Else Ury: Die beliebtesten Kinderbücher, Romane, Erzählungen & Märchen (110 Titel in einem Band). Else UryЧитать онлайн книгу.
vorläufig gefiel es ihr jetzt zu Hause besonders gut. Drüben waren neue Mieter eingezogen. Annemie konnte gerade in die Kinderstube sehen. Da hielten drei niedliche Kinder mit Puppen und Pferdchen ihren Einzug. Das größte Mädelchen mochte ungefähr in Annemies Alter sein.
Zugenickt hatten sich die kleinen Mädchen schon oft, auch sich gegenseitig bereits ihre Puppen am Fenster gezeigt. Aber gesprochen hatten sie noch nie miteinander. Zwar hatte Nesthäkchen öfters Mutti gebeten, ob sie sich die Kleine nicht zu Besuch herüberholen dürfte. Aber Mutti wollte vorläufig nichts davon wissen, da sie die Eltern des kleinen Mädchens noch nicht kannte.
»Laß dich von Fräulein fertigmachen, Lotte, ich will dich mitnehmen«, sagte Mutti eines Tages.
»Gehe ich denn heute nicht zu Tante Martha in den Kindergarten?« wunderte sich Annemie.
»Nein, Lotte, wir haben heute etwas viel Wichtigeres vor.« Mutti machte ein geheimnisvolles Gesicht.
»Ach, bitte, bitte, liebe, einzige Mutti, sage mir doch, was das ist«, quälte das neugierige, kleine Fräulein.
Aber Mutti lächelte nur und verriet nichts, so viel Nesthäkchen sie auf dem Wege auch mit Fragen bestürmte.
Durch den Tiergarten ging’s ein Stück, dann eine lange Straße entlang, und nun standen sie vor einem großen, roten Haus mit einer hohen Mauer.
»Ist hier das Gefängnis?« Nesthäkchen griff ängstlich nach Muttis Hand und versuchte, sie zurückzuziehen.
»Nein, ganz so schlimm ist es nicht«, lachte Mutti. »Das ist deine neue Schule, ich will dich beim Direktor anmelden, Lotte.«
Immer noch mißtrauischen Blickes betrat Nesthäkchen zum erstenmal die Schule. Es war gerade Zwischenpause. Auf dem großen Hof spazierten viele kleine und große Mädchen herum, lustig schwatzend und lachend, und dabei ihr Frühstücksbrot verzehrend. Die kleinsten aber hatten sich zu einem Kreis zusammengetan und spielten »Katze und Maus.«
Das bange Gefühl, das Klein-Annemarie beim Anblick der hoben Mauer beschlichen, verschwand. Ach, wie hübsch war es hier, fast so schön wie bei Tante Martha im Kindergarten.
»Ich will mitspielen!« Nesthäkchen machte sich plötzlich von Muttis Hand los und lief auf den Kinderkreis zu.
Aber Mutti fing die kleine Ausreißerin wieder ein.
»Später, wenn du erst ein richtiges Schulmädchen bist, darfst du mitspielen, jetzt müssen wir zum Herrn Direktor. Sei nur nicht schüchtern, Lotte, und gib Antwort, wenn er dich etwas fragt.«
»Ich werde doch nicht so dumm sein und mich schonieren!« meinte das Töchterchen eifrig.
Der Herr Direktor war ein freundlicher Herr mit einem grauschwarzen Vollbart. Er sah eigentlich ein bißchen wie Vater aus und gefiel der Kleinen deshalb sofort.
Freundlich sagte er: »Also das ist die neue, kleine Schülerin – wie heißt du denn, mein Kind?«
»Annemie,« antwortete Nesthäkchen laut und machte dabei ihren schönsten Knicks, »aber wenn ich artig bin, heiße ich Lotte.«
»Hm – für uns genügt Annemarie«, lächelte der Herr Direktor. »Und wie ist der Vatersname?« Er wandte sich jetzt an die Mutter.
»Annemarie Braun«, antwortete diese.
»Geburtsdatum?«
Aber ehe Mutti noch antworten konnte, hatte Nesthäkchen schon mit strahlendem Gesicht ausgerufen: »Am 9. April habe ich Geburtstag, und da wünsche ich mir von Großmama eine Schulmappe und ein Rasierzeug für meinen Herrn Leutnant, weil Klaus ihm einen Bart angemalt hat, und nachmittags gibt es Schokolade mit Schlagsahne!«
»Das ist ja wunderschön«, jetzt lachte der nette Herr Direktor richtig. Dann notierte er das Geburtsjahr, den Stand des Vaters und die Wohnung.
Inzwischen hatte Annemie Mutti etwas bittend zugeflüstert, aber die schüttelte abwehrend den Kopf.
»Möchtest du noch etwas, mein Kind?« fragte der Herr Direktor.
Da schlug Nesthäkchen die großen, blauen Augen treuherzig zu ihm auf.
»Ich möchte so schrecklich gern auch gleich meine Gerda mit in der Schule anmelden, sie hat schon zwei lange Zöpfe und eine Schulschürze.«
»Na, dein Schwesterchen ist wohl noch zu klein zum Schulbesuch, laß sie nur erst so groß werden, wie du bist«, der Herr Direktor klopfte ihr freundlich die Wange.
»Aber Gerda ist doch nicht mein Schwesterchen«, lachte Annemie laut auf, trotz Muttis Versuche, das kleine Plappermäulchen zum Schweigen zu bringen. »Gerda ist doch mein Jüngstes, mein Nesthäkchen, aber im Kindergarten war sie auch aufgenommen.«
»Ja, für Puppen haben wir hier aber keinen Platz, dazu ist die Klasse zu sehr überfüllt«, meinte der Herr Direktor gut gelaunt. »Nun finde dich pünktlich am 10. April um zehn Uhr in der zehnten Klasse ein und sei recht fleißig. Adieu, gnädige Frau, adieu, mein Kind.«
Wieder knickste Annemie, und dann standen sie draußen in dem langen Korridor mit den vielen Türen.
»Du warst gar nicht artig«, begann Mutti, als sie wieder auf der Straße waren, unzufrieden. »Wie konntest du bloß so vorlaut sein!«
»Aber der Herr Direktor hat mich doch gefragt.« Nesthäkchen verzog weinerlich den Mund. »Und wenn er meine Gerda nicht will, dann gehe ich überhaupt auch nicht in die olle Schule! Ohne Gerda macht mir’s gar keinen Spaß!«
»Spaß soll dir die Schule auch nicht machen, Lotte, da wirst du eifrig lernen, damit du kein kleines Dummchen bleibst!« sagte Mutti ernsthaft.
Aber als der 9. April nun erschienen war, als auf Nesthäkchens Geburtstagstisch sieben Lichte und ein großes Lebenslicht flammten, als in der Mitte die neue, braune Schulmappe von Großmama prangte, da freute sich Annemie doch wieder auf die Schule. Ach, die hübsche Fibel mit den Bildern, der feine Federkasten, der so lustig zuknipste! Und eine Federbüchse war drin, genau wie Klaus sie hatte; ein kleiner, schwarzer Kater als Tintenwischer und dazu noch Federhalter und lange, rote Bleistifte. Annemie ruhte nicht eher, als bis sie das neue, grünschottische Schulkleidchen anprobieren durfte, dazu band sie die schwarze Schulschürze um, die noch viel feiner war als Gerdas. Auch die lederne Frühstücksbüchse oder wie Klaus sie nannte, die »Futtertrommel« wurde umgehangen, und zuguterletzt noch die neue Schulmappe aufgeschnallt. So – nun war das kleine Schulmädel fertig.
Zuerst ging es zu Vater ins Sprechzimmer, das zum Glück leer von Patienten war.
»Vater, ich bin jetzt ein richtiges Schulmädchen!« und da saß das richtige Schulmädchen mit ihrer Mappe auch schon auf Vaters Knie.
»Ach, da kann ich dich ja nicht mehr auf meinen Schultern reiten lassen, Lotte, das tut mir aber leid, ein Schulmädchen ist schon zu groß dazu«, meinte Vater lächelnd.
Das Geburtstagskind machte ein nachdenkliches Gesicht.
»Ach, weißt du was, Vatchen, heute kannst du mich noch ruhig reiten lassen, denn ein ganz richtiges Schulmädchen bin ich doch erst morgen.« Annemie, die für ihr Leben gern auf Vaters Schultern ritt, war froh, einen Ausweg gefunden zu haben.
Einige Sekunden später konnte man etwas Merkwürdiges sehen. Doktor Braun sprang im Trab und Galopp durch die ganze Wohnung, und auf seinen Schultern ritt ein kleines Schulmädel mit der aufgeschnallten Mappe und schrie jauchzend: »Hü« – »Hott« – und »brrr«.
»So, das war die Abschiedsvorstellung.« Vater blieb schweratmend stehen und ließ die kleine Reiterin absteigen. »Von heute ab ist es aus mit dem Vergnügen!«
»Aber meine Gerda kannst du doch noch reiten lassen, die ist doch in der Schule nicht angenommen worden«, bat die Kleine.
Das versprach Vater denn auch.
»Mutti, wer wird denn die Krümelchen vom Kaffeetisch abfegen und sie für die Vögelchen aufs Blumenbrett streuen, wenn ich nun jeden Tag in die Schule