Die Erneuerung der Kirche. George WeigelЧитать онлайн книгу.
sie dort, wohin uns das zweite Kapitel der Apostelgeschichte weist: dort, wo die apostolische Lehre weitergegeben und wo das Brot im Leib Christi gebrochen und geteilt wird.15 In dieser Gemeinschaft werden Männer und Frauen ermächtigt, so zu leben, wie es nach Jesu eigenen Worten der Freundschaft mit ihm entspricht: Sie werden ermächtigt, den Hungernden Brot, den Dürstenden zu trinken, den Nackten Kleidung und den Gefangenen die Freiheit zu geben.16
Dieser Lebensstil ist zutiefst und (zumindest für einige) beunruhigend gegenkulturell. Doch der evangelikale katholische Entwurf ist sehr viel menschlicher – genau genommen unendlich viel menschlicher – als ein Leben, das sich nach den unersättlichen Forderungen des alles beherrschenden autonomen Selbst, nach seinem weltlichen Geltungskult und nach seiner Geringschätzung der Demut richtet. So, wie er sich im Sendungs- und Dienstverständnis der evangelikalen katholischen Gemeinden ausdrückt, ist dieser Lebensstil die Antwort der katholischen Kirche des 21. Jahrhunderts auf das unermessliche menschliche Leid, das durch die Politik des Machtwillens verursacht wurde. Die Welten der heidnischen Antike wurden zu einem nicht geringen Teil dank der unübersehbaren Überlegenheit des christlichen Lebensstils bekehrt. Die postmoderne Welt des 21. Jahrhunderts und des dritten Jahrtausends wird auf dieselbe Weise bekehrt werden: durch menschliche Lebensweisen, die in der Wahrheit des Evangeliums wurzeln und die Möglichkeit bieten, sich von dieser Wahrheit packen zu lassen.
Denn diese Wahrheit, so verkündet es der evangelikale Katholizismus, ist die Wahrheit der Welt: eine Wahrheit, die eine missionarisch ausgerichtete Gemeinschaft von Jüngern mit einem ausgeprägten Bewusstsein ihrer Identität und Sendung formt.
Der evangelikale Stellenwert der Lehre
Diese Neuausrichtung des kirchlichen Lebens auf das Evangelium und die Freundschaft mit Jesus Christus, der das Evangelium ist und es zugleich als der Gesalbte Gottes verkündet, erklärt auch, weshalb die Klarheit und Reinheit der Lehre so wichtig sind. Inmitten der lehrmäßigen Turbulenzen in den Jahrzehnten nach dem II. Vaticanum haben einige der Kombattanten vielleicht vergessen, worum es eigentlich geht.
Es geht bei der Forderung nach lehrmäßiger Klarheit (und nach der Klarheit der katholischen Identität, die aus der lehrmäßigen Klarheit erwächst) nicht darum, eine intellektuelle Debatte zu gewinnen, wie manche selbstverliebte Intellektuelle vielleicht meinen. Bei der lehrmäßigen Klarheit geht es vielmehr darum, »die Heiligen zu rüsten«: Männer und Frauen, die eine Freundschaft mit Jesus Christus, dem Herrn, geknüpft haben und die nun seine Zeugen in der Welt sein und jenen dienen wollen, die das barmherzige Antlitz des Vaters am nötigsten brauchen. Dogmatische Klarheit und Überzeugung speisen den Prozess der lebenslangen Umkehr. Dogmatische Klarheit und Überzeugung vertiefen die Freundschaft mit Christus. Deshalb gibt es keinen »dogmatischen Katholizismus« auf der einen und »sozialgerechten Katholizismus« auf der anderen Seite. Die Wahrheit des Evangeliums, die durch die apostolische Verkündigung der geweihten Lehrer der Kirche bewahrt und an uns weitergegeben und die in den Sakramenten der Kirche gefeiert wird, macht den echten christlichen Dienst überhaupt erst möglich.
Diese auf das Evangelium ausgerichtete Herangehensweise an das christliche Leben, die die wesentliche Eigenschaft und das Erkennungsmerkmal des evangelikalen Katholizismus ist, hilft uns auch, gewisse Kontroversen, die die katholische Kirche seit Jahrzehnten heimsuchen, in einem anderen Licht zu sehen.
Wenn das Evangelium – also alles, was Gott zu unserem Heil in der Heiligen Schrift und in der apostolischen Tradition offenbart hat – das Zentrum der Kirche ist und erst die Treue zum Evangelium einen Menschen zum vollgültigen Mitglied der Kirchengemeinschaft macht, dann wird leider nur allzu klar, dass viele Menschen, die dem Namen und kirchenrechtlichen Status nach Katholiken sind, im existenziellen Sinne einer anderen Religion angehören. Man denke nur an die Mitglieder von Gemeinschaften des geweihten Lebens, an Priester und Ordensfrauen, die gewisse feststehende Lehrinhalte ablehnen. Diese Männer und Frauen sind zwar in kanonischer Hinsicht katholisch (also nie explizit aus der kirchlichen Gemeinschaft ausgetreten oder ausgeschlossen worden), hängen aber de facto einem anderen Evangelium und einem anderen Erlöser an. Ihre Verbindung zur Kirche Jesu Christi hat sich gelockert, ihre Gemeinschaft mit der katholischen Kirche ist weniger eng, ihre Zugehörigkeit zur Kirche des 21. Jahrhunderts hat allzu oft etwas mit dem rechtlichen Besitz von Eigentum zu tun, dessen Stifter eigentlich eine Schenkung zugunsten der katholischen Kirche im Sinn hatten.
Oder man denke an katholische Politiker, deren Katholizismus bestenfalls ethnischer Natur und überhaupt nur noch rudimentär vorhanden ist. Wer die von der Kirche gelehrte Wahrheit leugnet, der erklärt seine Gemeinschaft mit der Kirche – ungeachtet seines kirchenrechtlichen Status – für defizitär. Wer verneint, dass besagte Wahrheit, soweit sie die öffentliche moralische Ordnung (wie etwa den Schutz des unveräußerlichen Rechts auf Leben oder das Wesen der Ehe) betrifft, im Gesetz und in der öffentlichen Politik verankert sein sollte (und zwar nicht, weil »seine Religion das so will«, sondern weil es sich dabei um eine rational begründbare moralische Wahrheit handelt, durch deren Missachtung die Gesellschaft sich selbst in Gefahr bringt), zeigt, dass es in seinem Verständnis des öffentlichen Lebens schwerwiegende Unstimmigkeiten gibt. Wer sich dafür einsetzt, das Gegenteil der von der Kirche bezeugten Grundwahrheiten im Gesetz und in der Politik zu verankern, der tritt in einen so deutlichen Widerspruch zum Evangelium – in der Tat zum Evangelium und nicht in erster Linie zur »Autorität der Kirche« –, dass er sich im Interesse seiner eigenen Integrität entweder eine andere religiöse Heimat suchen oder sich wirklich bekehren sollte.
Deshalb besteht tatsächlich eine engere Gemeinschaft zwischen evangelikalen Katholiken, die am Evangelium festhalten – noch einmal: Evangelium im Sinne der Wahrheit, die Gott zu unserem Heil in der Heiligen Schrift und in der apostolischen Tradition offenbart hat –, und evangelikalen Protestanten, die sich zur klassischen, christlichen Rechtgläubigkeit bekennen, als zwischen evangelikalen Katholiken und prominenten katholischen Theologen wie Hans Küng, Roger Haight und Elizabeth Johnson, obwohl diese, kirchenrechtlich gesprochen, derselben Kirchengemeinschaft angehören.
Aus dieser evangelikalen katholischen Sicht betrachtet, weist das Leben von Katharine Jefferts Schori, die der katholischen Kirche in ihrer Jugendzeit den Rücken gekehrt hat, in die Episkopalkirche eingetreten und 2006 zu deren Primas gewählt worden ist, größere innere Stimmigkeit auf als das Leben all derer, die rechtlich gesehen in der katholischen Kirche bleiben, aber in einem psychologischen Schisma leben. Jefferts Schori ist gemeinsam mit ihren Eltern aus der katholischen Kirche ausgetreten und offenbar später zu der Erkenntnis gelangt, dass sie nicht an das von der katholischen Kirche verkündete Evangelium glaubt. Also blieb sie in der Episkopalkirche, einer Gemeinschaft mit einem klar und radikal anderen Verständnis des Evangeliums, als die katholische Kirche es lehrt. Ihre Position ist stimmiger und ehrlicher als das Verhalten derer, die innerhalb der katholischen Kirche »gemeldet« bleiben, obwohl sie das von dieser Kirche verkündete Evangelium ablehnen.
Was auch immer sie damit bezwecken, fest steht, dass sie den evangelikalen Sendungsauftrag der katholischen Kirche letztlich behindern. Diesen Auftrag kann man nur wahrnehmen, wenn man fest davon überzeugt ist, dass er im Wort Gottes wurzelt.17
Der Schlüssel zum II. Vaticanum und zu allem anderen
Über vier Jahre vergingen, ehe das Zweite Vatikanische Konzil seine dogmatische Konstitution über die göttliche Offenbarung ausgearbeitet hatte. Ursprünglich konzipiert, um die Frage des Verhältnisses der katholischen Kirche zur modernen Bibelwissenschaft zu klären und eine langjährige Auseinandersetzung innerhalb der katholischen Theologie über die »Quellen der Offenbarung« zu beenden (daher der lateinische Titel), war Dei verbum (»Das Wort Gottes«) das Ergebnis eines langwierigen Reifeprozesses einschließlich heftiger Debatten und zahlloser Neuentwürfe. Von den Konzilsvätern mit überwältigender Mehrheit angenommen und am 18. November 1965 (genau drei Wochen vor Abschluss des Konzils) von Papst Paul VI. promulgiert, ist Dei verbum ungeachtet seiner mühevollen Entstehung in vieler Hinsicht der Schlüsseltext des II. Vaticanums – die Linse, die die von Leo XIII. in Gang gesetzte Entwicklung des katholischen Selbstverständnisses