Michael Endes Philosophie. Alexander OberleitnerЧитать онлайн книгу.
Spielzeug zu bestechen versucht, dem konsequenten Zuhören Momos unterliegt und das Geheimnis der »Zeit-Spar-Kasse« preisgibt (»alle Zeit, die sie einsparen, ist für sie verloren … Wir reißen sie an uns … uns hungert danach …« (99)), beschließen die Grauen Herren, sich des Mädchens zu bemächtigen.
Da wird Momo Hilfe von unerwarteter Seite zuteil. Gerade rechtzeitig taucht eine Schildkröte namens Kassiopeia auf, rettet das Kind vor dem Zugriff der Grauen Herren und führt es langsam, aber zielstrebig durch einen seltsamen Stadtteil »aus dem Bereich der Zeit« (139) hinaus in die »Niemals-Gasse« zum »Nirgend-Haus« des geheimnisvollen Meister Hora. Hora, der einmal als Greis, einmal als Kind erscheint, nimmt Momo freundlich auf und gibt sich ihr als »Verwalter« aller menschlichen Zeit zu erkennen. Er klärt das Mädchen über das paradoxe Wesen der Grauen Herren auf (»In Wirklichkeit sind sie nichts« (155)), die sich von gestohlener menschlicher Zeit nähren. Um Momo gegen sie zu wappnen, führt er sie dorthin, »wo die Zeit herkommt« (162). Das Mädchen findet sich in einer gewaltigen goldenen Kuppel wieder, wo ein geheimnisvolles Pendel aus Licht eine Blume von vollkommener Schönheit nach der nächsten zum Er- und Verblühen bringt. Es sind die Stunden-Blumen der menschlichen Zeit. Nach und nach nimmt Momo im Klang des Pendels die verschiedenen »Stimmen« der Dinge wahr, die sich in Harmonie ineinanderfügen. Sie begreift, daß alle Kräfte des Universums, »bis hinaus zu den fernsten Sternen«, zusammenspielen müssen, um eine einzige der Stunden-Blumen hervorzubringen. »Und es überkam sie etwas, das größer war als Angst« (166). Zurück im Nirgends-Haus offenbart ihr Hora, daß sie in ihrem eigenen Herzen war. Als sie ihn bittet, ihren Freunden von der Musik der Sterne erzählen zu dürfen, versetzt er sie in einen tiefen Schlaf, »bis die Worte in dir gewachsen sein werden« (168). Erst viel später erwacht sie in ihrer Wohnstatt im Amphitheater.
Aber während Momo »Jahr und Tag« (190) geschlafen hat, hat sich ihre Welt verändert. Die Umwandlung der Stadt in eine perfekt funktionierende Maschinerie ist weitgehend abgeschlossen; alle früheren Freunde sind entweder kraftlos in ihr gefangen oder durch Erfolg und scheinbare Macht korrumpiert. Momo leidet unter bitterer Einsamkeit und empfindet ihren Reichtum an Zeit nun, da sie ihn mit niemandem teilen kann, zum ersten Mal als drückende Last. Darauf haben die Grauen Herren nur gewartet. Sie versuchen das Mädchen mit dem Versprechen zu ködern, seinen Freunden alle Zeit zurückzugeben, wenn es sie nur den Weg zu Meister Hora führe. Sie wollen aufs Ganze gehen und sich der Zeit aller Menschen auf einen Schlag bemächtigen. Momo jedoch weist sie ab, zumal sie auch den Weg selbst nicht kennt. Als sie aber wenig später zum zweiten Mal von der Schildkröte Kassiopeia in die Niemals-Gasse geführt wird, gelingt es den Grauen Herren, den beiden unbemerkt zu folgen und das Nirgends-Haus, in das sie selbst nicht eindringen können, zu belagern. Mit dem Rauch ihrer Zigarren, ohne die sie keine Sekunde existieren können und deren Tabak aus ihren Besitzern entrissenen Stunden-Blumen besteht, wollen sie die von Hora ausgesandte Zeit vergiften und so alle Menschen mit einer Krankheit namens »die tödliche Langeweile« (244) infizieren.
In dieser dramatischen Situation entschließen sich die Belagerten zu einem verzweifelten Schritt. Hora, der stets wach bleiben muß, um die Zuteilung der Zeit nicht zu unterbrechen, schläft ein und läßt die Welt dadurch erstarren. Ausgenommen sind nur Momo, die eine ihrer Stunden-Blumen (»eine einzige, weil ja immer nur eine blüht« (245)) und damit eine Stunde Zeit erhält, Kassiopeia, die »ihre eigene kleine Zeit in sich selbst [trägt]« (247) – und die Grauen Herren, deren Zeitnachschub allerdings schlagartig zusammenbricht. Als sie daraufhin in Panik zu den »Zeitvorräten« im Tresorraum ihrer unterirdischen Zentrale streben, werden sie unmerklich von dem Mädchen und der Schildkröte zum Versteck der gestohlenen Stunden-Blumen verfolgt. Durch eine Berührung mit ihrer Stunden-Blume gelingt es Momo, die Tür des Tresorraums zu schließen, worauf sich die Grauen Herren, deren Zigarrenvorrat zur Neige geht, einer nach dem anderen in nichts auflösen. Als der letzte verschwunden ist, öffnet Momo die Tür wieder und befreit damit die Zeit der Menschen, die die Welt aus ihrer Erstarrung löst und in einem gewaltigen Sturm zu ihren Besitzern zurückkehrt.
DIE UNENDLICHE GESCHICHTE
In das verschlafene Antiquariat Koreander stolpert eines Novembermorgens ein regennasser zehn- oder elfjähriger Junge namens Bastian Balthasar Bux. Er befindet sich auf der Flucht vor seinen Schulkameraden, gegen deren bösartige Streiche er sich nicht zu wehren wagt. Auch sonst ist Bastian, wie Herr Koreander bald abschätzig feststellt, »ein Versager auf der ganzen Linie« (UG 9): Er ist dick, unsportlich und ein miserabler Schüler. Aber wie die kleine Momo jenes des Zuhörens, besitzt auch er ein ebenso verborgenes wie wunderbares Talent: Er ist ein begnadeter Träumer. »[V]ielleicht war es das einzige, was er wirklich konnte: sich etwas vorstellen, so deutlich, daß er es fast sah und hörte. Wenn er sich selbst seine Geschichten erzählte, dann vergaß er manchmal alles um sich herum« (26). So ist es nicht verwunderlich, daß er sich magisch von einem Buch namens Die unendliche Geschichte mit »Einband aus kupferfarbener Seide« und »wunderschöne[n] große[n] Anfangsbuchstaben«47 angezogen fühlt, das der beschäftigte Koreander einige Augenblicke zur Seite gelegt hat. Kurz entschlossen nimmt er es an sich und läuft davon. Als ihm schlagartig klar wird, daß er gestohlen hat, wagt er sich nicht mehr zu seinem Vater nach Hause, sondern schleicht sich auf den Dachboden seiner Schule, wo er, auf einem Mattenlager sitzend, Die unendliche Geschichte zu lesen beginnt.
Zu seiner Freude stellt er fest, daß sie ihn – »genau […] wie seine eigenen Geschichten« (26) – in eine bunte, lebendige Welt voller fabelhafter, komischer und schauriger Figuren entführt: das weite, ja unendliche Reich Phantásien. Aber diese Welt ist in schrecklicher Gefahr: Sie löst sich langsam, aber stetig buchstäblich in Nichts auf (»anfangs [war es] nur ganz klein, ein Nichts, so groß wie ein Sumpfhuhn-Ei […]. Niemand von uns konnte sich erklären, was diese schreckliche Sache sein sollte, […] [die] sich immer mehr ausbreitete« (24)), eine Katastrophe, die ganz offenbar in Zusammenhang steht mit der unerklärlichen Krankheit der Kindlichen Kaiserin – des mystischen Zentrums von ganz Phantásien. Mit dem geheimnisvollen Amulett AURYN48 als Zeichen ihrer Macht versehen, wird die »Grünhaut« Atréju (der an einen Indianerjungen erinnert) auf die »Große Suche« (43) nach einem Heilmittel durch die vielgestaltigen Länder Phantásiens geschickt. Atréju erweist sich dabei als ausdauernd, tapfer und mutig und besitzt somit gerade jene Eigenschaften, die Bastian völlig fehlen. Doch als ihn sein Weg durch einen Zauberspiegel führt, der jedem »sein wahres inneres Wesen« (95) zeigt, widerfährt ihm etwas sehr Seltsames: Atréju erblickt »einen dicken Jungen mit blassem Gesicht – etwa ebenso alt wie er selbst – der mit untergeschlagenen Beinen auf einem Mattenlager saß und in einem Buch las« (99). Bastian erschrickt gewaltig, versucht das Ganze jedoch als »Zufall« abzutun und verfolgt gebannt die weitere Große Suche. Von einem Orakel erfährt Atréju (und Bastian), daß nur ein »Menschenkind«, das sich entschließt, nach Phantásien zu kommen und der Kindlichen Kaiserin einen neuen Namen zu geben, ihren Tod und damit die völlige Vernichtung des Reiches abwenden kann. Dies jedoch ist seit undenkbaren Zeiten nicht mehr geschehen, da die Menschen, sehr zum Schaden auch ihrer eigenen Welt, den Weg nach Phantásien offenbar vergessen haben. Als die Grünhaut mit dieser dramatischen Botschaft zur Kindlichen Kaiserin zurückkehrt, geschieht etwas, das Bastian endgültig die Augen öffnet. Für einen kurzen, magischen Moment erblickt er die Kaiserin leibhaftig vor sich und weiß sofort: »Mondenkind. Es gab überhaupt nicht den geringsten Zweifel, daß dies ihr Name war« (161). Die Kindliche Kaiserin lobt Atréju dafür, daß er »unseren Retter« (166) mitgebracht habe, was jener nicht, Bastian aber nur zu gut versteht: Er und niemand anders kann dieser Retter sein. Dennoch wagt er nicht, der Aufforderung Mondenkinds nachzukommen, »mich bei meinem neuen Namen zu rufen, den nur er weiß« (170). Gequält muß er lesen, wie die Kaiserin lange vergeblich auf ihn wartet und schließlich ihren Palast verläßt, um als letztes Mittel den Alten vom Wandernden Berge aufzusuchen. Ihre Entschlossenheit verheißt Bastian nichts Gutes.
Wer aber ist der Alte vom Wandernden Berge? Er erweist sich als der Chronist Phantásiens, der alle Geschehnisse in seinem »in kupferfarbene Seide gebunden[en]«49 Buch vermerkt. Dessen Titel lautet – sehr zu Bastians Verblüffung – Die unendliche Geschichte. »[…] kein Zweifel, es war