Die Rückkehr des Sherlock Holmes. Arthur Conan DoyleЧитать онлайн книгу.
Frauensperson führte mich in ein Empfangszimmer, wo ein frugales Abendbrot aufgetragen war. Nach dem Essen nahm mich Herr Oldacre mit in sein Schlafzimmer, wo ein schwerer Geldschrank stand. Er schloß auf und nahm eine Menge Papiere heraus, die wir zusammen durchgingen. Es dauerte bis zwischen elf und zwölf Uhr, ehe wir fertig wurden. Er sagte dann zu mir, wir dürften die Wirtschafterin nicht stören, und geleitete mich an das Balkonfenster, das während der ganzen Zeit offen gestanden hatte.«
»War die Jalousie heruntergelassen?« fragte Holmes.
»Ich bin nicht ganz sicher, glaube aber, daß sie nur halb unten war. Jawohl, ich entsinne mich, wie er sie aufzog, um das Fenster aufmachen zu können. Ich hatte meinen Stock noch nicht. Er fügte jedoch: ›Schadet nichts, mein Lieber; ich werde Sie hoffentlich in der nächsten Zeit häufiger bei mir sehen, ich heb’ ihn auf, bis Sie wiederkommen‹. Ich ließ ihn also zurück. Der Schrank stand noch offen und die Papiere lagen, in Bündel zusammengeschnürt, auf dem Tische, als ich das Zimmer verließ. Es war so spät, daß ich nicht mehr nach Blackheath zurück konnte. Ich blieb daher die Nacht in einem nahen Hotel und ahnte nichts Böses, bis ich heute früh die schreckliche Geschichte in der Zeitung las.«
»Wollen Sie noch einige Fragen stellen, Herr Holmes?« sagte Lestrade, der während der merkwürdigen Erzählung ein paarmal den Kopf geschüttelt hatte.
»Eher nicht, bis ich in Blackheath gewesen bin.«
»Sie meinen in Norwood,« verbesserte Lestrade.
»Jawohl; das meinte ich,« erwiderte Holmes mit seinem rätselhaften Lächeln. Lestrade hatte schon häufiger erfahren müssen, als ihm lieb sein mochte, daß dieser scharfe Verstand noch vieles zu durchschauen vermochte, was ihm undurchdringlich erschienen war. Er sah meinen Gefährten neugierig an.
»Ich möchte gleich noch ein paar Worte mit Ihnen sprechen, Herr Holmes,« sagte er. »Nun, Herr Farlane, vor der Tür stehen zwei von meinen Leuten und warten auf Sie, der Wagen ist draußen vor dem Haus.« Der unglückliche junge Mensch erhob sich und ging mit einem letzten flehentlichen Blick zur Türe hinaus. Die Schutzleute stiegen mit ihm in die Droschke, während der Inspektor zurückblieb.
Holmes hob die losen Blätter, die den Entwurf des Testaments enthielten, vom Tische auf und betrachtete sie mit zunehmendem Interesse.
»Dieses Schriftstück gibt uns einige Anhaltspunkte, Herr Lestrade,« sagte er endlich. »Sehen Sie es sich einmal genauer an.« Er schob ihm die Blätter hinüber.
Der also Angeredete sah ihn erstaunt an.
»Ich kann nur die ersten Zeilen, die in der Mitte der zweiten Seite und ein paar am Schluß lesen; die sind ganz deutlich geschrieben,« sagte er, »aber sonst ist die Schrift sehr schlecht, und an drei Stellen vollständig unleserlich.«
»Was schließen Sie daraus?« sagte Holmes.
»Ja, was schließen Sie denn daraus?«
»Daß es in einem Eisenbahnzug geschrieben ist; die gute Schrift bedeutet die Stationen, die schlechte die Fahrt und die sehr schlechte die Durchfahrt durch Kreuzungsstellen. Ein gewandter Sachverständiger würde sofort erkennen, daß der Schreiber auf einer Vorortlinie gefahren ist, weil nur in der unmittelbaren Nähe einer Großstadt die Haltestellen so schnell aufeinander folgen. Wenn man annimmt, daß er auf der ganzen Strecke geschrieben hat, so muß er einen Schnellzug benutzt haben, der zwischen Norwood und London-Bridge nur einmal hält.«
Lestrade fing an zu lachen.
»Sie gehen mir zu weit zurück, wenn Sie Ihre Theorien entwickeln, Herr Holmes. Was hat das mit der Sache zu tun?«
»Nun, es bestätigt und ergänzt die Aussage des jungen Herrn, daß Oldacre das Testament gestern unterwegs aufgesetzt hat. Es ist immerhin auffallend – nicht wahr? – daß jemand ein so wichtiges Schriftstück im Eisenbahncoupé niederschreibt. Es geht daraus hervor, daß er der Sache keinen besonderen praktischen Wert beilegt. Das kann nur ein Mann tun, der nicht daran denkt, diesen Willen jemals zu verwirklichen.«
»Und doch hat er zu gleicher Zeit damit sein eigenes Todesurteil niedergeschrieben,« versetzte Lestrade.
»Aha, das ist Ihre Ansicht?«
»Meinen Sie das denn nicht auch?«
»Es ist nicht unmöglich; mir ist der ganze Fall aber noch nicht klar.«
»Nicht klar? Na, aber wenn das nicht klar ist, was ist dann überhaupt klar? Hier ist ein junger Mensch, der plötzlich erfährt, daß ihm ein großes Vermögen zufällt, wenn ein bejahrter Mann mit dem Tod abgeht. Was tut er? Er sagt keinem Menschen was, sondern begibt sich eines schönen Abends unter irgend einem Vorwand zu seinem Gönner. Er wartet, bis die einzige Person, die noch im Hause wohnt, zu Bett gegangen ist, ermordet den alten Mann in seinem einsamen Schlafzimmer, verbrennt die Leiche in einem Holzhaufen und geht dann in ein nahegelegenes Hotel. Die Blutspuren im Zimmer und auch am Stock sind nur unbedeutend. Er hat also vielleicht gar nicht gemerkt, daß Blut geflossen ist, und gehofft, daß nach der Einäscherung des Leichnams jede Spur von der Art des Todes verwischt wäre – Spuren, die aus sprechenden Gründen auf ihn führen mußten. Ist das nicht alles sonnenklar?«
»Ihre Beweisführung, mein lieber Lestrade, kommt mir etwas zu klar vor,« erwiderte Holmes. »Bei Ihren sonstigen vorzüglichen Eigenschaften vermisse ich die nötige Einbildungskraft. Wenn Sie sich nur einen Augenblick in die Lage dieses jungen Mannes versetzen wollten! Würden Sie gerade die Nacht nach der Aufstellung des Testamentes wählen, um das Verbrechen zu begehen? Würde es Ihnen nicht gefährlich erscheinen, eine so enge Verbindung zwischen diesen beiden Ereignissen herzustellen? Ferner, würden Sie das Verbrechen in der Nacht ausführen, wo Ihre Anwesenheit im Hause bekannt ist, wo Ihnen eine Bedienstete die Türe aufgemacht hat? Und endlich, würden Sie, nachdem Sie sich der schweren Mühe unterzogen hätten, den Leichnam durch Feuer zu zerstören, dann so unvorsichtig sein und Ihren eigenen Stock zum Zeichen, daß Sie der Täter sind, im Hause zurücklassen? Geben Sie nicht zu, Lestrade, daß dies alles recht unwahrscheinlich ist?«
»Was den Stock betrifft, Herr Holmes, so wissen Sie so gut wie ich, daß Verbrecher oft bestürzt sind und Handlungen begehen, die ein besonnener Mensch nicht unternehmen würde. Er fürchtete sich wahrscheinlich, wieder umzukehren, um ihn zu holen. – Geben Sie mir eine andere plausible Erklärung.«
»Ich könnte Ihnen leicht ein halbes Dutzend geben,« sagte Holmes. »Wie denken Sie z.B. über folgende, die wohl möglich, ja gar nicht unwahrscheinlich ist? – ich stelle Ihnen gern anheim; davon Gebrauch zu machen –. Der alte Baumeister zeigte seinem Besucher wertvolle Papiere. Ein Landstreicher geht draußen vorbei und sieht es; die Jalousie war ja nur halb heruntergelassen. Der Anwalt geht dann fort. Der Landstreicher steigt ein! Er ergreift einen Stock, den er gerade stehen sieht, schlägt Oldacre tot und verschwindet, nachdem er die Leiche auf den Holzhaufen geschleppt und ihn angezündet hat.«
»Warum sollte der Landstreicher die Leiche verbrennen?«
»Aus demselben Grunde, aus dem es Farlane getan haben soll.«
»Und warum hat der Kerl nichts mitgenommen?«
»Weil es Papiere waren, die er nicht verwerten konnte.«
Lestrade schüttelte den Kopf. Es schien mir aber doch, als ob er von der Richtigkeit seiner eigenen Theorie schon nicht mehr so fest überzeugt wäre wie vorher. »Nun, Herr Holmes, suchen Sie Ihren Landstreicher, aber solange Sie ihn nicht gefunden haben, will ich mich an meinen Gefangenen halten. Die Zukunft wird ja zeigen, wer recht behält. Bedenken Sie besonders den Umstand, daß nach unserer bisherigen Kenntnis keinerlei Papiere entwendet sind und Farlane der einzige Mensch auf Gottes Erde ist, der an ihrer Entfernung kein Interesse hatte, weil er gesetzlicher Erbe war, und sie ihm also unter allen Umständen später zufallen mußten.«
Gegen diese Bemerkung konnte mein Freund nichts einwenden.
»Ich will nicht leugnen, daß Ihre Beweisführung in verschiedener Hinsicht glaubwürdig klingt,« antwortete er. »Ich behaupte nur, daß es auch andere Erklärungen gibt. Wie Sie selbst sagen, wird die Zukunft entscheiden. Guten Morgen! Ich werde übrigens