum zuvorzukommen. Ob es nun der Ehrgeiz war, der den Erfindergeist vorantrieb, oder ob die Vorgängertechniken der heutigen Konservierungsmethoden zufällige Entwicklungen waren, lässt sich nicht mehr nachvollziehen. Belegbar ist jedoch, dass ab etwa 1000 v. Chr. eine neue Nutzungsart des tierischen Fleisches hinzukam: das Räuchern. Die Vorratshaltung wurde im Laufe der Zeit nicht nur in verschiedene Räuchermethoden ausdifferenziert, sondern noch um weitere Konservierungstechniken ergänzt. Lebensmittel, darunter auch Fleisch, werden bis heute eingesalzen, getrocknet oder gepökelt. Bekommt man als Verbraucher diese technisch-chemischen Verfahren meist gar nicht mehr mit, sondern greift im Supermarkt zu Corned Beef, Salami und Co., entdecken seit einigen Jahren immer mehr Nostalgiker vor allem das Einkochen am heimischen Herd wieder für sich. Die Firma Weck erlebt ein Revival, und manch Köchin oder Koch wird bei Recherchen zum Thema klar, dass »Einwecken« in Wirklichkeit ein Eponym ist und »Einkochen« der Begriff, der den Vorgang vom Wortsinn her beschreibt.
Dieser neue Umgang mit den vorhandenen Lebensmitteln eröffnete ganz neue Möglichkeiten der Ernährung und dehnte auch die zeitlichen Bedingungen des Verzehrs des gehaltenen Schlachtviehs aus. Mit den verschiedenen Kulturen entwickelten sich dann während der Eisenzeit auch verschiedenste Speisepläne, der Zugriff auf Lebensmittel veränderte sich ebenso wie die genutzten Produkte selbst.3 Durch Kontakt zwischen den Kulturen wurden verschiedene Prozesse angestoßen, auch im Bereich der Ernährung. Entwicklungen, die sich bis heute im Rahmen von Globalisierung und Migration beobachten lassen: So führten zum Beispiel die Handelsbeziehungen und kolonialen Bemühungen Großbritanniens im 19. Jahrhundert dazu, dass indische Gerichte, wie das Curry, den Weg auf die Britischen Inseln fanden. Von dort gelangten sie beispielsweise wiederum auf westfälische Speiseteller, wie sich unter anderem in Henriette Davidis’ Praktischem Kochbuch 4 nachvollziehen lässt: Curry findet sich in der Ausgabe von 1887, herausgegeben von Luise Rosendorf, die das Kochbuch nach dem Tod von Henriette Davidis als erste weitere Autorin weiterführte.5 In die Erstausgabe von 1845 hatte zwar Reis schon Eingang gefunden – Curry jedoch noch nicht. Der Blick über den Tellerrand erfolgte bei der westfälischen Kochbuchautorin im Wortsinn – in diesem Fall gen Großbritannien. Dessen internationale Bestrebungen hatten eine Art Vorbildcharakter, und die damit vermeintlich verbundene Exklusivität sowie ein erstrebenswert erscheinender und im Rahmen der eigenen (Koch-)Möglichkeiten greifbar werdender Exotismus konnten durch Kochrezepte in den eigenen provinziellen Speiseplan eingebunden werden. Die Imitation der insbesondere zu dieser Zeit geschätzten britischen Küche diente somit dazu, den im Vergleich zu den Referenzgesellschaften teils als rückständig empfundenen Alltag aufzuwerten und in ein exklusiveres Licht zu stellen. Wie sich ebenfalls diachron in den verschiedenen Ausgaben des Praktischen Kochbuchs von Henriette Davidis ablesen lässt, changierte eine Variante des Sonntagsbratens im Laufe dieser Entwicklungen – Orientierungen an der britischen und französischen Küche folgend – vom Beef à la mode über das verballhornte Bœuf à la mode hin zum, dann schon fast profan anmutenden, Schmorbraten. Eine Benennungshistorie, die gen Ende des 19. Jahrhunderts eine Rückbesinnung auf den Eigenwert der deutschen Sprache erkennen lässt – ganz im Sinne des zunehmenden Nationalismus der Zeit.
Gibt der Schmorbraten aktuell keinen Anlass (mehr?) zur Diskussion in puncto Namensgebung, ist es heute der Diskurs um die Benennung von Fleischersatzprodukten, der unter anderem aufzeigt, dass gerade Fleisch als Wohlstandsindikator gelten kann. Bei der Analyse menschlichen Fleischkonsums zeigen sich dabei verschiedene Merkmale, die Rückschlüsse auf die jeweilige Gesellschaft zulassen. So empfiehlt die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) aktuell beispielsweise, die Fettzufuhr, vor allem gesättigter Fettsäuren, wie sie in Fleischprodukten vorkommen, zu reduzieren, da die meisten Männer und Frauen in Deutschland die empfohlenen Tagesmengen überschreiten.6 Blickt man in der Geschichte der Menschheit zurück, lässt sich an dieser Empfehlung erkennen, an welch luxuriösem Punkt wir in unserer