Die Morde in der Rue Morgue und andere Erzählungen. Эдгар Аллан ПоЧитать онлайн книгу.
auch der unmittelbaren Umgebung eigene, ganz besondere Atmosphäre – eine Atmosphäre, die mit der natürlichen nichts zu tun hatte, sondern aus den morschen Bäumen, den grauen Mauern und dem stillen Teich aufstieg – ein giftiger, geheimnisvoller Dunst, trüb, träg, bleifarben und eigentlich nur zu ahnen.
Ich schüttelte diese Vorstellung ab, die nur traumhaft sein konnte, und betrachtete das wahre Aussehen des Hauses genauer. Das Hauptmerkmal schien mir sein außerordentlich hohes Alter zu sein, denn die Zeiten hatten es gründlich verfärbt. Kleinpilze bedeckten die ganze Front und hingen in feinen, spinnwebartigen Strängen von den Dachrinnen. Dies alles war aber weit entfernt von irgendwelchem besonderen Verfall. An keiner Stelle war das Mauerwerk zusammengebrochen, und zwischen seinem soliden Zusammenhang und der krümeligen Beschaffenheit der einzelnen Steine bestand ein aufregender Widerspruch. Dies erinnerte mich an altes Holzwerk, das in irgendeinem vergessenen Gewölbe in langen Jahren modert und in breiten Flächen erhalten bleibt, weil kein Hauch frischer Luft es anrührt. Außer diesen Hinweisen auf ausgedehnte Verwitterung gab das Mauergefüge aber wenig Anzeichen von mangelnder Stabilität. Vielleicht hätte das Auge eines kritischen Beobachters einen kaum wahrnehmbaren Riss entdeckt, der vom Dach über die Vorderfront seinen Weg die ganze Mauer hinunter in einer Zickzacklinie machte, bis er sich in dem dunklen Wasser des Teichs verlor.
Nachdem ich diese Dinge beobachtet hatte, ritt ich über einen kurzen Weg vors Haus. Ein bereitstehender Stallknecht nahm mir das Pferd ab, ich betrat durch den gotischen Türbogen die Halle. Ein leise auftretender Diener führte mich von da schweigend durch eine Menge dunkler, verwinkelter Gänge zum Arbeitszimmer seines Herrn. Manches, was ich auf diesem Weg traf, trug dazu bei – wieso, weiß ich nicht –, die unbestimmten Gefühle zu verstärken, von denen ich bereits gesprochen habe. Die Dinge ringsumher, Deckenschnitzereien, dunkle Wandgobelins, ebenholzschwarze Fußböden und phantastische Rüstungstrophäen, die rasselten, als ich vorbeiging, waren mir seit meiner Kindheit so ähnlich bekannt; ich zögerte noch, mir zuzugeben, wie vertraut mir Derartiges war, weil ich mich wunderte, wie eigenartig die Vorstellungen waren, die ganz gewöhnliche Gegenstände in mir aufsteigen ließen. Auf einer der Treppen lernte ich den Hausarzt der Familie kennen. Sein Gesicht, fand ich, trage einen aus Schlauheit und Verlegenheit gemischten Ausdruck. Er sprach mich mit einer gewissen nervösen Unruhe an und ging weiter. Der Diener öffnete eine Tür und meldete mich seinem Herrn.
Das Zimmer, in dem ich mich befand, war sehr groß und hoch. Schmale Spitzbogen stellten die Fenster dar und lagen so weit über dem dunklen Eichenholzfußboden, dass man vom Zimmer aus nicht hinaufreichen konnte. Schwache Strahlen rötlichen Lichts fanden den Weg durch die vergitterten Scheiben und erhellten wenigstens die größeren Gegenstände im Raum hinreichend deutlich, aber das Auge bemühte sich vergeblich, in die entfernteren Winkel des Zimmers oder in die Vertiefungen der gewölbten, geschnitzten Decke vorzudringen. Dunkle Draperien hingen an den Wänden. Die Einrichtung war verschwenderisch und ungemütlich, antik und abgenützt. Viele Bücher und Musikinstrumente lagen im Zimmer verstreut, belebten das Bild aber nicht. Ich spürte, dass ich eine von Kummer geschwängerte Luft einatmete. Etwas wie ernste, tiefe und hoffnungslose Düsterheit hing über allem, durchdrang alles.
Bei meinem Eintreten erhob sich Usher von einem Sofa, auf dem er ausgestreckt gelegen hatte, und begrüßte mich mit lebhafter Wärme, die, wie ich zuerst dachte, viel von der übertriebenen Herzlichkeit – der gezwungenen Bemühung des blasierten Mannes von Welt – an sich habe. Ein Blick in sein Gesicht überzeugte mich aber von seiner vollkommenen Aufrichtigkeit. Wir setzten uns, und als er einige Augenblicke nichts sagte, betrachtete ich ihn mir einem Gefühl, bei dem sich Mitleid und Scheu die Waage hielten. In so verhältnismäßig kurzer Zeit hat sich noch kein Mensch so furchtbar verändert wie Roderick Usher! Nur mit Mühe kam ich so weit, das glanzlose Wesen vor mir mit dem Kameraden der frühen Knabenzeit in Übereinstimmung zu bringen. Allerdings hatte die Art seines Gesichts von jeher etwas Bemerkenswertes gehabt: die Leichenblässe der Haut, große, feuchte, unvergleichlich leuchtende Augen, etwas schmale und blutleere, aber ungemein schön geschwungene Lippen, eine nach jüdischer Form dezent gebogene Nase, jedoch mit bei Juden selten vorkommenden breiten Nüstern, das feingebildete Kinn, das keinen Vorsprung hatte und von Mangel an Charakterfestigkeit sprach, das spinnwebartig weiche, feine Haar. Diese Einzelheiten ergaben zusammen mit der ungewöhnlich breiten Stirnfläche bis zu den Schläfen ein Gesicht, das man nicht leicht vergaß. Nun war durch die bloße stärkere Ausprägung des vorherrschenden Charakters dieser Züge und in dem Ausdruck, den sie sonst vermittelt hatten, eine so große Veränderung vor sich gegangen, dass ich zweifelte, mit wem ich sprach. Die nun geisterhafte Blässe der Haut und vor allem der wundersame Glanz der Augen überraschten und erschreckten mich sogar. Das seidenweiche Haar hatte er ungehindert wachsen lassen, und da es wie ein natürliches, gazeartiges Gespinst das Gesicht eher umflutete als umgab, konnte ich das arabeskenhafte Gebilde nur mit Mühe mit der Vorstellung des schlicht Menschlichen in Einklang bringen.
An der Art, wie mein Freund sich gab, fiel mir sofort etwas Widersprüchliches – Zerfahrenes – auf; ich fand bald heraus, dass es sich aus dem ständigen schwachen und vergeblichen Bemühen herleitete, ein immerwährendes Zucken – eine außergewöhnliche nervöse Erregung – zu unterdrücken. Auf etwas dieser Art war ich gefasst gewesen, nicht weniger durch seinen Brief als in Erinnerung an gewisse knabenhafte Eigenheiten und durch Schlüsse, die ich von seiner besonderen körperlichen Bildung und seinem Temperament ableitete. Sein Gehabe war abwechselnd lebhaft und trotzig. Seine Stimme wechselte rasch von zittriger Unentschlossenheit (wenn die Lebensgeister in unsicherer Schwebe waren) zu jener Art energischer Knappheit – jener abrupten, gewichtigen und hohlklingenden Sprechweise – zu jenen bleiernen, ausbalancierten und sorgfältig modulierten gutturalen Äußerungen, die man bei dem unheilbaren Trinker oder dem süchtigen Opiumraucher in der Zeit der intensivsten Erregung beobachten kann.
Solcherart sprach er über den Zweck meines Besuchs, von seinem dringenden Wunsch, mich wiederzusehen, und von dem Trost, den er sich von mir erhoffe. Mit einer gewissen Ausführlichkeit ging er darauf ein, was seine Vorstellung von der Natur seiner Krankheit sei. Er leide, sagte er, an einem konstitutionellen und der Familie eigenen Übel und verzweifle längst, ein Heilmittel dagegen zu finden – es sei, fügte er sofort hinzu, ein rein nervöser Reizzustand, der zweifellos bald vorübergehen werde und sich in einer Unzahl unnatürlicher Empfindungen äußere. Er schilderte mir einige näher, die mich sehr interessierten und bestürzten, wenn auch vielleicht die Benennung dafür und die ganze Art seiner Erzählung viel zu dieser Wirkung beitrugen. Er litt heftig unter einer krankhaften Überschärfe der Sinne; nur die fadeste Nahrung war ihm verträglich; er konnte nur Kleidung aus bestimmten Stoffen tragen; die Düfte aller Blumen bedrückten ihn; seine Augen wurden sogar von einem schwachen Licht gequält, und es gab nur ganz besondere Klänge, die von Saiteninstrumenten ausgehen mussten, die ihm keinen Abscheu verursachten.
Ich fand heraus, dass er der Sklave einer anormalen Art von Furcht war. »Ich werde zugrunde gehen«, sagte er, »ich muss an dieser jammervollen Krankheit zugrunde gehen. So, so und auf keine andere Weise werde ich umkommen. Ich fürchte mich vor künftigen Ereignissen, aber nicht sie selbst, sondern ihre Folgen. Mich schaudert bei dem bloßen Gedanken vor jedem, auch dem alltäglichsten Vorfall, der diese unerträgliche Verwirrung der Seele noch verschlimmern könnte. Vor einer Gefahr schrecke ich nicht zurück, außer ihre einzige Wirkung ist – maßlose Angst. In meinem entnervten, jämmerlichen Zustand, ich fühle es, wird früher oder später die Zeit kommen, da ich im Kampf mit dem Hirngespinst FURCHT Verstand und Leben verliere.«
Nach und nach bildete ich mir aus abgerissenen, mehrsinnigen Andeutungen ein Bild eines anderen sonderbaren Zugs seines Geisteszustands. Gewisse abergläubische Einbildungen über das Haus, das er bewohnte und das er seit vielen Jahren nicht zu verlassen gewagt hatte, hätten ihn in ihren Bann gezogen; er sprach aber über diesen von ihm angenommenen übermächtigen Einfluss in so unbestimmten Ausdrücken, dass ich sie hier nicht wiedergeben kann. Es sei ein Einfluss, den gewisse Eigentümlichkeiten der Form und der Substanz seines Familiensitzes in langer Leidenszeit über seinen Geist gewonnen hätten: ein Einfluss, den das Materielle der grauen Mauern, Türmchen und des dunklen Teichs, auf den dies alles hinunterblicke, auf seine geistige Existenz zerrüttend ausübe.
Er räumte aber ein, wenn auch zögernd, dass viel von dem eigenartigen Trübsinn,