Elfenzeit 6: Zeiterbe. Uschi ZietschЧитать онлайн книгу.
mehrere Stunden, doch kurz bevor Pirx soweit war, die Sache abzublasen und sich etwas Essbares zu besorgen, sah er einen alten Tattergreis auf einem Wagen den Weg in ihre Richtung einschlagen.
»Vielleicht will er ins nächste Dorf«, meckerte Pirx, als der Grogoch ihn anschob, um an dem Gefährt dran zu bleiben.
»Schau doch, was er geladen hat«, hielt Grog dagegen. »Sieht aus, als wäre es für ein Picknick bestimmt, nur eben ein wirklich großes.«
Tatsächlich hatte der Alte Essen, Bier und Decken womöglich für ein ganzes Heerlager dabei. Pirx nahm seine Beinchen in die Hand, um zusammen mit dem schwerfälligen, aber nicht minderschnellen Grogoch die Verfolgung aufzunehmen.
»Irgendwann wird er auf die Wiese abbiegen«, prophezeite Grog. Und genauso kam es.
Ungefähr auf der gleichen Höhe wie zuvor, als sie den Jungen in den Feldern verloren hatten, lenkte der Fuhrmann sein Pferd von der Straße und auf die Wiese.
Der bis zum Bersten beladene Karren schwankte gefährlich bei der Aktion und Pirx musste einem Fässchen ausweichen, das sich aus der Seilverankerung gelöst hatte, über ein paar Kisten abwärts rollte und dann – durch einen letzten Schlag – in hohem Bogen auf die unsichtbaren Verfolger zuflog.
Mit hörbarem Krachen kam das Fässchen auf dem Boden auf, polterte gegen einen der zahlreichen Findlinge zwischen den Grashalmen und zerbarst. Roter Wein spritzte in alle Richtungen und besudelte Pirx.
»Pass doch auf, du Holzkopf!«, schimpfte der Pixie und hielt sich sofort den Mund zu.
»Kssssssh«, machte der Grogoch. »Du verrätst uns ja!«
Zu spät, zu spät. Doch die Kobolde schienen unverschämtes Glück zu haben, denn der Alte auf dem Kutschbock rührte sich nicht, blickte nicht zurück und machte auch sonst nicht den Eindruck, als hätte er etwas gehört. Nicht einmal das berstende Fässchen.
Pirx war beinahe froh darüber, dass die Dunkle Königin so gut darin war, den Menschen die Köpfe zu verdrehen und die Sinne zu rauben. Aber nur beinahe, denn er wusste, dass so etwas bei Bandorchu selten ohne Qual vonstattenging. Alles, was sie anfasste, hatte früher oder später Schmerzen zu erleiden.
Bei dem Gedanken erschauderte Pirx und hätte um ein Haar erneut den Augenblick verpasst, als der Alte samt Karren mir nichts dir nichts direkt vor seiner Nase verschwand.
»Potztausend«, murmelte der Grogoch.
Zusammen liefen sie zu der Stelle, zogen sicherheitshalber mit den Füßen ein paar Markierungen in den Boden und begannen dann, das vermeintliche Nichts mit Händen und allen zur Verfügung stehenden Sinnen abzutasten.
»Ich glaub, ich spür da was«, sagte Grog und sah aus, als würde er ein riesiges unsichtbares Ei begrabschen. »Knifflige Sache. Ganz knifflige Sache.«
Pirx gesellte sich zu ihm. Doch er musste sich mächtig anstrengen, um endlich ebenfalls den Strom der Energie ertasten zu können, der hier wie eine Fontäne aus der Erde zu kommen schien, um sich dann über dem Land als gigantischer Fächer auszubreiten.
»Sie zapft die Ley-Linien an«, bestätigte er nach genauerer Untersuchung. »Direkt aus dem Boden. Das muss ein mächtiger Strang sein. Oder sogar mehrere, die an einem Ort zusammenfließen.«
Grog nickte andächtig. »Klug von ihr. Sie hat sich ein Energiezentrum als neue Heimat ausgesucht.«
»Bestimmt ne alte Kultstätte! Eine dieser Steinwälle oder Hügelgräber, die es hier überall gibt. Megalithenzeug und sowas«, mutmaßte Pirx.
»Die Frage ist, wie wir da jetzt reinkommen«, brachte Grog das Problem auf den Punkt.
Ein Thema, auf das Pirx keine Antwort hatte. Noch nicht. Aber jetzt, da sie Bandorchu erneut auf der Spur waren, würden sie einen Weg durch die magische Barriere finden. Kostete es, was es wollte!
10.
Die letzte Drohung
London – Samstag, 27. April 1715
Edmond Halley hastete, den Brief seiner Vermieterin in Händen haltend, nach Hause. Die Nachricht klang dringlich und Edmond schwante Übles.
Hatte man sie an seiner statt überfallen? War man in seine Wohnung eingebrochen und hatte sie verwüstet? Seine Unterlagen zerstört oder gestohlen? Hatten die Eindringlinge vielleicht sogar seinen Notgroschen entdeckt, den er unter einer lockeren Bodendiele versteckt hatte? Er musste sich beeilen und nachsehen.
Im Laufschritt schaffte Edmond es bis zur Abzweigung der Dartmouth Street. Von hier aus konnte er die eng aneinander geschmiegten Häuser bereits sehen.
Mistress Delainy legte keinerlei Wert auf Prunk. Nur auf Sauberkeit und Ruhe. Die Menschentraube, die sich am Eingang versammelt hatte, versprach daher zweierlei: Eine unschöne Geschichte und eine übellaunige Vermieterin noch dazu. Hauptsache, dass es ihr gut ging.
Edmond holte Atem, straffte sich und trabte das letzte Stück in möglichst angemessener Haltung. Im Grunde lief ein Gentleman nicht. Niemals. Nicht einmal, wenn es um seine Forschung ging. Aber Edmonds Sorge war zu groß. Die Regularien der Royal Society waren in vielerlei Hinsicht alt und verstaubt. Das hatte er bereits mehrfach aufgrund seines vergleichsweise modernen Forschungsfeldes zu spüren bekommen.
Als hätten die Alteingesessenen Honoratioren Angst, die Weltordnung könnte einstürzen, wenn man Anstandsregeln und wissenschaftliche Konzepte auch einmal in Frage stellte oder erweitern wollte. Dabei war dies doch der Kern allen Strebens und Lernens! Sich ewiglich neu zu entdecken, neu zu erfinden und Dinge in Zusammenhänge zu bringen, die vorher undenkbar erschienen waren.
»Da sind Sie ja!«, begrüßte Mistress Delainy ihn mit schreckensbleicher Miene und zum Himmel gereckten Armen. Sie war eindeutig am Leben.
»Ihr Bote hat mich gerade erst erreicht«, entschuldigte sich Edmond und hob, der Etikette folgend, den Hut zu einem knappen Gruß, bevor er sie nach dem Grund der Nachricht fragte.
»Sehen Sie selbst«, sagte Mistress Delainy und deutete in einer übertrieben theatralischen Geste zur Eingangstür, während sie die andere Hand mit einem ebenso meisterlich inszenierten Stöhnen an die Stirn legte.
Edmond kannte seine Vermieterin gut genug, um zu erkennen, dass sie durchaus echauffiert, aber gewiss nicht völlig außer sich war. Für gewöhnlich beschränkten sich ernsthaft schockierte Menschen darauf, nur noch zu schreien, statt einen Auftritt wie fürs Theater hinzulegen.
Ein leichtes Schmunzeln auf den Lippen folgte Edmond dem Fingerzeig. Doch seine Miene gefror, als er erkannte, um was es ging.
Das, was alle anderen Schaulustigen mit vorgehaltener Hand anstarrten, und was der Parish Constable mit seinen Leuten akribisch untersuchte, war eine Katze. Eine tote, schwarze Katze, die jemand wie eine Trophäe an die Tür genagelt hatte.
Edmond musste nicht lange überlegen, wer so etwas Grauenvolles getan haben konnte. Oder warum. Erst der Drohbrief. Dann der Mann, der ihn verfolgt hatte. Und nun die Katze – schlechtes Omen, Teufelsbotin und Wiedergängerin zwischen den Welten des Diesseits und Jenseits. Die Anhänger von Blut und Wasser Christi wollten überdeutlich seinen Tod. Und bewiesen mit dieser Gräueltat, dass es auch für ihn nicht nur eine leere Drohung bleiben würde, wenn er weiter in London bleiben und die Sonnenfinsternis nicht widerrufen würde.
Glaube rührte in den Herzen der Menschen so viel mehr an als die Logik. Der kühle Kopf schien dem wütenden Herz im Zweifelsfall haushoch unterlegen. Gefühle beschworen unkontrollierbares Verhalten herauf. Chaos war einer der wenigen Mechanismen, die die Ordnung in der Welt mit einem einzigen Wimpernschlag zu Fall bringen konnten. Weil Angst mächtiger war als der Verstand. Das hatte die Geschichte bereits mehrfach bewiesen.
Edmond starrte das arme Tier an. Das Fell räudig und zerzaust. Das Maul im Todeskampf aufgerissen und erstarrt. Die Zunge hing schlaff zur Seite heraus. Auf dem Boden hatten sich kleine Blutlachen unter den in den Leib gerammten Nägeln gebildet. Doch sie waren dunkel verfärbt und angetrocknet. Der Kadaver war bereits steif. Die Totenstarre war ein