Über Toleranz. VoltaireЧитать онлайн книгу.
Die Völker, von denen uns die Geschichte einige schwache Kenntnis liefert, sahen sämtlich ihre verschiedenen Religionen als Verknüpfungen an, die sie alle miteinander verbanden; eine Gemeinschaft des menschlichen Geschlechts. Es existierte eine Art Anrecht auf Gastfreundschaft unter Göttern genauso wie unter Menschen. Wenn ein Fremder in eine Stadt kam, huldigte er als Erstes den Göttern des Landes. Man versäumte nie, sogar die Götter der Feinde zu verehren. Die Trojaner richteten selbst an jene Götter Gebete, die für die Griechen kämpften.
Alexander fragte in der libyschen Wüste den Gott Ammon um Rat, dem die Griechen den Namen Zeus und die Römer den Namen Jupiter gaben, obwohl die einen wie die anderen ihren Zeus und ihren Jupiter zu Hause hatten. Wenn man eine Stadt belagerte, opferte man den Göttern der Stadt, um sie günstig zu stimmen. So vereinte die Religion die Menschen mitten im Krieg und milderte manchmal ihren Furor; manchmal befahl sie ihnen aber auch inhumane und grauenhafte Handlungen.
Ich kann mich irren, aber ich habe den Eindruck, dass von den zivilisierten Völkern des Altertums kein einziges die Gedankenfreiheit eingeschränkt hat. Alle hatten eine Religion; aber sie gingen, scheint mir, mit den Göttern wie mit den Menschen um. Sie erkannten alle einen einzigen höchsten Gott an, gesellten ihm aber eine ungeheure Vielzahl von Untergottheiten bei. Sie hatten nur einen Glauben, aber sie erlaubten eine große Menge einzelner Subsysteme.
[42]Die Griechen zum Beispiel, so religiös sie auch waren, erachteten für richtig, dass die Epikureer die Vorsehung und die Existenz der Seele leugneten. Von anderen Sekten gar nicht zu reden, die alle die edlen Ideen kränkten, welche man dem höchsten Wesen einfach beilegen muss – und die ebenfalls sämtlich geduldet wurden.
Sokrates, welcher der Erkenntnis des höchsten Wesens am nächsten kam, musste, sagt man, ebendies büßen, und er starb als Märtyrer der Göttlichkeit; er ist der Einzige, den die Griechen wegen seiner Meinungen zu Tode brachten. Wenn dies wirklich der Grund seiner Verurteilung gewesen sein sollte, dann gereicht es der Intoleranz nicht zur Ehre; denn man bestrafte nur jenen, der Gottes Herrlichkeit gerecht wurde, und ehrte all jene, die von der Gottheit die unwürdigsten Vorstellungen gaben. Die Feinde der Toleranz sollten sich, meiner Meinung nach, nicht auf das hässliche Beispiel der Richter des Sokrates stützen.
Es steht übrigens längst fest, dass er das Opfer einer wütend gegen ihn aufgebrachten Partei war. Er hatte sich allerlei Gruppen zu unversöhnlichen Feinden gemacht: die Sophisten, die Rhetoren, die Dichter, die in den Schulen unterrichteten, und sogar alle Hauslehrer, die sich um die Bildung der Kinder von Stand kümmerten. Er gesteht selbst in seiner Rede, die uns Plato übermittelt hat, dass er von Haus zu Haus gezogen sei, um diesen Lehrern zu beweisen, dass sie nicht mehr waren als Ignoranten. Ein solches Verhalten war seiner, den ein Orakel einmal zum weisesten aller Menschen erklärt hatte, nicht würdig. Man ließ einen Priester und einen Rat aus den Reihen der Fünfhundert auf ihn los, die ihn anklagten; wessen genau, ich gestehe es, weiß ich gar nicht; ich finde hierzu nur vage [43]Anhaltspunkte in seiner Apologie. Dort gab er, heißt es, bloß ganz allgemein die Vorwürfe wieder, die man ihm machte: Man unterstelle ihm, er gebe der Jugend Maximen gegen die Religion und gegen die Regierung ein. So verfahren die Verleumder weltweit seit jeher und bis heute. Ein Tribunal muss aber doch erwiesene Fakten präsentieren, dazu präzise und detaillierte Anklageschriften; nichts davon war im Prozess gegen Sokrates gegeben. Wir wissen nur, dass er erst einmal zweihundertzwanzig Stimmen für sich bekam. Das Tribunal der Fünfhundert besaß also zweihundertzwanzig Philosophen; das ist eine Menge; ich zweifle, ob man anderswo so viele auf einem Haufen fände. Die Mehrheit votierte schließlich für den Schierlingsbecher. Aber bedenken wir: Als die Athener wieder zu sich kamen, ergriff sie Abscheu vor den Richtern; Meletos, der Haupturheber des Urteils, wurde für diese Ungerechtigkeit mit dem Tode bestraft; die anderen verbannte man; auch errichtete man einen Tempel zu Ehren des Sokrates. Niemals wurde die Philosophie so stark gerächt und so sehr geehrt. Das Beispiel des Sokrates ist eigentlich das gewaltigste Argument, das man gegen die Intoleranz ins Feld führen kann.
Die Athener hatten einen Altar, der fremden Göttern geweiht war, Göttern also, die sie gar nicht kennen konnten. Gibt es wohl einen stärkeren Beweis nicht nur für Duldsamkeit gegenüber allen Völkern, sondern auch für Respekt vor deren Glauben?
Ein Mann lauteren Sinnes, weder der Vernunft noch der Bildung noch der Redlichkeit noch dem Vaterlande feind, hat kürzlich die Bartholomäusnacht gerechtfertigt. Hierzu führte er den Krieg der Phokier gegen die Spartaner an, [44]genannt der Heilige Krieg. Als wäre dieser Krieg wegen der Religion, wegen eines Dogmas, wegen theologischer Argumente entfacht worden! Es ging einzig darum, wer ein bestimmtes Stück Land bekommen sollte; das Motiv steht eigentlich hinter allen Kriegen. Getreidegarben sind aber keine Glaubensbekenntnisse; um Meinungen willen hat nie eine griechische Stadt zu den Waffen gegriffen. Was übrigens möchte der bescheidene und sanftmütige Mann eigentlich? Will er etwa, dass wir selbst einen Heiligen Krieg beginnen?
[45]Kapitel VIII
Waren die Römer tolerant?
Bei den alten Römern finden wir, von Romulus bis zu der Zeit, da die Christen sich mit den Priestern des Imperiums stritten, nicht einen einzigen Menschen, der wegen seiner Haltung in Religionsdingen verfolgt worden wäre. Cicero zweifelte an allem; Lukrez leugnete alles, und sie ernteten nicht den geringsten Vorwurf. Die Freizügigkeit ging so weit, dass Plinius der Ältere sein Buch damit beginnen durfte, die Existenz eines Gottes zu verneinen; wenn es doch einen gebe, schrieb er, dann sei es die Sonne. Cicero sagt über die Hölle: Non est anus tam excors quae credat – »Nicht einmal ein altes Weib ist so dumm, daran zu glauben«. Juvenal sagt: Nec pueri credunt – »Selbst die Kinder glauben nicht daran« (Satiren II, Vers 152). Man sang auf dem römischen Theater: Post mortem nihil est, ipsaque mors nihil – »Nach dem Tode ist nichts mehr, und der Tod selbst ist nichts« (Seneca, Die Troerinnen, Chor am Schluss des Zweiten Aktes). Solche Sätze müssen wir verabscheuen; wir können uns allenfalls bereitfinden, sie einem Volke zu vergeben, das die Evangelien noch nicht erleuchtet hatten. Sie sind falsch; sie sind unfromm; aber wir müssen auch den Schluss ziehen, dass die Römer sehr tolerant waren; denn solche Sätze erregten nicht das geringste Murren.
Das große Prinzip des römischen Senates und Volkes lautete: Deorum offensae diis curae – »Den Göttern allein obliegt es, sich um die Beleidigungen zu kümmern, mit denen die Götter überzogen wurden«. Dieses königliche Volk trachtete nur danach, die Welt zu erobern, zu regieren und [46]zu zivilisieren. Sie haben uns ihre Gesetze auferlegt, und sie haben uns besiegt; aber nie wollte Cäsar, der uns Ketten, Gesetze und Spiele gab, uns zwingen, seinetwegen unsere Druiden zu verlassen, obwohl er der große Oberpriester der Nation war, die über uns herrschte.
Bei den Römern waren nicht alle Religionen im öffentlichen Raum vertreten; sie gaben nicht allen die entsprechende Approbation, aber sie erlaubten sie alle. Unter Numa besaßen sie noch keinen materiellen Gegenstand zur Anbetung, keine Bilder, keine Statuen. Später schufen sie welche den diis majorum gentium – den Göttern höheren Ranges, die sie von den Griechen übernahmen. Der Satz im Zwölftafelgesetz Deos peregrinos ne colunto – »Fremde Götter bete man nicht an« – beschränkte sich darauf zu bestimmen, dass öffentlich nur jene höheren Gottheiten verehrt werden durften, die der Senat anerkannt hatte. Für Isis gab es einen Tempel in Rom, bis Tiberius dessen Abriss befahl – als die Priester dieses Tempels, die sich vom Geld des Mundus hatten bestechen lassen, ihn unter dem Namen des Gottes Anubis in dem Tempel mit einer Frau namens Paulina schlafen ließen. Freilich berichtet diese Geschichte nur Josephus; der aber war kein Zeitzeuge, er war leichtgläubig und neigte zu Übertreibungen. Es ist wenig wahrscheinlich, dass in einer Zeit, die so aufgeklärt war wie die unter Tiberius, eine Frau höchsten Standes einfältig genug gewesen wäre zu glauben, der Gott Anubis wolle ihr eine gewisse Gunst erweisen.
Aber einerlei, ob diese Anekdote nun wahr oder falsch ist – fest steht jedenfalls, dass der ägyptische Aberglaube sich einen Tempel erbaut hatte, und zwar mit öffentlichem Einverständnis. Die Juden trieben in der Stadt Handel seit [47]den Punischen Kriegen; sie hatten dort seit den Zeiten des Augustus Synagogen, und sie behielten sie fast immer, wie im heutigen Rom. Kann es ein