Gesammelte Werke von Guy de Maupassant. Guy de MaupassantЧитать онлайн книгу.
dem Tode ihres Vaters hatte die Baronin die Schwester bei sich behalten wollen, aber die alte Jungfer hatte die fixe Idee, daß sie allen Menschen zur Last fiele, daß sie unnütz wäre und im Weg, und zog sich in eines jener Klöster zurück, die alleinstehenden Leuten gegen Bezahlung eine Heimstätte gewähren.
Ab und zu brachte sie einmal vier Wochen oder zwei Monate in der Familie zu. Sie war ein kleines Dämchen, das wenig sprach, sich immer zurückzog, nur zu den Mahlzeiten erschien, dann auf ihr Zimmer ging, wo sie sich immerfort einsperrte.
Sie sah gutmütig und etwas ältlich aus, obgleich sie nur zweiundvierzig Jahre zählte. Ihr Auge hatte etwas Weiches und Trauriges, sie hatte nie in der Familie etwas gegolten. Als sie ganz klein war, hatte man sie kaum geliebkost, sie war nicht hübsch, nicht ausgelassen, still und sanft hielt sie sich bei Seite. Das war an ihr hängen geblieben, und auch als junges Mädchen kümmerte sich niemand um sie. Sie war wie ein Schatten, ein Hausstück, ein lebendiges Möbel, das man gewohnt ist, täglich zu sehen, ohne daß man sich weiter darum kümmert. Ihre Schwester betrachtete sie, wie sie es im väterlichen Hause gewohnt gewesen, als ein Geschöpf ohne jede Bedeutung, das seine Existenz verfehlt hat, sie ward mit rücksichtsloser Familiarität behandelt, worunter sich eine Art wegwerfender Güte verbarg. Sie hieß Lieschen, und dieser jung und geziert klingende Name schien sie zu stören. Als man merkte, daß sie keinen Mann fand und wohl nie einen finden würde, ward aus Lieschen Liese. Seitdem Johanna geboren worden, war sie »Tante Liese« geworden, eine bescheidene, nette, furchtbar schüchterne Verwandte, die selbst gegen ihre Schwester und ihren Schwager so war, obgleich die beiden sie liebten, aber doch mit ziemlich oberflächlicher Zuneigung, die aus gleichgiltiger Zärtlichkeit bestand, aus unbewußter Sympathie und aus natürlicher Güte.
Manchmal, wenn die Baronin von weit zurückliegenden Dingen aus ihrer Jugend sprach, sagte sie, um den Zeitpunkt zu bezeichnen:
– Es war damals, als Liese ihren Rappel hatte.
Mehr wurde nie gesagt. Dieser Rappel war wie von einem geheimnisvollen Schleier umgeben.
Eines Abends hatte sich Liese, die damals zwanzig Jahre alt war, ohne daß man wußte warum, ins Wasser gestürzt. Kein Ereignis in ihrem Leben, nichts in ihrem Benehmen ließ diesen verrückten Streich voraussehen. Schon halb tot, hatte man sie herausgezogen, und ihre Verwandten waren entsetzt, statt nach der geheimen Ursache der That zu suchen. Sie begnügten sich damit immer vom Rappel zu sprechen, wie sie etwa von dem Malheur des Pferdes Coco redeten, das sich ein paar Tage vorher in einer Radspur das Bein gebrochen hatte, sodaß es hatte getötet werden müssen.
Seit dieser Zeit wurde Lieschen, oder bald darauf Liese, wie ein ganz klein wenig schwachsinnig behandelt. Die milde Mißachtung, die sie ihren nächsten Angehörigen einflößte, teilte sich langsam ihrer ganzen Umgebung mit. Sogar die kleine Johanna kümmerte sich mit jenem natürlichen Ahnungsvermögen der Kinder nicht um sie, kam nie zu ihr ans Bett, ihr guten Morgen zu sagen und betrat nie ihr Zimmer. Es war, als ob das Stubenmädchen, Rosalie, die dieses Zimmer zu besorgen hatte, ganz allein wüßte, wo sie überhaupt gebettet war.
Wenn Tante Liese zum Frühstück ins Eßzimmer kam, ging die Kleine aus Gewohnheit zu ihr und bot ihr die Stirn zum Kuß. Das war alles.
Wollte jemand etwas von ihr, so wurde einer der Dienstboten geschickt, um sie zu holen und war sie nicht da, so kümmerte man sich weiter nicht darum. Man dachte nie an sie, nie wäre jemandem der Gedanke gekommen, beunruhigt zu fragen:
– Herr Gott, ich habe doch Liese heute früh noch gar nicht gesehen?
Sie hatte nirgends einen Platz in der Welt, sie war eines jener Wesen, das sogar die Menschen nicht kennen, die ihm doch nahe stehen. Ihr Tod hätte im Hause keine Lücke hinterlassen. Sie verstand weder in das Dasein, noch in die Lebensgewohnheiten, noch in das Herz derjenigen zu dringen, in deren Kreis sie lebte.
Die Worte »Tante Liese« erweckten keinen freundlichen Widerhall in andern Menschen. Es war, als wenn man die Worte »die Kaffeekanne« oder »die Zuckerdose« ausgesprochen hätte.
Sie huschte immer mit kleinen, eiligen, lautlosen Schritten hin, sie machte nie Lärm, stieß nie irgendwo an und schien den toten Dingen die Eigenschaft, keinen Laut von sich zu geben, abgelauscht zu haben. Ihre Hände waren wie aus Watte, so leicht und zart faßte sie alles an.
Gegen Mitte Juli traf sie ein, ganz verstört über den Gedanken dieser Heirat. Sie brachte eine Menge Geschenke mit, die, weil sie von ihr stammten, kaum einen Eindruck machten, und am Tage nach ihrer Ankunft merkte man schon gar nicht mehr, daß sie da war.
Aber in ihr gährte eine außergewöhnliche Bewegung, ihre Augen und ihre Blicke verließen das Brautpaar nicht. Mit sonderbarer Ausdauer und fieberhafter Thätigkeit arbeitete sie in ihrem Zimmer, wo niemand hin kam, wie eine einfache Näherin an Johannas Aussteuer.
Alle Augenblicke zeigte sie der Baronin Taschentücher, die sie selbst gesäumt hatte, Servietten, deren Monogramm sie gestickt, und fragte:
– Adelaide, ist das gut so?
Und Mutting antwortete, indem sie den Gegenstand gleichgiltig betrachtete:
– Gieb Dir doch nicht solche Mühe, meine arme Liese.
Eines Abends, gegen Ende des Monats an einem erstickend heißen Tage, stieg der Mond auf in einer jener klaren, milden Nächte, die einen seltsam bewegen, weich stimmen, begeistern und alles, was von stiller Sehnsucht in der Seele ruht, erwecken. In den schweigenden Salon strömte die milde Luft von den Feldern. Die Baronin spielte mit ihrem Mann im Rundschein, den der Lampenschirm auf den Tisch warf, langsam eine Partie Karten. Tante Liese saß neben ihnen uud strickte. Die jungen Leute standen am offnen Fenster und blickten in den mondhellen Garten hinaus. Der Schatten der Linde und Platane fiel auf den großen Rasenplatz, der sich beleuchtet und leuchtend bis zum ganz dunklen Park erstreckte.
Durch den süßen Reiz dieser Nacht, diese nebelhafte Helle, die auf Bäume und Beete fiel, mächtig angezogen, wandte sich Johanna zu ihren Eltern um:
– Papachen, dürfen wir ein bißchen draußen auf dem Rasen vor dem Schloß spazieren gehen?
Der Baron antwortete, ohne sich im Spiel stören zu lassen:
– Geht nur Kinder!
Sie gingen und begannen langsam auf dem großen, hell beleuchteten Rasenstück bis zu dem kleinen Wäldchen hinten auf und nieder zu schreiten.
Die Zeit verstrich, ohne daß sie dachten, wieder hinein zu gehen. Die Baronin war müde und wollte zu Bett:
– Wir müssen die Verliebten herein rufen.
Der Baron warf einen Blick auf den erleuchteten Garten, in dem die beiden Schatten langsam umherwandelten:
– Ach laß sie doch, es ist so wundervoll draußen. Liese erwartet sie schon, nicht wahr Liese?
Die alte Jungfer hob ihre unsteten Augen und antwortete mit ihrer schüchternen Stimme:
– Ja, natürlich, ich will sie erwarten.
Papachen half der Baronin aufstehen und sagte, selbst etwas ermattet von der Hitze des Tages:
– Ich gehe auch zu Bett. – Und er ging mit seiner Frau davon.
Nun stand ihrerseits Tante Liese auf, ließ auf der Stuhllehne die angefangene Arbeit liegen, lehnte sich ans Fenster und blickte in die wundervolle Nacht hinaus.
Das Brautpaar ging ununterbrochen auf dem Rasenplatz auf und ab, vom Wäldchen bis zum Haus, vom Haus bis zum Wäldchen. Sie drückten sich die Hände und sprachen nicht mehr, als wären sie geistesabwesend, ganz ergriffen vom Zauber der Nacht.
Johanna bemerkte plötzlich am Fenster die Gestalt der alten Jungfer, von der Lampe hinter ihr hell abgezeichnet; da sagte sie:
– Da sieh mal, Tante Liese sieht uns zu.
Der Vicomte blickte auf und sagte in jenem gleichgiltigen Ton, der ganz gedankenlos klingt:
– Ja, Tante Liese sieht uns zu.
Und sie ließen sich nicht stören, weiter zu träumen,