Gesammelte Werke von Guy de Maupassant. Guy de MaupassantЧитать онлайн книгу.
Sie schüttelte den Kopf, unfähig, zu sprechen. Endlich brachte sie heraus:
– Sie ist meine Mutter, meine Mutter, ich will allein bei ihr wachen.
Der Arzt flüsterte:
– Lassen Sie ihr den Willen, die Wärterin kann im Nebenzimmer bleiben.
Der Priester und Julius traten gedankenvoll an das Bett der Toten, dann kniete der Pfarrer Picot auch nieder, betete, erhob sich wieder und ging mit den Worten:
»Sie war eine Heilige«, in demselben Ton, in dem er sagte: Dominus vobiscum.
Dann fragte der Vicomte in gewöhnlichem Ton:
– Willst Du nicht etwas essen?
Johanna antwortete nicht, sie wußte nicht, daß er mit ihr sprach. Er wiederholte: – Es wäre vielleicht ganz gut, wenn Du etwas äßest, um Dich aufrecht zu erhalten. Sie antwortete verstört:
– Laß sofort Papa rufen!
Und er ging, um einen reitenden Boten nach Rouen zu schicken.
Sie blieb in einer Art erstarrten Schmerz versunken, als ob sie nur auf das letzte Alleinsein mit der Toten gewartet hätte, um sich ganz ihrer Verzweiflung zu überlassen.
Es war dunkel geworden im Zimmer, die Dämmerung hüllte die Leiche ein. Die Witwe Dentu begann mit ihrem leisen Schritt hin und her zu gehen, unsichtbare Gegenstände suchend und hin und her legend, mit den lautlosen Bewegungen der Krankenwärterin.
Dann zündete sie zwei Lichter an, die sie leise auf den mit einer weißen Serviette bedeckten Nachttisch am Kopfende des Bettes stellte.
Johanna schien nichts zu sehen, nichts zu fühlen, nichts zu verstehen. Sie wartete darauf, allein zu sein. Julius trat wieder ein, er hatte gegessen und fragte noch einmal:
– Willst Du nichts zu Dir nehmen?
Seine Frau schüttelte den Kopf. Er setzte sich nun mit ergebener Miene zu ihr und schwieg, als wäre er traurig. So blieben sie alle drei bewegungslos, ab und zu schlief die Wärterin ein, schnarchte ein wenig und schreckte dann plötzlich wieder empor.
Endlich stand Julius auf, mit den Worten:
– Willst Du jetzt wirklich allein bleiben?
Sie nahm in unwillkürlichem Antrieb seine Hand und sagte:
– Ja, ja, laß mich allein!
Er küßte sie auf die Stirn und flüsterte:
– Ich werde von Zeit zu Zeit nach Dir sehen!
Und er ging mit der Witwe Dentu hinaus, die ihren Stuhl ins Nebenzimmer rollte.
Johanna schloß die Thür, dann öffnete sie weit die beiden Fenster, und der laue Abendhauch, mit dem von den Wiesen der Heuduft hereinströmte, schlug ihr entgegen, denn das Heu, das zwei Tage vorher gemäht worden, lag da drüben im Mondschein.
Diese milde Luft war ihr unangenehm und traf sie wie ein Hohn. Sie trat wieder ans Bett, nahm eine der kalten, leblosen Hände und begann, ihre Mutter zu betrachten.
Sie war nicht mehr geschwollen, wie bei dem Anfall. Jetzt schien sie ruhig zu schlafen, wie sonst, und durch die bleiche Flamme der Lichter, die der Windhauch bewegte, änderten sich jeden Augenblick die Schatten auf ihrem Gesicht und belebten sie, als bewegte sie sich.
Johanna blickte sie starr an, und aus ferner Jugendzeit kamen ihr eine Menge Erinnerungen.
Sie entsann sich der Besuche Muttings im Sprechzimmer des Klosters, wo sie ihr die Düte mit Kuchen gegeben, einer Menge kleiner Einzelheiten, kleiner Zärtlichkeiten, Worte, Töne, Lieblingsbewegungen, der Falten um ihre Augen, wenn sie lachte, ihres tiefen Atemholens, wenn sie sich eben gesetzt, – alles, alles kam ihr wieder ins Gedächtnis, und sie blieb in Gedanken stehen und sagte vor sich hin, als hätte sie den Verstand verloren:
– Sie ist tot!
Und das ganze Furchtbare dieses Wortes ward ihr klar.
Die dort lag, ihre Mutter, ihr Mutting, Frau Adelaide war tot? Sie würde sich nie wieder bewegen, nie wieder sprechen, nie wieder lachen, nie wieder Papachen bei Tisch gegenüber sitzen und nie wieder sagen: »Guten Morgen, Hannele!« Sie war tot!
Man würde sie in den bretternen Kasten legen, ihn zunageln und ihn versenken, und alles wäre aus. Man würde sie nie wieder erblicken. War das möglich, daß sie keine Mutter mehr hatte? Dieses liebe, gewohnte Gesicht, das sie gesehen, seit sie zum ersten Mal die Augen aufgethan, das sie geliebt, seit sie zum ersten Male die Arme ausgestreckt. Dieser Brunnen, aus dem man alle seine Liebe schöpft, dieses einzige Wesen: die Mutter, die für das Menschenherz mehr bedeutet, als alle übrigen Wesen der Erde, war verschwunden, und nur noch ein paar Stunden lang konnte sie ihr Gesicht sehen, diese unbeweglichen Züge, hinter denen kein Gedanke mehr war. Und dann? Dann blieb nur die Erinnerung.
Und sie fiel in furchtbarer Verzweiflung auf die Kniee, die Hände krampften sich in das Betttuch, sie legte den Mund auf das Bett und rief mit herzzerreißender Summe, erstickt in die Decken hinein:
– Ach Mama! Meine arme Mama! Mutting!
Als sie dann fühlte, daß ihre Sinne sich verwirrten, wie damals in jener Nacht, als sie in den Schnee hinaus geflohen war, erhob sie sich und ging ans Fenster, um sich zu erfrischen, um neue Luft einzuatmen, die noch nicht das Lager dieser Toten umspielt.
Der gemähte Rasen, die Bäume, die Haide, dort drüben das Meer lagen in tiefem Frieden, schliefen im stillen Zauber der schimmernden Mondnacht. Etwas von jener ruhigen Milde drang in Johannas Herz und sie fing langsam an zu weinen.
Dann trat sie wieder ans Bett, setzte sich, nahm Muttings Hand, als wachte sie bei einer Kranken. Ein großes Insekt war, durch die Lichter angezogen, hereingeflogen. Es schlug wie ein Ball gegen die Mauer und summte von einem Ende des Zimmers zum andern. Johanna störte das Brummen auf, und sie sah nach ihm, aber sie erblickte nur immer den Schatten, der an der Decke hinhüpfte. Dann hörte sie nichts mehr. Dann achtete sie auf das leise Ticken der Kaminuhr und einen andern leisen Ton, ein kaum vernehmbares Geräusch. Es war Muttings Uhr, die weiter ging, die man in ihrem Kleide hatte stecken lassen, das auf einem Stuhl am Fußende des Bettes lag. Und plötzlich erneuerte sich der bittere Schmerz in Johannas Herzen, durch den unbestimmten Zusammenhang, zwischen der Toten und diesem Räderwerk, das noch immer weiter lief. Sie sah nach der Zeit, es war kaum halb elf Uhr; das Entsetzen packte sie, hier die ganze Nacht zubringen zu sollen.
Sie dachte an andere Dinge, an ihr eigenes Dasein, an Rosalie, Gilberta, an die bittern Enttäuschungen ihres Herzens. Es gab also nur Elend, Kummer und Tod, nur Betrug, nur Lüge, nur Leid und Thränen. Wo sollte man Ruhe und Frieden finden? Wohl in einem andern Leben, wenn die Seele befreit war von dem irdischen Gefährten. Die Seele? Sie begann zu träumen über dies unergründliche Rätsel, und plötzlich kamen ihr poetische Vorstellungen, die ebenso unbestimmte Hypothesen ablösten. Wo war jetzt die Seele ihrer Mutter? Die Seele dieses unbeweglichen, eisigen Körpers? Wahrscheinlich sehr weit, irgendwo im Weltenraume. Aber wo? Verflüchtigt wie der Duft einer vertrockneten Blume, oder herumflatternd, wie ein unsichtbarer Vogel, der seinem Käfig entschlüpft ist?
War sie zu Gott zurück gerufen oder irgendwo in neue Welten verweht, mit andern Keimen vermischt, die sich bald erschließen sollten?
Vielleicht sehr nahe, in diesem Zimmer, in der Nähe dieses leblosen Körpers, den sie verlassen! Und plötzlich war es Johanna, als träfe sie ein Hauch, als berühre sie ein Geist. Sie hatte Angst, eine fürchterliche, so wahnsinnige Angst kam über sie, daß sie nicht wagte, sich nur zu bewegen, noch zu atmen, noch sich umzublicken; ihr Herz schlug wie im Entsetzen.
Und plötzlich begann das unsichtbare Insekt seinen Flug von neuem und stieß wieder, das Zimmer umkreisend, an die Mauer. Sie schauerte zusammen von Kopf zu Fuß, dann, als sie plötzlich das flüchtige Tier erkannte, wurde sie ruhiger, stand auf und drehte sich um. Da fielen ihre Augen auf den Schreibtisch mit den Sphinxköpfen, worin das Reliquienfach war.
Ein seltsam zarter Gedanke überkam sie; sie wollte