Hypnosystemische Therapie bei Depression und Burnout. Ortwin MeissЧитать онлайн книгу.
nenne diese Phänomene absichtlich nicht »Depression«, denn aus hypnosystemischer Sicht stellt dieser Begriff keine Wahrheit dar, sondern eine aus ihren relevanten Kontexten gerissene Verdinglichung. Sie wirkt sehr oft als eine Realitätskonstruktion, die suggestiv den Eindruck erwecken kann, Betroffene seien immer so, sie »hätten« eine Depression (wie einen Gegenstand oder wie eine genetische »Eigenschaft«, z. B. eine grüne Augenfarbe). Alle Erfahrungsmuster, Erlebnisepisoden, in denen jemand auch anderes erlebt, eher hilfreiche Prozesse etwa, werden dann aus dem Fokus der Wahrnehmung ausgeblendet. Nun kann aber als gesichertes Wissen aus der Neurobiologie, der Hypnotherapie und der hypnosystemischen Arbeit angesehen werden, dass jedes Erleben das Ergebnis von Prozessen der Aufmerksamkeitsfokussierung ist. Erleben steht also nie konstant fest, sondern wird im wortwörtlichen Sinn immer wieder aktuell neu erzeugt, nicht nur bewusst-willentlich, sondern auch auf unwillkürlicher, oft auch unbewusster Ebene. Diese Ebene des Erlebens wirkt besonders stark und schnell. Daraus ergibt sich für mich die ethische Pflicht, alle Kommunikationsprozesse im Umgang mit Betroffenen wie auch untereinander in der »professional community« so zu gestalten, dass jedes möglicherweise hilfreiche Erfahrungspotenzial der leidenden Menschen, jede ihrer denkbaren (auch »schlummernden«) Kompetenzen intensiv in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt wird. So können viele Kompetenzen, die den Betroffenen überhaupt nicht mehr bewusst sind, die aber in ihrem unbewussten »Erfahrungsrepertoire« noch gespeichert sind, wieder aktiviert werden.
In der therapeutischen Kooperation mit Hunderten von Klienten, die von Psychiatern oder Psychotherapeuten nach den üblichen ICD-10-Kriterien als »schwer depressiv« definiert worden waren und nicht selten als »austherapiert« (ein fürchterlicher Begriff) galten, habe ich erleben können, dass bei systematischer und konzentrierter Befragung und Fokussierung praktisch alle Kompetenzen, die jemand für hilfreiche Entwicklungen braucht, in seinem Erlebnisrepertoire zu finden sind und auch reaktiviert werden können. Die Annahme, dass »schwere Depressionen« Ausdruck grundlegender Defizite und eines Mangels an Kompetenzen seien, können wir als klar widerlegt ansehen. So gesehen »ist« auch niemand nur »depressiv« oder »hat einen Burnout«. Wenn jemand an den entsprechenden Prozessen leidet, kann dies verstanden werden als Ausdruck davon, dass die Person zurzeit intensiv assoziiert ist mit Prozessen, mit denen sie sich auf unwillkürlicher Ebene selbst niederdrückt. Stephen Gilligan und ich haben Anfang der 1980er Jahre vorgeschlagen, Symptome wie »Depressionen« als Ausdruck unbewusst selbst induzierter »Problemtrance« zu verstehen. Denn im modernen Verständnis von Hypnotherapie wird Trance qualitativ als Erleben verstanden, bei dem Unwillkürliches vorherrscht. Gewünschte, als zieldienlich angesehene Trance ist charakterisiert durch gewünschte unwillkürliche Prozesse (»Lösungstrance«). Symptome und »psychische oder psychosomatische Störungen« sind Ausdruck ungewünschter unwillkürlicher Prozesse. Wenn man mit Klienten systematisch rekonstruiert, wie solche ungewünschten unwillkürlichen Prozesse zustande kommen (eine wichtige Standardintervention hypnosystemischer Arbeit), lässt sich zeigen, dass diese unbewusst auf unwillkürliche Art selbst induziert worden sind, also letztlich Ergebnis einer wirksamen Selbsthypnose sind – leider verbunden mit viel Leid. Was aber so (man kann durchaus sagen: sehr erfolgreich und wirksam) selbst gestaltet wurde, kann auch wieder selbst in konstruktiver Weise umgestaltet werden.
Dieses Buch illustriert in vielen Facetten, wie den Betroffenen diese Art des Verständnisses auf achtungsvolle und empathische Weise zu vermitteln ist und wie ihnen ermutigende und effektive Vorgehensweisen angeboten werden können, die sie wieder erleben lassen, dass sie Gutes für sich tun können. Sie werden dabei die Erfahrung machen, dass sie quasi »von sich selbst und von ihrer wertvollen, bisher unbewussten Kompetenz lernen«. So können Selbstachtung, Würde und das Erleben von Selbstwirksamkeit intensiv gestärkt werden. Schon deshalb stellt das Buch eine herausragende Perle im Felde der Arbeiten zu Depression dar und kommt zur rechten Zeit.
Puristen der eher »klassischen« systemischen Therapiekonzepte mögen zu diesem Buch kritisch anmerken, der »systemische« Teil sei im Vergleich zu den beschriebenen hypnotherapeutischen Interventionen relativ schmal. Dies hätte aus meiner Sicht nur Bestand, wenn man »systemisch« einseitig auf die Arbeit mit interaktionellen Systemen bezöge. Auch die wird hier aber in vielen Variationen sehr anschaulich und praxisrelevant beschrieben. Ortwin Meiss geht zudem von einem erweiterten, umfassenderen Systembegriff aus, der auch die Dynamik der internalen Systeme mit erfasst. Dies freut mich besonders. Ich hatte das Glück, Teil der sogenannten »Heidelberger Gruppe« um Helm Stierlin zu sein, die – unterstützt und angeregt von der Mailänder Gruppe – den systemischen Ansatz im deutschsprachigen Raum bekannt gemacht hat. Aber schon seit meinen direkten Lernerfahrungen bei Milton Erickson 1980 und in den Jahren danach war es mir ein zentrales Anliegen, den Fokus der systemischen Arbeit nicht nur auf die interaktionellen Wechselwirkungen auszurichten, sondern diese Perspektive zu ergänzen um die systematische Arbeit mit den inneren Systemen (wobei immer die gleiche Herangehensweise beachtet wird, nämlich das Denken in zirkulären Mustern auf allen Systemebenen). Dies hat mich auch am meisten dazu veranlasst, den hypnosystemischen Integrationsansatz zu entwickeln. Ortwin Meiss zeigt sehr konsequent und anschaulich, wie man mit den inneren Systemen sehr effektiv arbeiten und dabei die interaktionellen Wechselwirkungen sehr wohl konstruktiv beachten kann. So berücksichtigt er eindrücklich auch die Interaktionen zwischen Therapeuten und Klienten, die oft mit dem Angebot depressiver Symptome einhergehen. Ich bin sicher, dass die entsprechenden Beispiele im Buch vielen Therapeuten helfen werden, besser zu beachten, wie und wie schnell man als Therapeut in eine gemeinsame »Problemtrance« geraten kann. Deshalb finde ich, dass der Titel des Buchs auch im Hinblick auf seinen systemischen Anteil sehr angemessen ist.
Eine etwas wehmütige Bemerkung möchte ich in diesem Zusammenhang aber auch machen. Ortwin Meiss formuliert an einer Stelle: »Die Hypnotherapie betrachtet eine psychische Störung als eine aktive Leistung des Individuums«, ganz im Sinne dessen, was ich gerade dargelegt habe. Die Dynamik, die zur Entwicklung von Depressionen beiträgt, beschreibt er dabei sehr differenziert und treffend, aber eben erfreulicherweise nicht als Ausdruck von Inkompetenz und Defizit, sondern als selbstwirksam erbrachte Leistung (die natürlich – siehe oben – nicht absichtlich-bewusst, sondern unbewusst-unwillkürlich gestaltet wird).
Dass der Autor unser Berufsfeld so optimistisch sieht, finde ich wunderbar. Ich wünschte mir sehr, dass er mit dieser Aussage Recht hätte. Aber als ich vor einigen Jahren einen Artikel zum hypnosystemischen Verständnis und der Therapie von Depressionen veröffentlichte, in dem ich genau diese Perspektive (Depression als aktive selbsthypnotische Leistung der Klienten) als Basis einbrachte, bekam ich von einem Teil des Herausgebergremiums die Rückmeldung, das sei eine oberflächliche, schönfärberische Verzerrung der schweren Pathologie und der Defizite der Klienten und widerspreche klinischen Erfahrungen. Und dies, obwohl ich in dem Artikel viele klinische Beispiele aus unserer Arbeit beschrieben hatte.
Leider erlebe ich auch im Feld der Hypnotherapie – durchaus auch bei manchen Ericksonianern (da tut es mir besonders weh) –, dass verdinglichende Konzepte wie etwa »Die Klientin ist depressiv« noch immer wie selbstverständlich verwendet werden. Dem entsprechend werden die Symptome doch noch vor allem als Defizit gesehen, das es »wegzumachen« gilt, zum Beispiel durch kreative Trance-Induktionen, EMDR usw. Es wird dann zwar vorgeschlagen, man solle die Symptome mit strategischen Reframings usw. utilisieren, aber eine Defizit-Sichtweise bleibt erhalten, und die »psychische Störung« wird eben nicht als aktive Leistung gesehen und behandelt. Sieht man sie dagegen als Leistung, wird auch schnell verständlich, dass man mit Fragen vom Typ »Wie könnten Sie die Depression verstärken?« die Selbstwirksamkeit erhöhen kann.
Ich habe leider schon des Öfteren beobachten müssen, dass Therapeuten solche Strategien als Technik ohne Mitgefühl angewendet haben. Das kann katastrophal entwertend wirken, Klienten können dies als zynisch wirkenden Vorwurf erleben. Ortwin Meiss zeigt dagegen in berührender Art und Weise, wie man so achtungsvoll und behutsam vorgehen kann, dass es würdigend und ermutigend ankommt und Menschen in ihrer Autonomie und ihrem Selbstverständnis von Kompetenz sehr wirksam unterstützt.
Bewertet man die Symptomentwicklung als Leistung, kann sofort gefragt werden: Als Leistung wofür? Damit können wir den Fokus auf die Bedürfnisse ausrichten, für die die Symptome auf unbewusster Ebene unwillkürlich »produziert« werden, und dann können die Symptome endlich in ganzheitlich würdigender Weise utilisiert werden als das, was ich gerne