Gesammelte Werke von Guy de Maupassant. Guy de MaupassantЧитать онлайн книгу.
Er kühlte sich seine rote Wange mit Wasser. Dann ging er auch hinaus und überlegte sich seine Rache. Dieses Mal würde er es ihr nicht verzeihen. Nie im Leben!
Er ging langsam den Boulevard herunter und blieb vor einem Juwelierladen stehen. Er betrachtete im Schaufenster einen Chronometer, den er sich schon lange wünschte. Er kostete 1800 Francs.
Plötzlich begann sein Herz vor Freude zu klopfen und er dachte: »Wenn ich die 70000 Francs verdiene, kann ich es bezahlen.« Und er begann zu träumen, was er alles mit seinen 70000 Francs tun könnte.
Zunächst würde er sich zum Abgeordneten wählen lassen, dann würde er sich den Chronometer kaufen, er würde an der Börse spielen und dann … und dann noch … Er wollte nicht auf die Redaktion gehen, er zog es vor, mit Madeleine die Sache zu besprechen, bevor er Walter wieder sah und seinen Artikel schrieb, und so schlug er den Weg nach Hause ein.
Als er die Rue Drouot erreichte, blieb er plötzlich stehen. Er hatte vergessen, sich nach dem Befinden des Grafen de Vaudrec zu erkundigen; er wohnte in der Chaussee d’Autin. Er kehrte langsam um und dachte in glücklicher Träumerei an tausend angenehme und schöne Sachen, an den kommenden Reichtum, an den Trottel Laroche und an die alte Hexe, die Frau Direktor. Übrigens machte ihm Clotildes Zorn weiter keine Sorge, denn er wußte wohl, daß sie ihm bald verzeihen würde.
Im Hause, wo Graf de Vaudrec wohnte, fragte er den Portier:
»Wie geht es dem Grafen? Ich hörte, daß er die letzten Tage krank war?«
»Dem Herrn Grafen geht es sehr schlecht, mein Herr«, bekam er zur Antwort. »Man glaubt, daß er die Nacht nicht überleben wird. Die Gicht ist ihm bis ans Herz gestiegen.«
Du Roy war so betroffen, daß er nicht wußte, was er anfangen sollte! Vaudrec am Sterben! Wirre Gedanken schossen ihm durch den Kopf, die er sich selbst nicht zu gestehen wagte.
Er murmelte:
»Danke … ich werde wiederkommen.«
Aber er verstand gar nicht, was er sagte. Dann nahm er eine Droschke und fuhr nach Hause.
Seine Frau war da. Er stürzte in ihr Zimmer und sagte:
»Weißt du das nicht, Vaudrec liegt im Sterben!«
Sie hob ihre Augen vom Brief, den sie gelesen hatte und stammelte:
»Was sagst du? … Du sagst? … Du sagst? …«
»Ich sage, daß der Vaudrec stirbt. Die Gicht ist ihm bis ans Herz gestiegen.«
Dann fügte er hinzu:
»Was denkst du zu tun?«
Sie stand auf, leichenblaß, vor Erregung; über ihre Wangen lief ein nervöses Zittern. Dann fing sie an zu schluchzen und barg ihr Gesicht in die Hände. Sie stand da, weinend, das Herz zerrissen vor Verzweiflung.
»Ich … ich gehe«, sagte sie endlich. »Kümmere dich nicht um mich … ich weiß nicht, wann ich zurück sein werde … warte nicht auf mich …«
»Gut,« sagte er, »gehe!«
Sie drückten sich die Hände, und sie ging so schnell, daß sie vergaß, ihre Handschuhe mitzunehmen.
Nach dem Essen setzte sich Georges hin und schrieb einen Artikel. Er schrieb ihn genau so, wie der Minister es haben wollte, und deutete an, daß die Expedition nach Marokko nicht stattfinden würde. Dann brachte er das Manuskript auf die Redaktion, plauderte da mit seinem Chef und mit leichtem, freudigem Herzen ging er fort. Weswegen ihm so zumute war, konnte er nicht ergründen. Seine Frau war noch nicht zurück. Er legte sich zu Bett und schlief ein.
Es war gegen Mitternacht, als Madeleine zurückkam. Georges wachte plötzlich auf und setzte sich im Bett auf.
»Nun?« fragte er.
Er hatte sie noch nie so bleich und so erregt gesehen.
»Er ist tot«, flüsterte sie.
»Ah! Und … er hat dir nichts gesagt?«
»Nein, nichts. Als ich kam, hatte er das Bewußtsein verloren.«
Georges dachte nach. Tausend Fragen gingen ihm durch den Kopf, die er nicht zu stellen wagte.
»Leg’ dich hin«, sagte er.
Sie zog sich aus und legte sich neben ihn.
Er fragte:
»War jemand von den Verwandten da?«
»Nur ein Neffe.«
»So. Hat er ihn oft gesehen?«
»Niemals. Sie haben sich seit zehn Jahren nicht gesehen.«
»Hatte er noch andere Verwandte?«
»Nein, ich glaube nicht.«
»Dann … dieser Neffe wird wohl alles erben?«
»Ich weiß es nicht!«
»War er reich, der Vaudrec?«
»Ja, sehr reich.«
»Weißt du, was er ungefähr besessen hat?«
»Nein, nicht genau. Vielleicht eine oder zwei Millionen.«
Er sagte nichts mehr. Sie löschte das Licht aus. Sie lagen wach, in Gedanken versunken nebeneinander. Er konnte nicht mehr schlafen. Die versprochenen 70000 Francs von Frau Walter kamen ihm unbedeutend vor. Plötzlich war es ihm, als ob Madeleine weinte. Um sich zu vergewissern, fragte er:
»Schläfst du?«
»Nein«, antwortete sie mit einer weichen, zitternden Stimme.
»Ich hab’ vergessen, dir zu sagen,« fuhr er weiter fort, »daß dein Minister uns reingelegt hat.«
»Wieso denn?«
Und er erzählte ihr ausführlich die Geschichte, die zwischen Laroche und Walter vorbereitet worden ist.
Als er zu Ende war, fragte sie:
»Woher weißt du denn das?«
»Du wirst mir wohl gestatten, dir dieses zu verschweigen«, antwortete er. »Du hast deine Quellen, denen ich nicht nachforsche, ich die meinigen, und möchte auch darüber keine Rechenschaft ablegen. Ich verantworte jedenfalls die Richtigkeit meiner Nachricht.«
»Ja,« sagte sie, »es kann schon stimmen. Ich vermutete, daß sie etwas ohne uns vorbereiteten.«
Georges, der nicht einschlafen konnte, näherte sich seiner Frau und küßte ihr leise das Ohr. Sie wies ihn lebhaft ab:
»Bitte, laß mich in Frieden«, sagte sie. »Ja, ich bin heute wirklich nicht zu Kindereien aufgelegt!«
Er antwortete nichts, drehte sich zur Wand, schloß die Augen und schlief allmählich ein.
VI.
Die Kirche war ganz mit Schwarz bezogen, und ein großes Wappenschild über dem Portal mit einer Krone darüber verkündete den Passanten, daß hier ein Edelmann beigesetzt wird.
Die Trauerfeier war zu Ende und die Gäste gingen langsam vor dem Sarge am Neffen des Grafen vorbei; er drückte ihnen die Hände und erwiderte ihre Grüße. Als Georges Du Roy und seine Frau die Kirche verlassen hatten, gingen sie langsam, schweigend nach Hause.
»Es ist wirklich merkwürdig«, sagte Georges, ohne sich zu seiner Frau zu wenden.
»Was denn, mein Freund?« fragte Madeleine.
»Daß Vaudrec uns nichts vererbt hat!«
Sie errötete plötzlich, als breitete sich ein rosa Schleier vom Hals bis zum Gesicht, und sagte:
»Warum sollte er uns was hinterlassen? Es lag doch kein Grund vor.«