Outsider. Jonathan WilsonЧитать онлайн книгу.
sei es zu Handgemengen zwischen Deutschen und Ukrainern gekommen. Deutsche Würdenträger sollen auf dem Weg zu ihren Fahrzeugen geschubst worden sein, und Soldaten hätten ihre Hunde losgelassen, um die Menge zu zerstreuen.
In einer Version der Geschichte sollen die Spieler von Start noch auf dem Platz mit Maschinengewehren niedergemäht worden sein, das ist aber mit Sicherheit nicht geschehen. Tatsache ist, dass man am Sonntag darauf gegen Ruch antrat, die Mannschaft der Nationalisten, und diese mit 8:0 besiegte. In der Woche nach dieser Partie wurden die Spieler dann einer nach dem anderen ins Büro der Bäckerei bestellt und verhaftet. Man brachte sie zum Gestapo-Hauptquartier in der Korolenko-Straße und verhörte sie. Sie sollten zu Geständnissen gebracht werden, Saboteure oder Diebe zu sein. Doch keiner knickte ein, und mit Ausnahme des Flügelstürmers Mykola Korotych brachte man die Spieler in das Gefangenenlager Syrez nahe Babyn Jar, der Schlucht, in der 1941 Tausende von Juden einem Massaker zum Opfer gefallen waren. Korotych war zehn Jahre zuvor aktiver Offizier beim NKWD gewesen, dem Vorgänger des KGB. Als man das herausfand, wurde er weitaus härter behandelt als die anderen. Er starb nach 20 Tagen Folter.
Die Gefangenen in Syrez, deren Speiseplan pro Tag nur 150–200 Gramm Brot vorsah, das normalerweise mit einer Suppe aus Eicheln verabreicht wurde, setzte man als Zwangsarbeiter ein. Als einer von ihnen die Flucht wagte, wurde seine gesamte Arbeitseinheit, die aus 18 Leuten bestand, erschossen. Da die Spieler körperlich in besserer Verfassung waren als die meisten anderen Inhaftierten, überlebten sie zunächst den Winter. Doch am 23. Februar 1943, dem Jahrestag der Gründung der Roten Armee, unternahm der Widerstand eine Serie von Bombenangriffen auf deutsche Ziele und zerstörte dabei einen Reparaturbetrieb für Motorschlitten. Einen Tag später folgte die Vergeltungsaktion. Beim Zählappell stellte man die Gefangenen in Reihen auf. Jeder dritte Mann wurde zu Boden geprügelt und erschossen. Iwan Kusmenko, der im zweiten Spiel gegen die Flakelf mindestens einen, wahrscheinlich aber sogar zwei Treffer erzielt hatte, wurde als Erster der Kicker getötet. Klymenko war der Zweite. Als Dritter und Letzter kam Trussewitsch an die Reihe, dessen Heldenmut den von Kandidow weit übertroffen hatte.
Die Geschichte inspirierte einige Filme. Am bekanntesten, zumindest beim westlichen Publikum, ist sicherlich der amerikanische Film Escape to Victory, der in Deutschland unter dem Titel Flucht oder Sieg in die Kinos kam. Er basierte seinerseits auf dem 1961 gedrehten Film Két félidő a pokalban des ungarische Regisseurs Zoltán Fábri (deutscher Titel: Zwei Halbzeiten in der Hölle). Eigenartigerweise findet sich auch eine Variation der Geschichte in dem angeblich autobiografischen Essay des russischen Dichters Jewgeni Jewtuschenko über seine Beziehung zum Sport, der 1966 in Sports Illustrated erschien. Genau wie Albert Camus sah auch Jewtuschenko den Fußball als Metapher. „Allegorische Verse“, so schrieb er, „sind wie das Dribbeln und Antäuschen beim Fußball: eine List, um die Verteidiger in die Irre zu führen, so dass man den Ball ins Tor des Gegners schießen kann.“ Auch er selbst spielte regelmäßig Fußball, anfangs mit „einem Knäuel aus Lumpen“ oder „einer Blechdose“, später dann aber „mit dem echten Ding aus Leder“.
„Ich schwänzte die Schule, um mich auf irgendeiner Freifläche mit meinen Freunden zu treffen“, notierte er, „und wir spielten dann stundenlang ohne Unterbrechung, bis wir erschöpft waren. Die Tore bauten wir uns meist aus einem Haufen Schultaschen, in denen die Übungshefte nutzlos herumlagen.“ Jewtuschenko spielte immer im Tor, wo ihm, wie er versicherte, eine große Zukunft vorherbestimmt gewesen sei, bis er im Alter von 16 Jahren seine ersten Verse veröffentlichte und sich fortan ausschließlich der Poesie widmete.
Er beschreibt etwas genauer ein Spiel „gegen ein Team aus Marjina Roschtscha, einer für seine Raufbolde bekannten Vorstadt von Moskau. Unsere Gegner waren stabil gebaute Kerle mit flacher Stirn und modischen Haarschnitten. Sie hatten beeindruckende Tätowierungen mit Sprüchen wie ‚Vergiss niemals die Mutter’ und ‚Tod den Nazis’ und dazu Abbildungen grinsender Totenköpfe und bärtiger Meerjungfrauen. Auf ihren Körpern trugen unsere Gegner, so stolz, als wären sie eine Zierde, die Narben unzähliger Schlachten.“ Sie waren bekannt als die „Zerstörer“, und es gab Gerüchte, dass sie Messer in ihren Stutzen trugen.
„Wir spielten auf einem großen, brachliegenden Feld hinter einer Wodkabrennerei, wo wir uns Tore aus rostigen Eisenbahnschienen gebaut hatten“, erinnerte sich Jewtuschenko. „Es hatten sich mehrere hundert Zuschauer versammelt, darunter auch die Fans von Marjina Roschtscha, die man anhand ihrer düster-verschwörerischen Ausstrahlung unschwer erkennen konnte. Angeführt wurden diese Claqueure von einem einäugigen Typen um die 30, genannt Billy Bones. Von Beruf war er Lumpensammler, von seinen Vorlieben her allerdings Säufer und Bandit.“ Wie erwartet spielten die Zerstörer äußerst ruppig. Sowohl der Mittelstürmer als auch der beste Verteidiger in Jewtuschenkos Mannschaft wurden verletzt. Das gleiche Schicksal widerfuhr schließlich auch dem Torhüter, der aber tapfer weitermachte:
„Gegen Ende der Begegnung waren unsere Spieler allesamt mit blauen Flecken und Schrammen übersät. Doch noch hatte es kein Tor gegeben. Die Zerstörer waren beinahe verrückt vor Wut. In einer heiklen Situation war einer unserer Verteidiger dann töricht genug, den Ball mit der Hand zu stoppen. Das führte zu dem schlimmstmöglichen Moment für einen Torwart – einem Strafstoß. Der Kapitän der Zerstörer wirbelte den Ball in seinen Händen, klatschte ihm auf die Seiten, spuckte darauf und legte ihn auf den Elfmeterpunkt. Ich machte mich bereit.
Genau in dem Augenblick machte Billy Bones seinen Leuten mit den Fingern ein Zeichen, und ich spürte einen stechenden Schmerz in meinem Gesicht, dann einen zweiten und einen dritten. Die Anhänger der Zerstörer schossen mit Schleudern kleine Steine auf mich. Alles passierte nach bester südamerikanischer Art und Weise. Ich war halbblind vor Schmerz und konnte praktisch nichts mehr sehen, außer dem ganz ruhig daliegenden Ball. Vielleicht hat mir das geholfen.
Der Kapitän der Zerstörer machte sein grimmigstes Gesicht, lief an und schoss. Ich habe keine Ahnung, wie es passierte, aber der Ball gelangte in meine Hände. Billy Bones war fuchsteufelswild. Der Kapitän der Zerstörer kam mit einem zuckersüßen Lächeln auf mich zu und streckte seine Hand aus, um mir zu gratulieren. Ich war zwar ein wenig überrascht angesichts dieser wundersamen charakterlichen Wandlung bei den Zerstörern, reichte aber in der Schlichtheit meines Herzens meine Hand zurück. Während er weiterhin zuckersüß lächelte, quetschte der Kapitän der Zerstörer unbeobachtet von den in der Nähe stehenden Leuten meine Hand daraufhin schmerzhaft zusammen, bis sie böse knackte, und drehte sie dann noch ein wenig. Gleichzeitig versuchte er, mit seinem Fuß den Ball aus meiner anderen Hand zu treten.“
Allein das wäre schon Stoff genug für eine Heldensaga gewesen und vielleicht auch noch glaubhaft, aber Jewtuschenko setzte noch einen drauf:
„Zornig, wie ich war, geriet ich in dem Moment in eine Art Trance. Ich riss mich los und rannte mit dem Ball am Fuß nach vorne. Ich sprang über ausgestreckte Beine von Gegenspielern, die mich zu Fall bringen wollten. Ein Fetzen meines Trikots blieb in den Händen von einem Zerstörer zurück, der vergeblich versucht hatte, mich mit allen möglichen Mitteln aufzuhalten. Ich wurde wie wild mit Steinen beschossen, fühlte aber keinen Schmerz mehr. Nachdem ich schließlich das gesamte Feld überquert hatte, schlüpfte ich auch noch am Torhüter der Zerstörer vorbei. Aus einem sadistischen Rachegefühl heraus schoss ich aber nicht sofort das Tor. Ich stoppte den Ball auf der Torlinie und drehte mich um, so dass mein Rücken zum Tor zeigte und ich sehen konnte, wie die Zerstörer mit verzerrten, angespannten Gesichtern auf mich zurannten. Ich stand da wie in Habachtstellung, beugte meinen Kopf leicht vor und wartete ab. Als die Zerstörer mich erreicht hatten, schob ich den Ball ganz sachte mit meiner Hacke ins Netz. Die Pfeife des Schiedsrichters ertönte und verkündete das Ende des Spiels wie auch unseren Sieg.“
Die Zerstörer bildeten einen Kreis um Jewtuschenko, schlugen ihn zu Boden und zogen ihre Messer. Doch da kam auf einmal Billy Bones, augenscheinlich von der Tapferkeit des Torwarts überwältigt, und befahl, ihn in Ruhe zu lassen. Das Ende dieser Episode kombiniert den Schluss von Wratar mit dem Ende des Todesspiels, so dass man nur schlussfolgern kann, dass Jewtuschenko hier etwas zu