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Revolutionen auf dem Rasen. Jonathan WilsonЧитать онлайн книгу.

Revolutionen auf dem Rasen - Jonathan Wilson


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von dem Chaos und der Körperbetontheit des damaligen Spiels. „Es wird von Leuten mit kräftigen Muskeln und starken Beinen gespielt – ein Schwächling wäre in solch einem Gewühl nur Zuschauer“, schrieb der Reporter amüsiert und missbilligend zugleich.

      Erst in den 1890er Jahren wurde Fußball allmählich besser organisiert. Wie in so vielen Ländern spielten die Briten dabei eine entscheidende Rolle, zunächst in Sankt Petersburg und später in Moskau. So gründete Harry Charnock, Generaldirektor der Morosow-Textilfabrik, jenen Verein, aus dem später Dynamo Moskau entstehen sollte. Er hoffte, damit seine Arbeiter vom Wodkatrinken abhalten zu können. Auf dem Höhepunkt sowjetischer Mythenbildung hieß es, dass Dynamo Moskau als Vereinsfarben Blau und Weiß gewählt habe, um jene beiden Elemente zu symbolisieren, ohne die der Mensch nicht leben kann: Wasser und Luft. Tatsache ist aber, dass Charnock, der aus Blackburn stammte, sein Team einfach in den Farben seines Lieblingsklubs, der Blackburn Rovers, kleidete.

      Die weiter westlich gelegenen Regionen wurden naturgemäß stärker von Mitteleuropa beeinflusst. Als in Lemberg im Rahmen einer Sportartenvorführung des Sportklubs Sokol 1894 das erste Fußballspiel auf heute ukrainischem Boden stattfand, gehörte die Stadt noch zu Österreich-Ungarn.

      Die Briten waren längst verschwunden, als 1936 eine nationale Liga geschaffen wurde. Bereits 1908 hatte die Dominanz der Ausländer ein Ende gefunden, als die russische Mannschaft von Sport den Aspeden-Pokal, die Stadtmeisterschaft von Sankt Petersburg, gewann. Die frühe Form des 2-3-5 war auch nach der Änderung der Abseitsregel im Jahr 1925 vorerst die Standardformation geblieben. Da die UdSSR aufgrund der FIFASanktionen fast nur gegen ausländische Amateurmannschaften spielen konnte, fiel zunächst nicht auf, wie groß der Rückstand der Sowjets war.

      Das änderte sich 1937. Die Einführung einer nationalen Liga hätte vielleicht ohnehin dazu geführt, das Spiel analytischer anzugehen. Eigentlicher Auslöser dieser neuen Entwicklung aber war eine baskische Auswahl, die auf einer Welttournee auf die Situation der Basken im spanischen Bürgerkrieg aufmerksam machen wollte und deren erste Station die Sowjetunion war.

      Spiele gegen ausländische Mannschaften waren selten und deshalb heiß begehrt. 1937 herrschte zudem eine besondere Fußballbegeisterung, da ein Jahr zuvor Semjon Timoschenkos äußerst beliebtes Singspiel Wratar („Der Torwart“) in die Kinos gekommen war. Darin wird ein kleiner Arbeiterjunge – dargestellt vom Starschauspieler Grigori Pluschnik – für das Spiel seiner Ortsauswahl gegen eine auf Tournee befindliche Mannschaft nominiert, nachdem jemand beobachtet hatte, wie er eine von einem Karren fallende Wassermelone auffing. Nach einer Reihe von Glanzparaden rennt der Held in der letzten Minute schließlich über den ganzen Platz und schießt das entscheidende Tor. Das bekannteste Lied des Films bläut allen das offensichtliche politische Gleichnis ein: „He, Torwart, mach dich auf den Kampf gefasst. / Du bist ein Wächter in dem Tor. / Stell dir vor, es liegt eine Grenze hinter dir.“

      Die echte Tourneemannschaft allerdings, die mit sechs Spielern des spanischen WM-Teams von 1934 gekommen war, entpuppte sich nicht gerade als Bauernopfer für die sowjetische Propaganda. Sie setzte auf ein W-M-System und überrollte in ihrem ersten Spiel Lokomotive Moskau mit 5:1. Danach kassierte Dynamo eine 1:2-Niederlage. Einem 2:2-Unentschieden gegen eine Leningrader Auswahl folgte die Rückkehr nach Moskau und ein 7:4-Sieg gegen eine vom Dynamo-Zentralrat zusammengestellte Truppe. Bei ihrem letzten Spiel in Russland trafen die Basken auf den amtierenden Meister Spartak Moskau. Nikolai Starostin, der Chef des Trainerstabes von Spartak, war entschlossen, der Schmach ein Ende zu setzen. Daher berief er eine Reihe von Spielern anderer Vereine, darunter auch die Stürmer Wiktor Schilowski und Konstantin Schtschehozki von Dynamo Kiew. Beide waren 1935 in Paris beim 6:1 Sieg einer Kiewer Auswahl gegen Red Star Olympic de Paris dabei gewesen – einem jener seltenen Spiele gegen eine Profimannschaft.

      Starostin entschied, auf das System der Basken zu reagieren. Infolgedessen verwandelte er seinen Mittelläufer in einen dritten Verteidiger, um den Einfluss des baskischen Mittelstürmers Isidro Lángara auf das Spiel einzudämmen. Wie Starostin in seinem Buch Zvyozdy Bol’shogo Futbola („Anfänge des Fußballs auf höchstem Niveau“) notierte, machte er sich mit dieser Entscheidung nicht gerade beliebt. Sein vehementester Gegner war der Mittelläufer selbst, sein Bruder Andrej. „‚Willst du, dass ich in der ganzen Sowjetunion berüchtigt werde?‘, fragte er. ‚Du verweigerst mir den Raum zum Atmen! Wer soll den Angriff unterstützen? Du zerstörst die Taktik, die seit Jahren funktioniert hat.‘“ Spartak hatte jedoch schon früher mit einem dritten Verteidiger experimentiert. So war man einige Jahre zuvor auf einer Tour durch Norwegen aufgrund von Verletzungen gezwungen gewesen, das standardmäßige 2-3-5 aufzugeben. „Spartak spielte eine defensive Variante des W-M-Systems, indem die beiden Verteidiger durch einen mittleren Abwehrspieler verstärkt wurden“, berichtete Alexander Starostin, ein weiterer Bruder Nikolais. „Wenn nötig, zogen sich die beiden Halbstürmer zurück.“ Da man von den Möglichkeiten dieses Systems beeindruckt war, setzte man das Experiment in der Vorbereitung auf die Frühjahrsserie der Saison 1936 für kurze Zeit fort. „Eine 2:5-Niederlage in einem Freundschaftsspiel gegen Dynamo [Moskau] bedeutete jedoch das Ende dieses mutigen, aber im Lande unpopulären Versuchs“, sagte Nikolai Starostin. „Nun wollte man es in einem Freundschaftsspiel – gleichzeitig jedoch eminent wichtigen internationalen Vergleich – noch einmal wagen. Das war ganz schön riskant.“

      Und das nicht nur aus sportlicher Sicht. Die Parteiführung maß dem Spiel eine solche Bedeutung bei, dass während der Vorbereitung der Vorsitzende des Ausschusses für Körperkultur, Iwan Chartschenko, der Vorsitzende der kommunistischen Jugendorganisation Komsomol, Alexander Kosarew, sowie eine Reihe weiterer Parteifunktionäre in Spartaks Trainingslager in Tarasowka übernachteten. „Spartak war die letzte Hoffnung“, schrieb Nikolai Starostin in seiner Autobiografie Futbol skovz’ gody („Fußball in all den Jahren“). „Es war der Teufel los! In Briefen, Telegrammen und Anrufen wurden uns Ratschläge gegeben und viel Glück gewünscht. Ich wurde vor diverse hohe Tiere zitiert, die mir zu verstehen gaben, dass das ganze Land auf unseren Sieg wartete.“

      Der Tag begann alles andere als gut. Spartak saß in einem Verkehrsstau fest, und der Anpfiff musste verschoben werden. In der ersten Halbzeit ging Spartak zweimal in Führung, doch konnten die Basken beide Male sofort wieder ausgleichen. Nachdem Schilowski in der 57. Minute einen umstrittenen Strafstoß versenkt hatte, gab es jedoch kein Halten mehr. Wladimir Stepanow traf beim 6:2-Erfolg dreimal. Nikolai Starostin behauptete später, die Leistung seines Bruders Andrej, der in ungewohnter Rolle spielte, sei „brillant“ gewesen. Die Zeitungen und Torhüter Anatoli Akimow sahen das allerdings anders und verwiesen darauf, dass der gegnerische Mittelstürmer Lángara ihm in der Luft überlegen gewesen sei und eines der Tore für die Basken erzielt hatte.

      Die Niederlage erwies sich als einmaliger Ausrutscher der Basken. Im weiteren Verlauf der Tournee schlugen sie noch Dynamo Kiew, Dynamo Tiflis und eine Auswahl Georgiens. In einem daraufhin veröffentlichten Artikel schäumte die Prawda vor Wut. Unter der Überschrift „Sowjetische Spieler sollten unbesiegbar werden“ war dort zu lesen: „Die Leistungen des Baskenlandes in der UdSSR haben gezeigt, dass unsere besten Mannschaften von hoher Qualität weit entfernt sind. … Die Defizite des sowjetischen Fußballs sind vor allem deshalb nicht tolerierbar, weil es in keinem anderen Land junge Menschen wie die unseren gibt: junge Menschen, die von Partei und Regierung mit Fürsorge, Aufmerksamkeit und Liebe überschüttet werden.“

      Weniger pathetisch hieß es weiter: „Um die Qualität unserer sowjetischen Mannschaften zu steigern, sind Spiele gegen ernsthafte Gegner unabdingbar. So haben unsere Spieler von den Begegnungen gegen die Basken in erheblichem Maße profitiert (lange Pässe, Flügelspiel, Kopfbälle).“

      Vier Tage darauf besiegten die Basken in ihrem letzten Spiel auf sowjetischem Boden eine Elf aus Minsk mit 6:1. Der sowjetische Fußball sollte aus diesen Niederlagen seine Lehren ziehen. Es dauerte zwar noch, bis die Rufe nach einer vermehrten Beteiligung am internationalen Sport auch Gehör fanden. Nichtsdestotrotz hatte man erkannt, dass das W-M-System eine Reihe faszinierender Möglichkeiten bot.

      Der Mann, der sich am intensivsten mit diesem System auseinandersetzte, war Boris Arkadiew. Er machte sich einen Namen als erster großer sowjetischer Fußballtheoretiker. Sein 1946 erschienenes Buch über Fußballtaktik war viele Jahre lang die Bibel


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