Aufbruch in die Dunkelheit. Mark StichlerЧитать онлайн книгу.
die Schulter und legte den Unterarm über den Lauf. Eduard hatte sein Gewehr am Gurt über den Rücken geschnallt. Beide trugen feste Stiefel, ihre Waden hatten sie mit Gamaschen umwickelt. Hans, der Jüngere, zog seinen weichen, grauen Filzhut an der breiten Krempe etwas nach vorne ins Gesicht, um die direkte Sonneneinstrahlung abzuwehren. Eduards Hut war weniger modisch, mit kurzer Krempe, aber zweckmäßiger für die Jagd.
An einer Schnur, die er in der Hand hielt, baumelten eine Schnepfe und ein Auerhahn. Ab und zu streiften ihre Federn das niedrige Gras. Ihr Gewicht schien ihn nicht zu beeinträchtigen, er ging mit festem Schritt bis ans Ende der Lichtung zu einem steilen Abhang, von dem aus er das darunterliegende Tal, den Fluss und Waldbrügg überblicken konnte. Der Hund folgte ihm und schnüffelte ab und zu gierig an den Vögeln, was Eduard, wenn er es bemerkte, mit einem leisen Geräusch und einer nachlässigen Handbewegung abwehrte, die die Vögel in eine leicht rotierende Schwingung versetzte.
An Hans’ Gürtel baumelte eine Schnepfe. Er trat zu seinem Bruder, stützte sich auf seine Flinte und blickte ebenfalls ins Tal, auf den Fluss und auf die Stadt unter ihnen.
„Ist das nicht eine der schönsten Stunden des Tages? Vor allem zu dieser Jahreszeit“, sagte Eduard. „Die Sonne kommt hervor und fängt schon an zu wärmen. Man …“ Ihm fiel ein – wie jedes Mal, wenn er sie benutzte –, dass Hans diese unpersönliche Art der Verallgemeinerung nicht mochte. Er räusperte sich. „Wir waren schon unterwegs, haben unser Tagwerk schon längst begonnen, während es bei anderen Leuten eben erst beginnt.“
Hans lächelte und zuckte leichthin mit den Schultern.
„Manchmal schon …“, erwiderte er. „Aber etwas länger zu schlafen hat auch was für sich.“ Sein Blick fokussierte sich für einen kurzen Moment auf die unbestimmten Weiten unten im Tal.
Eduard lachte. Dann schwiegen sie wieder. Hans warf einen Stock für den Hund, der ihm eifrig nachjagte. Ein paar Minuten noch, dann war der Moment der Ruhe vorbei. Dann würden sie aufbrechen, hinunter in die Stadt …
Eine Mauer umfasste Waldbrügg wie ein enger Gürtel. Darin standen die zusammengepferchten Häuser scheinbar kreuz und quer entlang schmaler, mittelalterlicher Gassen. Vom Standpunkt der beiden aus konnte man das Rathaus erkennen und gegenüber, vom Marktplatz etwas zurückgesetzt, die Kirche. An manchen Stellen jedoch sah es so aus, als hätten die Häuser die Stadtmauer überstiegen oder sie gesprengt, als wären sie durch die Tore gequollen. Der Platz innerhalb des Schutzwalls reichte schon lange nicht mehr aus, um sie alle samt ihren Bewohnern zu fassen.
An einer Biegung des Flusses stand die alte Mühle, nicht weit entfernt davon konnte man eine Baustelle und die Baracken der Arbeiter erkennen. Dort wurde eine Brücke gebaut, um das Gelände mit den neu entstandenen Häusern am anderen Flussufer besser mit der Altstadt zu verbinden. Es sollte die dritte Brücke Waldbrüggs werden. Während der Wintermonate hatten die Arbeiten so gut wie völlig geruht, doch jetzt, zu Beginn des Frühlings, wurden sie wieder aufgenommen.
Auf der Seite des Tals, auf der sich Hans und Eduard befanden, zogen sich Häuser, Schuppen, Lagerhäuser und Hütten den Hang hinauf und bis in den Wald hinein. Je weiter entfernt von der Stadt sie gebaut waren, desto armseliger wurden sie. Noch lag ein Teil der Häuser unten im Tal im Schatten, doch die Sonne stieg rasch und tauchte sie in ein dünnes, fadenscheiniges helles Licht. Aus den Kaminen der Wohnhäuser stiegen schmale, dünne Rauchsäulen in den noch kalten Morgen.
„Komm.“ Eduard gab Hans einen leichten Schlag auf die Schulter. „Vater wartet bestimmt schon mit dem Frühstück auf uns.“ Er warf sich die Schnur mit der Schnepfe und dem Auerhahn über die Schulter und ging über die Lichtung zurück zum Wald, wo ein schmaler Trampelpfad in leicht geschwungenen Kurven hinunter zur Stadt führte. Hans seufzte, nahm sein Gewehr auf und folgte ihm. Schweigend gingen sie hintereinander her, bis sie die ersten Hütten oberhalb der Stadt erreichten. Dort konnten sie nebeneinander weitergehen. Der Weg wurde breiter, doch noch immer war er nicht befestigt. Fuhrwerke hatten jahrhundertelang ihre Spuren in den kargen Lehmboden eingegraben. Bei Regen schoss das Wasser die Rillen hinunter und bahnte sich seinen Weg in den Fluss. Dann war es nicht ungefährlich, hier zu gehen. Auch jetzt, bei trockener Witterung, achteten die Brüder darauf, wohin sie ihre Schritte setzten. Unten am Hang machte die Straße einen Bogen und erst hier, wo sie in direkter Linie auf die Stadt zuführte, begann der gepflasterte Teil.
Es war noch nicht viel los. Nur einige wenige Leute kamen zu Fuß durchs Tor, hinter ihnen ein Fuhrwerk. Die eisenbeschlagenen Räder des nicht beladenen Wagens ratterten über die Pflastersteine und verursachten einen ohrenbetäubenden Lärm. Hans verzog schmerzvoll das Gesicht, als es an ihnen vorüberfuhr. Der Hund bellte.
„Still“, rief Eduard gereizt.
„Was für ein Krach“, sagte Hans.
„Nicht mehr lange. Das gehört bald der Vergangenheit an.“ Eduard blickte die alte, gepflasterte Straße entlang und verzog verächtlich den Mund. „Bald werden hier motorbetriebene Wagen fahren. Pferdekutschen sind dann die Relikte alter Zeiten.“
Hans runzelte die Stirn und blieb stehen. Zwischen zwei Baracken hindurch konnte man den Fluss sehen, der sich im Morgendunst wie eine Schlange durch die blassgrünen Auen davonmachte. In einer der Werkstätten an der Straße entfachte ein Schmied sein Feuer. In dem schwarzen, rußigen Verschlag, der zur Straße hin offen stand, stoben Funken. Die Glut schimmerte dunkelrot und orange.
„Wenn du diese stinkenden Maschinen meinst …“, sagte Hans. „Was den Lärm angeht, sind die wohl kaum besser.“
„Warte ab.“ Eduard lächelte. „Das wird eine Revolution.“ Er gab seinem Bruder einen gutmütigen Klaps auf die Schulter. „Vielleicht nicht gerade die Revolution, von der du immer sprichst. Aber eine technische. Da bin ich sicher.“
Hans schien keineswegs überzeugt. Er zuckte skeptisch mit den Schultern und strich sich über den hellen Flaum, der über seinen Lippen spross.
„Technische Revolutionen haben immer etwas mit Waffen und Gewalt zu tun.“
„Unsinn.“ Eduard winkte unwillig ab. „Wie kann man nur so entschieden neuen politischen Ideen anhängen und gleichzeitig so fortschrittsfeindlich denken?“
Die Brüder gingen durch den Torbogen und betraten die engen Gassen der Stadt, die noch im Schatten lagen. Hans schüttelte energisch den Kopf. Am Hals und auf seinen blassen Wangen war ein leichter Anflug von Röte zu erkennen.
„Das ist kein Unsinn“, widersprach er mit einem Eifer, der auf eine leicht entzündbare Reizbarkeit schließen ließ. Zumindest, wenn es um Politik und technischen Fortschritt ging, schien Hans ein Temperament zu entwickeln, das man ihm auf den ersten Blick nicht zugetraut hätte. „Wenn du dich an eines der vielen Beispiele unseres Professors erinnerst … Die Schlacht von Lepanto wurde von der venezianisch-spanischen Liga nur aufgrund einer technischen Neuentwicklung gewonnen. Kanonen mit großer Feuerkraft an Heck, Bug und den Breitseiten …
„Kriegsgerät“, unterbrach Eduard ihn. „Kriegsgerät. Ein Motor ist kein Kriegsgerät, auch wenn du und der alte Professor Nehringer das vielleicht annehmen. Dieser Gasmotor, mein Lieber, wird die Menschen bewegen. Und wie … Alles wird schneller. Das ist alles.“ Er schnipste mit dem Finger, um den Hund zu sich zu rufen, der, seit sie die Stadt betreten hatten, immer wieder zurückfiel und manchmal in eine Seitengasse abbog, um verschiedenen Gerüchen nachzugehen oder sein Revier zu markieren. „Außerdem will ich mich um diese Zeit wirklich nicht mit dir über Politik oder – noch schlimmer – die alten Venezianer streiten.“
Einen Moment lang gingen sie schweigend nebeneinanderher. Hans starrte mit zusammengezogenen Augenbrauen düster auf die Steine des Straßenpflasters, die Schultern leicht nach oben gezogen. Eduard lächelte. Er kannte diese Haltung seines Bruders seit frühester Kindheit. Er war leicht in Rage zu bringen. Dann zog er sich quasi zusammen, als würden sich Zorn und Ärger krampfartig auf einen Punkt in der Mitte seines Körpers konzentrieren. Doch ebenso schnell, wie der Ärger in ihm aufstieg, verschwand er auch wieder.
Seit sie die Stadt betreten hatten, hatte sich etwas verändert. Es war nicht das Gespräch und der Ärger seines Bruders, es war die