Zurück auf Gestern. Katrin LankersЧитать онлайн книгу.
»Ja, das hast du.« Mein Vater tätschelte ihren Arm. »Und ich weiß deine Besorgnis zu schätzen. Doch wie ich dir bereits erklärt habe, ist das nicht meine Entscheidung.«
Sylvia verzog den Mund zu einem schmalen Strich. Offenbar hatte es bereits eine Diskussion über den Anhänger gegeben. Vermutlich hatte sie versucht, Paps zu überreden, das Schmuckstück lieber Sophie statt mir zu schenken.
»Mama hat in ihrem Testament eindeutig festgelegt, dass Claire diesen Anhänger bekommen soll. Und nicht Sophie.« Paps warf meiner Stiefschwester ein entschuldigendes Lächeln zu. »Übrigens«, fuhr er an mich gewandt fort, »ich habe den Brief deiner Großmutter in meinen Unterlagen gefunden.«
Er schob seinen Stuhl zurück, stand auf und verließ das Zimmer. Die zähe Stille, die sich daraufhin über den Tisch senkte, hätte man mit dem Buttermesser schneiden können. Die Blicke, die mich von allen Seiten trafen, waren dafür umso aussagekräftiger. Zum Glück kam mein Vater schnell zurück.
»Hier.« Er überreichte mir einen wattierten Umschlag, auf dem in der gestochenen Handschrift meiner Großmutter mein Name stand. Ich schluckte erneut.
»Danke.« Kaum hielt ich den Umschlag in Händen, hatte ich nur noch einen Wunsch: Ich wollte so schnell wie möglich einen Blick hineinwerfen.
»Ich hab keinen Hunger mehr«, erklärte ich deshalb und schob den Teller mit der zweiten, unangetasteten Brötchenhälfte von mir weg.
»Das ist ja mal was ganz Neues«, raunte Sophie, aber ich ignorierte sie einfach.
»Ist es okay, wenn ich aufstehe?«, fragte ich. Und noch bevor mein Vater nickte, stand Lulu ebenfalls schnell auf.
»Ich bin auch fertig.« Sie deutete auf ihren unbenutzten Teller. »Wie man sieht.«
Im Nullkommanichts rannten wir die Treppe hinauf und warfen uns wieder auf mein Bett.
»Das ist so wahnsinnig aufregend«, sagte Lulu gespannt. »Los, mach schon auf!«
Doch nun zögerte ich plötzlich. Für mich war es nicht einfach nur aufregend. Für mich war dieser Brief das letzte Vermächtnis meiner Großmutter.
»Sie hat gewollt, dass du ihn öffnest.« Lulu spürte meine Stimmung, legte mir den Arm um die Schulter und drückte mich fest an sich.
Ich wog den Umschlag in der Hand und roch daran. Ich war mir nicht sicher, ob ich tatsächlich einen Hauch von Omilis Parfüm wahrnahm oder ob ich mir das nur einbildete. Ich presste den Brief gegen mein Herz und atmete tief durch.
»Willst du ihn nicht lesen?«, fragte Lulu vorsichtig.
»Doch.« Natürlich wollte ich ihn lesen. Aber gleichzeitig wollte ich den Moment noch ein kleines bisschen hinauszögern.
Lulu drückte mich erneut an sich, und ich spürte ihre Ungeduld, die sie mühsam für mich zu bändigen versuchte. Doch schließlich hielt ich es selbst nicht länger aus.
Vorsichtig schob ich meinen Zeigefinger unter das Dreieck auf der Rückseite des Umschlags, der mit rotem Siegellack verschlossen worden war, und löste behutsam den Lack. Einfach zerreißen wollte ich den Umschlag nämlich auf keinen Fall. Ebenso behutsam zog ich den dicken, gefalteten Briefbogen heraus. Doch noch bevor ich ihn auseinanderfalten konnte, fielen drei Fotos heraus und landeten auf meinen Beinen.
Ich ließ den Brief sinken, um mir zuerst die Bilder anzuschauen. Das erste war schwarz-weiß und hatte einen gezackten Rand wie bei einer Briefmarke. Es zeigte ein kleines Mädchen, das mit ernstem Blick und ohne zu lächeln in die Kamera schaute.
»Das ist sie, glaube ich. Meine Omili.« Ich legte das Foto neben mich und betrachtete das nächste. In verwaschenen Orangetönen zeigte es einen Jungen in braunen Cord-Latzhosen.
»Das ist mein Paps.« Ich musste über das freche Augenzwinkern grinsen, das er offensichtlich schon als Kind perfekt beherrscht hatte. Auch dieses Foto legte ich zur Seite. Als Letztes entdeckte ich ein Bild von mir selbst. Ich erinnerte mich an den Tag, als es gemacht worden war: meine Einschulung.
Zwei blonde Zöpfe standen von meinem Kopf ab, mir fehlten die beiden oberen Vorderzähne, und ich hielt ein riesiges Eis in der Hand, das ich bereits großzügig um meinen Mund verteilt hatte. Mir fiel ein, dass Omili mich auf die Idee gebracht hatte, das Eis durch die Zahnlücke zu saugen, woraufhin ich das halbe Himbeereis über mein neues Einschulungskleid gekleckert hatte. Wir hatten sehr viel gelacht an diesem Tag.
Tränen stiegen mir in die Augen. Wieder drückte Lulu mich ganz fest.
»Und jetzt?«, fragte sie.
»Und jetzt …« Ich atmete tief durch. »Jetzt lese ich wohl am besten mal diesen Brief.«
Meine liebe Kleine,
ich schreibe dir diesen Brief für den Fall, dass ich nicht selbst die Gelegenheit haben werde, dir zu erklären, was es mit unserem besonderen Familienerbstück auf sich hat.
Wenn du dies liest, bin ich nicht mehr bei dir. Und glaub mir, wenn ich dir sage, dass mir das schrecklich leidtut.
Nicht, weil ich nicht ein ganz wunderbares Leben gelebt habe. Ein Leben, das du noch um so vieles reicher gemacht hast. Sondern nur deshalb, weil ich gern noch ein bisschen länger für dich da gewesen wäre. Wenigstens so lange, bis du selbst erwachsen geworden und aus dem Haus gegangen wärst.
Nun, es sollte wohl nicht sein. Aber ich bin froh um jede Minute, jeden Augenblick, den ich mit dir verbringen durfte. Jeder davon war ein besonderes Geschenk.
Jetzt möchte ich dir sagen, was ich über den speziellen Anhänger weiß, den du zu deinem Geburtstag bekommen hast. Meinen Glückwunsch übrigens, meine Kleine, so groß bist du nun schon.
Es ist Tradition in unserer Familie, dass dieses Schmuckstück immer dann den Besitzer wechselt, wenn die älteste Tochter ihren fünfzehnten Geburtstag feiert. So wurde es festgelegt vor langer Zeit, aber da ich keine eigene Tochter bekommen habe, wie du weißt, sondern nur die Freude hatte, deinen Vater großzuziehen, bist nun du die Nächste in unserer Familie, die den Anhänger erhält. Und solltest du selbst einmal eine Tochter bekommen, dann bitte ich dich, führe die Tradition fort und reiche das Schmuckstück an sie weiter, sobald sie fünfzehn wird.
Wann die Tradition begann und von wem das Schmuckstück stammt, ist eine lange Geschichte, zu lang, um sie in diesem Brief niederzuschreiben. Wenn du mehr darüber erfahren willst, lies Amalias Tagebuch. Darin erfährst du alles über unsere Familienlegende.
Nur so viel: Wenn man den alten Geschichten Glauben schenkt, dann besitzt dieser Anhänger größere Kräfte, als es auf den ersten Blick den Anschein hat. Deshalb pass gut auf ihn auf. Und sei achtsam bei allem, was du damit tust.
Wenn an den Geschichten etwas Wahres ist, dann kann dieser Anhänger dir den Menschen zeigen, der deinem Herzen am nächsten ist. Glaub immer daran, dass es einen solchen Menschen gibt. Einen Menschen, dem du dein volles Vertrauen schenken kannst und der dir das seine schenkt. Der immer für dich da ist. Und mit dem du alles teilst.
Du hast es verdient, einem solchen Menschen zu begegnen, mein Liebling. Und ich bin überzeugt, dass du es eines Tages tun wirst.
Ich liebe dich von ganzem Herzen. Für immer.
Deine »Omili« Olivia
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