Die wichtigen Werke von Arthur Schopenhauer. Arthur SchopenhauerЧитать онлайн книгу.
Brechbarkeit zu reden, – wird einst unter den großen intellektualen Charakterzügen der Menschheit überhaupt und der Deutschheit insbesondere aufgezählt werden. – Aus dem selben oben angegebenen Grunde erklärt sich die eben so bekannte Thatsache, daß umgekehrt, ausgezeichnete Mathematiker wenig Empfänglichkeit für die Werke der schönen Kunst haben, was sich besonders naiv ausspricht in der bekannten Anekdote von jenem französischen Mathematiker, der nach Durchlesung der Iphigenia des Racine achselzuckend fragte: Qu'est-ce-que cela prouve? – Da ferner scharfe Auffassung der Beziehungen gemäß dem Gesetze der Kausalität und Motivation eigentlich die Klugheit ausmacht, die geniale Erkenntniß aber nicht auf die Relationen gerichtet ist; so wird ein Kluger, sofern und während er es ist, nicht genial, und ein Genialer, sofern und während er es ist, nicht klug seyn. – Endlich steht überhaupt die anschauliche Erkenntniß, in deren Gebiet die Idee durchaus liegt, der vernünftigen oder abstrakten, welche der Satz vom Grunde des Erkennens leitet, gerade entgegen. Auch findet man bekanntlich selten große Genialität mit vorherrschender Vernünftigkeit gepaart, vielmehr sind umgekehrt geniale Individuen oft heftigen Affekten und unvernünftigen Leidenschaften unterworfen. Der Grund hievon ist dennoch nicht Schwäche der Vernunft, sondern theils ungewöhnliche Energie der ganzen Willenserscheinung, die das geniale Individuum ist, und welche sich durch Heftigkeit aller Willensakte äußert, theils Uebergewicht der anschauenden Erkenntniß durch Sinne und Verstand über die abstrakte, daher entschiedene Richtung auf das Anschauliche, dessen bei ihnen höchst energischer Eindruck die farblosen Begriffe so sehr überstrahlt, daß nicht mehr diese, sondern jener das Handeln leitet, welches eben dadurch unvernünftig wird: demnach ist der Eindruck der Gegenwart auf sie sehr mächtig, reißt sie hin zum Unüberlegten, zum Affekt, zur Leidenschaft. Daher auch, und überhaupt weil ihre Erkenntniß sich zum Theil dem Dienste des Willens entzogen hat, werden sie im Gespräche nicht sowohl an die Person denken, zu der, sondern mehr an die Sache, wovon sie reden, die ihnen lebhaft vorschwebt: daher werden sie für ihr Interesse zu objektiv urtheilen oder erzählen, nicht verschweigen, was klüger verschwiegen bliebe u.s.w. Daher endlich sind sie zu Monologen geneigt und können überhaupt mehrere Schwächen zeigen, die sich wirklich dem Wahnsinn nähern. Daß Genialität und Wahnsinn eine Seite haben, wo sie an einander gränzen, ja in einander übergehn, ist oft bemerkt und sogar die dichterische Begeisterung eine Art Wahnsinn genannt worden: amabilis insania nennt sie Horaz (Od. III, 4) und »holden Wahnsinn« Wieland im Eingang zum »Oberon«. Selbst Aristoteles soll, nach Seneka's Anführung (de tranq. animi, 15, 16), gesagt haben: Nullum magnum ingenium sine mixtura dementiae fuit. Plato drückt es, im oben angeführten Mythos von der finstern Höhle (de Rep. 7), dadurch aus, daß er sagt: Diejenigen, welche außerhalb der Höhle das wahre Sonnenlicht und die wirklich seienden Dinge (die Ideen) geschaut haben, könnennachmals in der Höhle, weil ihre Augen der Dunkelheit entwöhnt sind, nicht mehr sehn, die Schattenbilder da unten nicht mehr recht erkennen, und werden deshalb, bei ihren Mißgriffen, von den Ändern verspottet, die nie aus dieser Höhle und von diesen Schattenbildern fortkamen. Auch sagt er im Phädros (S. 317) geradezu, daß ohne einen gewissen Wahnsinn kein achter Dichter seyn könne, ja (S. 327) daß jeder, welcher in den vergänglichen Dingen die ewigen Ideen erkennt, als wahnsinnig erscheine. Auch Cicero führt an: Negat enim, sine furore, Democritus, quemquam poetam magnum esse posse; quod idem dicit Plato (de divin. I, 37). Und endlich sagt Pope:
Great wits to madness sure are near allied, And thin partitions do their bounds divide. 55
Besonders lehrreich in dieser Hinsicht ist Goethes »Torquato Tasso«, in welchem er uns nicht nur das Leiden, das wesentliche Märtyrerthum des Genius als solchen, sondern auch dessen stetigen Uebergang zum Wahnsinn vor die Augen stellt. Endlich wird die Thatsache der unmittelbaren Berührung zwischen Genialität und Wahnsinn theils durch die Biographien sehr genialer Menschen, z.B. Rousseau's, Byron's, Alfieri's, und durch Anekdoten aus dem Leben anderer bestätigt; theils muß ich andererseits erwähnen, bei häufiger Besuchung der Irrenhäuser, einzelne Subjekte von unverkennbar großen Anlagen gefunden zu haben, deren Genialität deutlich durch den Wahnsinn durchblickte, welcher hier aber völlig die Oberhand erhalten hatte. Dieses kann nun nicht dem Zufall zugeschrieben werden, weil einerseits die Anzahl der Wahnsinnigen verhältnißmäßig sehr klein ist, andererseits aber ein geniales Individuum eine über alle gewöhnliche Schätzung seltene und nur als die größte Ausnahme in der Natur hervortretende Erscheinung ist; wovon man sich allein dadurch überzeugen kann, daß man die wirklich großen Genien, welche das ganze kultivirte Europa in der ganzen alten und neuen Zeit hervorgebracht hat, wohin aber allein diejenigen zu rechnen sind, welche Werke lieferten, die durch alle Zeiten einen bleibenden Werth für die Menschheit behalten haben, – daß man, sage ich, diese Einzelnen aufzählt und ihre Zahl vergleicht mit den 250 Millionen, welche, sich alle dreißig Jahre erneuernd, beständig in Europa leben. Ja, ich will nicht unerwähnt lassen, daß ich einige Leute von zwar nicht bedeutender, aber doch entschiedener, geistiger Ueberlegenheit gekannt habe, die zugleich einen leisen Anstrich von Verrücktheit verriethen. Danach möchte es scheinen, daß jede Steigerung des Intellekts über das gewöhnliche Maaß hinaus, als eine Abnormität, schon zum Wahnsinn disponirt. Inzwischen will ich über den rein intellektuellen Grund jener Verwandtschaft zwischen Genialität und Wahnsinn meine Meinung möglichst kurz vortragen, da diese Erörterung allerdings zur Erklärung des eigentlichen Wesens der Genialität, d.h. derjenigen Geisteseigenschaft, welche allein ächte Kunstwerke schaffen kann, beitragen wird. Dies macht aber eine kurze Erörterung des Wahnsinnes selbst nothwendig.56
Eine klare und vollständige Einsicht in das Wesen des Wahnsinnes, ein richtiger und deutlicher Begriff Desjenigen, was eigentlich den Wahnsinnigen vom Gesunden unterscheidet, ist, meines Wissens, noch immer nicht gefunden. – Weder Vernunft, noch Verstand kann den Wahnsinnigen abgesprochen werden: denn sie reden und vernehmen, sie schließen oft sehr richtig; auch schauen sie in der Regel das Gegenwärtige ganz richtig an und sehn den Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung ein. Visionen, gleich Fieberphantasien, sind kein gewöhnliches Symptom des Wahnsinnes: das Delirium verfälscht die Anschauung, der Wahnsinn die Gedanken. Meistens nämlich irren die Wahnsinnigen durchaus nicht in der Kenntniß des unmittelbar Gegenwärtigen; sondern ihr Irrereden bezieht sich immer auf das Abwesende und Vergangene, und nur dadurch auf dessen Verbindung mit dem Gegenwärtigen. Daher nun scheint mir ihre Krankheit besonders das Gedächtniß zu treffen; zwar nicht so, daß es ihnen ganz fehlte: denn Viele wissen Vieles auswendig und erkennen bisweilen Personen, die sie lange nicht gesehn, wieder; sondern vielmehr so, daß der Faden des Gedächtnisses zerrissen, der fortlaufende Zusammenhang desselben aufgehoben und keine gleichmäßig zusammenhängende Rückerinnerung der Vergangenheit möglich ist. Einzelne Scenen der Vergangenheit stehn richtig da, so wie die einzelne Gegenwart; aber in ihrer Rückerinnerung sind Lücken, welche sie dann mit Fiktionen ausfüllen, die entweder, stets die selben, zu fixen Ideen werden: dann ist es fixer Wahn, Melancholie; oder jedesmal andere sind, augenblickliche Einfälle; dann heißt es Narrheit, fatuitas. Dieserhalb ist es so schwer, einem Wahnsinnigen, bei seinem Eintritt ins Irrenhaus, seinen frühem Lebenslauf abzufragen. Immer mehr nun vermischt sich in seinem Gedächtnisse Wahres mit Falschem. Obgleich die unmittelbare Gegenwart richtig erkannt wird, so wird sie verfälscht durch den fingirten Zusammenhang mit einer gewähnten Vergangenheit: sie halten daher sich selbst und Andere für identisch mit Personen, die bloß in ihrer fingirten Vergangenheit liegen, erkennen manche Bekannte gar nicht wieder, und haben so, bei richtiger Vorstellung des gegenwärtigen Einzelnen, lauter falsche Relationen desselben zum Abwesenden. Erreicht der Wahnsinn einen hohen Grad, so entsteht völlige Gedächtnißlosigkeit, weshalb dann der Wahnsinn durchaus keiner Rücksicht auf irgend etwas Abwesendes, oder Vergangenes fähig ist, sondern ganz allein durch die augenblickliche Laune, in Verbindung mit den Fiktionen, welche in seinem Kopf die Vergangenheit füllen, bestimmt wird: man ist alsdann bei ihm, wenn man ihm nicht stets die Uebermacht vor Augen hält, keinen Augenblick vor Mißhandlung, oder Mord gesichert. – Die Erkenntniß des Wahnsinnigen hat mit der des Thieres dies gemein, daß beide auf das Gegenwärtige beschränkt sind; aber was sie unterscheidet ist dieses: das Thier hat eigentlich gar keine Vorstellung von der Vergangenheit als solcher, obwohl dieselbe durch das Medium der Gewohnheit auf das Thier