Die Stadt ohne Juden. Hugo BettauerЧитать онлайн книгу.
als in den vergegangenen Jahren, die weißlackierten Kinderwägelchen rollten nur vereinzelt durch die Alleen, die Sesselreihen und Bänke waren trotz des warmen Wetters nur spärlich besetzt.
Es klopfte, der Kanzler rief scharf: „Herein!“ und stand nun seinem Präsidialchef, dem Doktor Fronz, gegenüber.
Schwertfeger war Ende Juni, kurz nach der Annahme des Ausweisungsgesetzes, nach Tirol gefahren, um seine unter der Last der Verantwortung und Arbeit fast zusammengebrochenen Nerven zu erholen. In einem Dorf am Arlberg blieb er mehr als zwei Monate inkognito, niemand außer seinem Präsidialchef kannte seinen Aufenthalt, er ließ sich weder Briefe noch Akten nachschicken, kümmerte sich nicht um die Zeitereignisse, und nur von ganz eminent wichtigen Vorfällen durfte ihm Fronz schriftlich Mitteilung machen. Tatsächlich war ja für alles vorgesorgt, der Wiener Polizeipräsident wie die Bezirkshauptleute hatten ihre genauen Instruktionen, das Parlament war bis zum Herbst vertagt, also fühlte sich Dr. Schwertfeger entbehrlich, ja er hielt es für seine Pflicht, neue Kräfte zu sammeln, um der kommenden Arbeit frisch und stark gegenübertreten zu können. Heute vormittag war er nach Wien zurückgekehrt und nun mußte ihm Fronz gründlich referieren. Nachdem verschiedene Personalangelegenheiten erledigt waren, ließ sich Schwertfeger schwer und wuchtig vor seinem Schreibtisch nieder, nahm Papier und Feder, um sich stenographische Notizen zu machen und sagte äußerlich ruhig und kalt, während vor Spannung jeder Nerv in ihm vibrierte:
„Nun, lieber Freund, berichten Sie mir über den bisherigen Vollzug des neuen Gesetzes und seine sichtbaren Folgen. Wie ist unsere Finanzlage? Sie wissen, ich bin völlig unorientiert.“
Dr. Fronz räusperte sich und begann:
„Finanztechnisch verläuft nicht alles so glatt, wie wir hofften. Zuerst stieg unsere Krone in Zürich sprunghaft bis auf ein Hundertstel Centime, dann traten leise, wenn auch unbedeutende Schwankungen ein, seit Ende Juli rührt sich trotz des starken Goldzustromes aus den Tresors der großen christlichen Vereine und des Bankiers Huxtable unsere Krone nicht, sie beharrt auf ihrem Julikurs. Merkwürdigerweise erfüllen sich vorläufig unsere Hoffnungen auf enorme Geldabgaben seitens der Ausgewiesenen nicht. Es fließen den Steuerämtern weder große Beträge in Kronen noch in fremden Währungen zu. Es scheint, daß sich unter unseren christlichen Mitbürgern Tausende von Parasiten befinden, die in gewissenloser Weise die überschüssigen, der Besteuerung hinterzogenen Vermögen der Juden an sich nehmen und den Juden dafür Abstandsummen in Gestalt von Anweisungen an ausländische Banken geben.“
„Das war nicht anders zu erwarten,“ sagte der Kanzler, während ein verächtliches Lächeln um seine zusammengekniffenen Lippen spielte. „Ob Jud’ oder Christ – habgierig und selbstsüchtig sind sie alle!“
Das dürften die Judenblätter nicht erfahren, dachte Fronz und fuhr fort:
„Wie ich aus dem sehr pessimistischen Referat des Finanzministers Professor Trumm folgern darf, wird uns die Ausweisung der Juden mit ungeheuren Schulden, in Gold rückzahlbar, belasten, unseren Banknotenumlauf aber in keiner nennenswerten Weise vermindern.“
„Geht die Liquidierung und Übergabe der Finanzinstitute, Banken und Aktiengesellschaften glatt vor sich?“
„In dieser Beziehung ist alles in vollem Gange, aber leider zeigt es sich, daß unsere einheimischen Kapitalisten entweder nicht willens oder nicht in der Lage sind, die großen Unternehmungen an sich zu reißen, so daß überwiegend Ausländer als Übernehmer in Betracht kommen. Die Länderbank, die Kreditanstalt, die Anglobank, die Escompte-Gesellschaft und andere Großbanken gehören bereits Italienern, Engländern, Franzosen, Tschechoslovaken und so weiter, desgleichen unsere großen Industrieunternehmungen. Eben hat ein holländisches Konsortium die Simmeringer Lokomotivfabrik übernommen. Wir passen natürlich höllisch auf, daß sich auf solchem Umweg nicht ausländische Juden hier einnisten, und jeder Kaufvertrag weist nachdrücklich auf die Klausel hin, wonach auch ausländische Juden keinerlei Aufenthaltsrecht in Österreich genießen, weder dauerndes noch vorübergehendes. Daß die Aktionäre und Direktoren der fremden Gesellschaften, die hier aufkaufen, zum Teile Juden sind, läßt sich aber nicht vermeiden.“
Der Kanzler stützte die mächtige, gewölbte Stirne in die knochige Hand, wischte dann peinliche Gedanken mit einer Handbewegung fort und sagte gleichmütig:
„Übergangserscheinungen, denen späterhin abzuhelfen sein wird! Wie vollzieht sich die Ausweisung?“
„Genau nach den Durchführungsbestimmungen des Gesetzes! Sowohl die Polizei als auch das Verkehrsamt arbeiten vortrefflich, täglich verlassen ungefähr zehn Züge mit Ausgewiesenen Österreich nach allen Richtungen und bis heute haben etwa vierhunderttausend Juden das Land verlassen.“
Schwertfeger blickte überrascht auf. „Wie ist das möglich? Wir haben an ungefähr eine halbe Million Auszuweisender gedacht! Also wären jetzt, nach einem Drittel der präliminierten Zeit, vier Fünftel erledigt?“
Dr. Fronz lächelte dünn. „Wir haben eben die große Zahl der Konvertiten und Judenstämmlinge unterschätzt! Heute hat die Staatspolizei mehr Überblick und sie rechnet nun nicht mehr mit einer halben Million, sondern mit achthunderttausend, vielleicht sogar mit einer Million Menschen, die unter das Gesetz fallen! Bei dieser Gelegenheit möchte ich bemerken, daß sich gewisse devastierende, oft sehr peinlich oder auch nur groteske Folgen der Ausweisung zeigen. Zehn christlichsoziale Nationalräte müssen als Judenstämmlinge landesverwiesen werden, beinahe ein Drittel der christlichen Journalisten wird entweder direkt oder in seinen Familienmitgliedern betroffen, es stellt sich heraus, daß unsere besten christlichen Bürger vom Judentum durchtränkt sind, uralte Familien werden auseinandergerissen, ja es hat sich etwas ereignet, was schallendes Gelächter nicht nur in den Judenblättern, die ja noch bis zum letzten Augenblick hetzen werden, erregt, sondern auch in der Presse des Auslandes. Eine Schwester des Fürsterzbischofs von Österreich, Kardinal Rößl, ist mit einem Juden verheiratet, sein Bruder aber mit einer Jüdin, so daß seine Eminenz durch das Gesetz sämtlicher Neffen, Nichten und Geschwister beraubt wird. Vielleicht wird es sich doch empfehlen, unter solchen Umständen der Nationalversammlung ein Amendement zu dem Gesetz zu unterbreiten, durch das die Ausweisung von Judenstämmlingen unter gewissen Umständen unterbleiben darf – —.“
Der Bundeskanzler sprang in die Höhe und schlug mit der geballten Faust auf den Schreibtisch, daß die Tinte hochspritzte.
„Nie und nimmer, wenigstens nicht, solang ich im Amte bin! Eine solche Ausnahmsbestimmung würde das ganze Gesetz zum Weltwitz machen, wir wären bis auf die Knochen blamiert, das internationale Judentum würde triumphieren wie noch nie in seiner Geschichte, der Korruption, der Bestechlichkeit wäre Tür und Tor geöffnet! Sie kennen ja die gewissen Herren Hof- und Sektions- und Regierungsräte mit den offenen Händen und leeren Taschen! Nein, es darf keine Ausnahmen geben, das Leid und der Kummer einzelner Familien darf an den Grundmauern des Gesetzes nicht rütteln! Im Namen der Habsburger wurde ein Krieg geführt, der einer Million Männer das Leben gekostet hat und man hat nicht zu mucksen gewagt! Was ist im Vergleich dazu die Tatsache, daß ein paar tausend oder vielleicht hunderttausend Menschen Unbequemlichkeit und Ärger verursacht wird? Ich bitte Sie, in diesem Sinne die christlichen Blätter zu instruieren. Besser noch, wenn die politische Korrespondenz sofort eine diesbezügliche Enunziation der Regierung den Blättern zugehen läßt. Und Sie bitte ich dringend, sich nicht mehr zum Sprachrohr solcher Einflüsterungen machen zu lassen!“
Dr. Fronz verbeugte sich erblassend.
„Dann ist es ja auch überflüssig, wenn ich Euer Exzellenz von furchtbaren Jammerszenen berichte, die sich täglich bei der Abfahrt der Evakuierungszüge beobachten lassen und die oft solche Dimensionen annehmen, daß selbst der Straßenpöbel, der sich zur Abfahrt der Züge mit der Absicht einzufinden pflegt, die Ausgewiesenen zu beschimpfen, ergriffen schweigt und Tränen vergießt – —.“
„Solche Szenen waren vorhergesehen und sind unvermeidlich! Instruieren Sie sofort die Polizei dahin, daß die Bahnhöfe abgesperrt werden, die Abfahrt der Züge tunlichst nur zur Nachtzeit erfolgt und nicht von den Hauptbahnhöfen, sondern von den außerhalb der Stadt gelegenen Rangierbahnhöfen. Und nun nur noch eine Frage: Wie nimmt die Bevölkerung im allgemeinen die Durchführung des Gesetzes auf?“
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