Elfenzeit 6: Zeiterbe. Uschi ZietschЧитать онлайн книгу.
Gemeinsam kamen sie der Aufforderung nach. Nimue führte sie durch eine weitere Tür in einen schmalen gemauerten Gang, der nach wenigen Metern in eine Treppe mündete. Sie führte bergab. Endlose Stufen wanderten sie tiefer und tiefer. Alle zehn Schritte flammte ein magisches Licht auf, sobald sie sich der kelchförmigen Einfassung näherten. Doch der Abstieg wollte nicht enden. Weiter und weiter wanderten sie die Treppe hinab. Immer geradeaus, ohne ein Ende zu sehen. Nichts als Schwärze vor sich.
David kamen die Legenden und Geschichten, die es über diesen Ort gab, in den Sinn. Dass für Besucher draußen Jahre vergangen waren, während sie selbst glaubten, nur eine Nacht im Schloss verbracht zu haben. Bisher hatte das nur für Menschen gegolten – war das ein Irrtum? Wie lange waren sie schon hier? Wie lange liefern sie bereits Stufe um Stufe hinab?
Sein Magen krampfte sich zusammen. Was, wenn er alles verpasste? Wenn Nadja nicht nur für Tage oder Wochen, sondern für Monate oder gar Jahre in den Fängen des Getreuen blieb? Wenn sie ihr Kind gebar, ohne dass er bei ihr sein konnte?
Jeder weitere Schritt geriet zur Qual. Und gerade, als David glaubte, seine Panik hinausschreien zu müssen, sah er ein Licht am Ende der Treppe. Und ein Ende. Kunstvolle Mosaike umrahmten die hölzerne Pforte. Durch ein kleines Fenster in der Tür fiel Licht in den Gang.
Nimue vollführte eine knappe Handbewegung, um das magische Schloss zu öffnen. Als die Tür aufschwang, mussten David und Rian ihre Augen mit der Hand abschirmen, so weiß und strahlend hell war das Innere des Raums.
David sah sich blinzelnd um. Freistehende Säulen ragten in einen unerreichbar hohen Himmel. So wirkte es zumindest, auch wenn der Prinz nicht den Eindruck hatte, dass sie das Gebäude verlassen hatten. Das grelle Leuchten machte es unmöglich, die Maße des Raums abzuschätzen. Dort, wo die Wände sein mochten, erfassten Davids Augen nichts weiter als endloses Weiß.
Es gab keine Lampen und auch keine Einrichtung. Nur eine Liege in der Mitte. Auf ihr war ein ätherisches Wesen gebettet. Langes, weißblondes Haar, das wie feine Silberfäden wirkte und in seidigem Glanz über die Bettkante hinabwallte. Eine Decke umhüllte den Körper bis hinauf zum Kinn.
Rian war die Erste, die sich aus der Erstarrung löste und zögernd auf das Mädchen zuging. David folgte ihr wie hypnotisiert. Dieses Wesen war weder Mensch noch Fee noch etwas Vergleichbares, das er je erblickt hatte. So zart und zerbrechlich, wie aus Licht geformt und in einen Körper aus Glas gegossen.
»Dies ist Eloise«, sagte Nimue. Sie ging zum Kopfende der Liege, strich ihrer Tochter einige Haarsträhnen aus dem Gesicht und küsste ihre Stirn. »Das Kostbarste, was es geben kann.«
»Was ist sie?«, fragte Rian so leise, dass David sie kaum verstand.
»Sie ist das Geschenk purer Liebe«, antwortete die Herrin vom See. »Und sie ist Merlins Kind.«
David klappte der Kiefer nach unten. Noch nie hatte er gehört, dass Nimue und Merlin ein Kind gezeugt hatten. Und dazu noch eines, das nach all der Zeit immer noch lebte und aussah, als wäre es kaum älter als sechzehn.
Natürlich erbte ein Spross aus dem Schoß einer machtvollen Fee ebenfalls Feenkräfte. Das eine Mal mehr, das andere Mal weniger. Und bei einem Vater wie Merlin, dessen Herkunft unbekannt war, und von dem man nicht einmal wusste, ob er zu hundert Prozent ein Mensch war, mochte sich die Macht potenzieren. Aber nie hätte David sich vorstellen können, dass solch ein geradezu göttlich wirkendes Wesen aus dieser Verbindung entstanden sein könnte.
Rian schien sich besser im Griff zu haben. Ihr Blick glitt zwar sichtlich bewundernd und staunend über das Antlitz des Geschöpfes, doch dann wandelte sich ihre Miene. Sie hielt die Hände über dem Körper und streckte ihre heilerischen Fühler aus. »Erzählt mir genau, was passiert ist.«
»Ich weiß es nicht zu sagen. Nicht mit Bestimmtheit«, erwiderte Nimue mit zittriger Stimme. Tränen standen in ihren Augen und rannen ihr in silbrigen Spuren die Wangen hinab.
»Es ist, als hätte sich die Welt verkehrt. Als wäre das, was ihr einstmals Kraft gespendet hat, nun wie Gift für sie«, versuchte sie es zu beschreiben.
»Ihr meint die Ley-Energie?«, hakte Rian mit sanfter Stimme nach.
Die Herrin vom See nickte. Tränen tropften auf das Tuch, zerliefen und bildeten flüchtige Schneeflockenmuster auf dem filigran gewebten Stoff.
David fing den Blick seiner Schwester auf und erblickte Ratlosigkeit. Wenn es so war, dass die Kraft der Ley-Linien für Eloise wegen der Besetzung zu Gift geworden waren, dann … war die Lage aussichtslos.
David sah es in den Augen seiner Schwester, dass sie dieselben Schlüsse gezogen hatte und nichts tun konnte. Diese Bitte war unmöglich zu erfüllen.
Trotzdem nahm seine Schwester sich Zeit, tastete die magische Aura ab, berührte mit Nimues Erlaubnis sogar Eloises Gesicht und ihren Körper. Rian versuchte einen Zauber, versuchte es mit Lebensenergie, Reinigungsmagie und Bannbrechern. Doch nichts davon zeigte Wirkung. Nichts davon half.
Schließlich gab sie auf, senkte den Kopf, zog ihre Hände zurück und trat einen Schritt zur Seite. David konnte sehen, wie schwer es seine Zwillingsschwester fiel, ihr Versagen auszusprechen.
»Verzeiht, Hohe Frau«, begann sie zögerlich und so leise, als würde ihr Herz zu Nimues Herz sprechen. »Ich weiß, Ihr habt Eure Hoffnung in mich gesetzt, doch ich vermag das Wunder nicht zu vollbringen, das bei Eurer Tochter nötig wäre.«
»Das ist zu viel von ihr verlangt!«, mischte sich David ein, als er den Schmerz seiner Schwester nicht mehr ertragen konnte. Er stürmte vor an ihre Seite und wappnete sich für das Donnerwetter, das nun unzweifelhaft auf so eine Respektlosigkeit folgen würde.
Doch überraschenderweise zeichnete sich ein Lächeln auf dem Gesicht der Herrin vom See ab. »Glaubt mir, ich habe bereits alles versucht, was es an Heilkraft auf dieser und jeder anderen Welt zu finden gibt.«
»Warum sind wir dann hier?« Diesmal war es Rian, die sprach, bevor David dieselbe Frage deutlich ruppiger gestellt hätte. »Die Blaue Dame sagte, meine Heilkünste würden gebraucht!«
»Ja, weil ihr mir und meiner Tochter auf andere Art helfen könnt«, sagte Nimue ernst. »Genau genommen, seid ihr beide die Einzigen, die diese Aufgabe übernehmen können. Einen allerletzten Versuch, um Eloise zu retten.«
Rian hob fragend die Brauen. »Aber wie?«
»Ihr müsst für mich auf eine weite Reise gehen, um etwas zu finden, das ich vor langer Zeit verloren und versteckt habe«, antwortete Nimue und in ihrer Stimme schwang eine ganze Heerschar an Gefühlen mit.
David schüttelte den Kopf. »Nein. Das geht nicht. Wir haben keine Zeit. Nicht jetzt. Nicht unter diesen Umständen. Nadja zählt auf uns! Sie rechnet damit, dass wir sie suchen und befreien!«, rief er. »Hierher zu kommen, war eine Sache, aber das? Noch eine Reise? Nein, das kann ich nicht!«
Er spürte die Hand seiner Schwester, wie sie sich beruhigend auf seinen Rücken legte. Doch mehr nicht. Sie verbot ihm nicht den Mund, ruderte nicht zurück und entschuldigte sich nicht für seine Worte. Und das war ihm mehr Trost als alles andere in diesem Moment.
»Nadja«, wiederholte Nimue, als wollte sie den Klang des Namens schmecken. »Nadja Oreso, nicht wahr? Die kleine Halbelfe, die dir ins Herz gekrochen ist.«
Perplex schluckte David die weiteren Worte hinunter und fragte stattdessen: »Woher wisst Ihr so viel von ihr?«
»Ich nehme an, jeder in der Anderswelt kennt mittlerweile eure Geschichte. Eine Menschenfrau, die mit den Königszwillingen durch die Welt wandert, um unsere Unsterblichkeit wiederzufinden.«
David schmunzelte flüchtig. Es klang so unglaublich naiv und unmöglich, wenn jemand anderer es aussprach. Doch mit Nadja war so einiges möglich geworden, das auch er früher für Spinnerei gehalten hätte. Wie im Reflex legte er eine Hand auf seine Brust – dorthin, wo sein Stück Seele wuchs.
»Offenbar wisst Ihr noch nicht, dass Bandorchus Getreuer sie während des Kampfes zwischen den tapferen Kriegern der Sidhe Crain und den Dienern der Dunklen Königin entführt