Else Ury: Die beliebtesten Kinderbücher, Romane, Erzählungen & Märchen (110 Titel in einem Band). Else UryЧитать онлайн книгу.
alle Puppenstrümpfe stopfen«, sagte das kleine Mädchen an einem Regentage und setzte sich mit ihrem Kinderstuhl neben Fräulein. Dieses hatte ebenfalls einen Berg Strümpfe zum Ausbessern vor sich. Die meisten davon stammten von dem wilden Klaus.
»Annemiechen, du mußt aber erst Stopfen lernen, du verstehst es noch nicht, ich will es dir gern zeigen«, erbot sich Fräulein freundlich.
»Nein, danke schön, Fräulein, ich kann schon ganz allein stopfen. Mutti hat neulich erst zu mir gesagt, als es Milchreis gab: ›Stopfe nicht so, Lotte!‹, da muß ich es doch können«. Treuherzig sah die Kleine Fräulein an.
»Ja, mein Liebling, wenn Strümpfe stopfen und Milchreis stopfen dasselbe wäre, würde es mir auch lieber sein«, lachte Fräulein. »Aber Strümpfe stopfen schmeckt weniger gut.« Sie zeigte dem kleinen Mädchen, wie man ein Fadengitter über das Loch spannt.
Das sah ganz leicht und amüsant aus. Aber als Nesthäkchen es schnell nachmachen wollte, merkte es zu seinem Erstaunen, daß eine Sache oft schwieriger ist, als wie sie aussieht. Annemarie verlor bald die Geduld und zog es vor, die Löcher in den Puppenstrümpfen lieber zuzunähen als zu stopfen. Und schließlich hatte sie auch dazu keine Lust mehr. Es war nur gut, daß die Puppen wenig gingen, sonst hätten sie alle Hühneraugen bekommen.
Und so wie bei den Puppenstrümpfen erging es Nesthäkchen bald überhaupt mit der vorgenommenen Ordnungsliebe. Leider! Die Ausdauer fehlte. Zuerst mußte Fräulein erinnern. Dann, als die Kleine ein immer widerwilligeres Gesicht bei der Erfüllung ihrer Obliegenheiten machte, ermahnte Fräulein. Bald genügte auch das Ermahnen nichts mehr, ja nicht einmal mehr Fräuleins Schelten.
Nicht nur im Hause ließ Annemarie nach, sauber und ordentlich zu sein, sondern auch bei ihren Schularbeiten. Die Hefte, die im Anfang nach der Oktoberzensur fast so tadellos ausschauten wie die von Margot Thielen, zeigten bald wieder Fettflecke und Tintenspritzer. Auch die Schrift, die gleichmäßig und nett gewesen war, ließ jetzt wieder zu wünschen übrig. Nesthäkchen war auf dem besten Wege dazu, wieder ein kleiner Schmierfink zu werden.
Da aber geschah etwas, das die Kleine bis in ihr innerstes Herzchen traf. So tief, wie sie noch nie etwas betrübt hatte. Mätzchen, ihr Vögelchen, das immer so lustig gezwitschert und so hell jubiliert hatte, lag eines Mittags, als sie aus der Schule kam, tot in seinem Bauer. Durch Annemaries eigene Schuld! Sie hatte in ihrer Liederlichkeit und Unachtsamkeit vergessen, dem Tierchen das gewohnte frische Wasser hinzusetzen. Zwei Tage lang hatte sie ihr armes Vögelchen dursten lassen, bis es schließlich vor Durst gestorben war. Dabei hatte sie vorher Mutti doch himmelhoch gebeten, ihr die Pflege von Mätzchen ganz allein zu überlassen.
So bitterlich hatte Nesthäkchen noch nie geweint wie über den Tod ihres Vögelchens. Sie fühlte zum erstenmal, was für böse Folgen Liederlichkeit und Unachtsamkeit haben können. Keiner machte ihr dabei einen Vorwurf. Aber die Vorwürfe, die sie selbst quälten, wenn sie an Mätzchens leeres Bauer vorüberging, waren tausendmal schlimmer, als die von Mutti und Fräulein hätten sein können.
Vater versuchte das erregte Kind durch alle möglichen Trostgründe davon zu überzeugen, daß Mätzchen, sowieso schon etwas altersschwach gewesen sei. Seine arme, kleine Lotte jammerte ihn zu sehr. Auch Mutti tat ihr Kleines in der Seele weh, aber sie dachte: »Das wird eine heilsame Medizin für unsere Lotte sein!«
Ja, die Medizin, die am bittersten schmeckt, pflegt meist die wirksamste zu sein.
Das tote Mätzchen wurde von Annemarie und ihren Brüdern sanft in eine leere Zigarrenkiste gebettet, und der Portier grub ihm auf Klein-Annemaries Bitten in dem schönen Vorgarten, den keiner betreten durfte, ein kleines Grab. Darauf pflanzte Nesthäkchen ein winziges Tannenzweiglein, und Bruder Hans befestigte eine kleine Tafel daran, auf der stand: »Ruhe sanft, Mätzchen!«
Annemarie aber hatte der Schmerz um das arme Vögelchen verwandelt. Sie wurde von nun an ein gewissenhaftes kleines Mädchen, das seine Obliegenheit achtsam und gern erfüllte. Diesmal war Nesthäkchens Ordnungssinn auch von Dauer. Fräulein Hering konnte fast unter jede ihrer Schreibseiten eine Eins setzen, und zu Hause hatten weder Mutti noch Fräulein über Nesthäkchen fernerhin zu klagen.
Eines Mittags, kurz nach zwölf, klingelte das Telephon bei Doktor Brauns. Frau Doktor war selbst am Apparat. Sie glaubte, es handle sich um eine ärztliche Bestellung für ihren Mann.
Da vernahm sie zu ihrem größten Erstaunen die Stimme ihres Nesthäkchens durch das Telephon.
»Mutti, wir sind schon um zwölf aus der Schule gekommen, Fräulein Hering hat gesagt, es sei heute Zirkus Renz in der Schule. Schicke doch, bitte, Fräulein her, daß sie mich und Margot abholt, weil wir doch nicht allein nach Hause gehen dürfen«, so piepste es in den höchsten Tönen.
»Wo bist du denn jetzt bloß, Lotte?« fragte Mutti aufgeregt.
»Ich habe den Herrn Kaufmannsladen an der Ecke gebeten, ob ich mal telephonieren darf, weil die Schule heut wegen Zirkus Renz früher aus ist«, klang es wieder piepsend zurück.
»Zirkus Renz?« Der Mutter war die Sache unverständlich. Aber sie veranlaßte sofort, daß Fräulein hinfuhr und die Kinder holte. Mutti freute sich über ihre kleine Lotte. Nicht nur, daß sie gehorsam ihr Verbot, nicht allein auf der Straße zu gehen, beachtet hatte, sondern auch darüber, daß die Kleine so praktisch war, sie telephonisch zu benachrichtigen.
Aber als es sich herausstellte, daß nicht Zirkus Renz, sondern eine Konferenz in der Schule stattgefunden, da mußte es sich Klein-Annemarie trotz ihrer Schlauheit gefallen lassen, daß man sie tüchtig auslachte.
So vergingen die Wochen, und das liebe Weihnachtsfest rückte näher und näher. Weiße Schneeflocken wirbelten lustig vom Himmel. Klinglingling – klinglingling – klangen Schlittenglocken durch die Straßen. Der Schnee auf dem Blumenbrett vor dem Kinderstubenfenster türmte sich so hoch, daß Annemarie ihrer Freundin Margot keinen Gruß mehr hinübernicken konnte.
Das kleine Mädchen war diesmal noch aufgeregter vor Weihnachten als in früheren Jahren. Würde ihr eifriges Bemühen, sich zu bessern, von Erfolg gekrönt sein? Würde Mutti diesmal mit der Zensur ihrer Lotte zufrieden sein können?
Ja, Nesthäkchens Weihnachtszensur fiel tadellos aus. In der Haltung ihrer Hefte und Bücher prangte »Sehr gut«. Auf den zweiten Platz kam sie neben ihre Freundin Margot. Wie strahlte Klein-Annemarie, als Fräulein Hering ihr anerkennend die Wange klopfte: »Brav, Annemarie, nun fahre nur so fort!«
Am glücklichsten aber war Nesthäkchen, als Mutti ihr Töchterchen mit frohem Gesicht in die Arme schloß. »Du hast mir eine große Weihnachtsfreude bereitet, meine Lotte, daß du deinen Fehler so redlich bekämpft hast.«
Heiligabend aber kam die Belohnung.
Unter dem funkelnden Lichterbaum lag sie. Ein unscheinbares weißes Blatt Papier war es nur. Aber die vier Worte, die es enthielt, erweckten grenzenlosen Jubel bei Nesthäkchen.
»Am dritten Feiertag Kindergesellschaft« stand darauf. Annemarie hatte vorläufig keinen Blick für ihre anderen Geschenke, selig sprang sie mit dem weißen Zettel um die Weihnachtstafel herum.
Da aber traf ein Ton ihr Ohr – ein leises Piepsen, und gleich darauf ein helles Tirilieren – jäh wandte die Kleine den Kopf in der Richtung, aus der die Vogelstimme erklungen.
»Mätzchen, mein Mätzchen, bist du wieder lebendig geworden?« Nesthäkchen traute ihren Augen nicht. Da hüpfte im Bauer ein zitronengelbes Vögelchen herum, ganz genau so schaute es aus wie das tote Mätzchen. Zutraulich blickte es die Kleine aus munteren, schwarzen Äugelein an.
»Mätzchen lebt!« Mit beiden Ärmchen umfaßte das kleine Mädchen die Gitterstäbe des Vogelbauers, um dem Vögelchen seine große Liebe zu zeigen.
»Nein, mein Herzchen«, sagte da die hinter der Kleinen stehende Großmama, die gerührt das Glück ihres Lieblings mitansah. »Dein altes Vögelchen ist tot, aber ich habe dir ein neues geschenkt. Ich glaube, daß ich meiner kleinen Annemie jetzt getrost das Tierchen anvertrauen darf, daß sie nicht wieder vergessen wird, für dasselbe zu sorgen. Ja, kann ich dir vertrauen, Liebling?« Die klaren, gütigen Augen