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Der Moloch. Jakob WassermannЧитать онлайн книгу.

Der Moloch - Jakob Wassermann


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      „Ich versteh’ das nicht“, sagte Arnold in wachsender Verwunderung zu seiner Mutter. „Können die vom Kloster ein Kind einfach stehlen?“

      Frau Ansorge zuckte die Achseln.

      „Man kann es doch nicht taufen, wenn die Eltern nicht wollen.“

      „Vielleicht will das Mädchen selber. Wenn es vierzehn Jahre alt ist, braucht man die Einwilligung der Eltern nicht.“

      „Wenn es aber nicht will? Dann müssen Sie es wieder entlassen, wie?“

      Frau Ansorge zuckte abermals die Achseln. „Was gehen uns die fremden Leute an“, entgegnete sie gleichgültig.

      Gegen Mittag machte sich Arnold auf den Weg nach dem Dorf. Auf dem Hauptplatz blieb er eine Weile unschlüssig stehen. Dann, fast wider Willen, trat er in den Ullmannschen Schnapsladen an der Ecke. Bauern, Knechte, Tagelöhner, Unterstandslose, ja sogar ein paar Weiber sassen dort und machten Lärm. Arnold liess sich ein Glas Tschai geben. Ein alter, dicker, gichtischer Bauer, der weithin nach Schnaps roch und dessen Mund verzogen war, als hätte er Zitronensaft auf der Zunge, sagte, jetzt sei die Zeit gekommen, endlich werde dem Juden der Garaus gemacht. Getauft oder verbrannt, schrie ein Bursche, dem die blosse Brust durch das zerrissene Hemd schien. Der Ladenbesitzer, selber ein Jude, mit einem Bart, der dünn und kranzartig um das ganze Gesicht lief, lachte mit weit aufgerissenem Mund. Eine pockennarbige Bäuerin behauptete, der Papst und der Erzbischof hätten den Felizianerinnen befohlen, alle Judenkinder zu taufen.

      Arnold fragte den geleckt und hungrig aussehenden Geschäftsgehilfen nach der Wohnung Elassers und verliess dann den Laden.

      Podolin, aus einer langgestreckten Reihe niedriger

      Häuser bestehend, hatte nur eine einzige Seitengasse, und dort, dicht am Flussufer, wohnte Elasser. Die abschüssige Gasse war fast ungangbar durch Misthaufen, Kotpfützen, Schottergestein und umhergackerndes Geflügel. Von den Mauern des Elasserschen Häuschens war der grösste Teil der Mörtelbekleidung abgefallen. Arnold ging durch die offene Haustüre in ein gleichfalls offenes Zimmer zur Rechten, wo sich ihm ein ebenso wunderbarer als trauriger Anblick bot.

      Neuntes Kapitel

      Samuel Elasser hockte zusammengekauert, die Knie fast bis zur Brust emporgezogen, im Winkel eines schmutzigen Kanapees. Er hatte mit beiden Händen das Gesicht so vollständig bedeckt, dass darunter nur der braune Bart hervorquoll. Auf dem Kopf trug er ein altes, hintübergeschobenes Seidenkäppchen mit einer Quaste. Um ihn herum standen wie in einem abgemessenen Halbkreis sechs Kinder und blickten regungslos auf die kauernde Gestalt ihres Vaters. Eines von zwei Jahren kroch halb spielend, halb winselnd über die Dielen, und ein Neugeborenes lag eingehüllt in bunte Lappen, die wiederum durch einen grünen Gürtel zusammengehalten waren, auf einer breiten Bank neben dem Ofen. Die Frau stand vor dem Fenstersims und bewegte betend die Lippen und den Oberkörper. Ausser dem Gelalle des kleinen Halbnackten war kaum ein deutlicher Laut vernehmbar. Auf dem Tisch standen acht blecherne Kaffeetassen, an einem Strick vom Ofen zur Wand hingen rote Windeln zum Trocknen, und der Türe gegenüber nahm ein uralter Schrank den fünften Teil des Raumes ein.

      Nachdem Arnold einige Minuten ruhig auf der Schwelle geblieben war, trat er ins Zimmer. Sogleich drängten sich die sechs Kinder in einen Knäuel zusammen. Glasser liess die Hände vom Gesicht fallen und blickte den Fremdling mit glasigen Augen an. Arnold war etwas verdutzt über die gepresste Trauer und düstere Niedergeschlagenheit, die hier herrschten. Er forschte unter den Gesichtern der Kinder, und als er das ihm bekannte der kleinen Jutta nicht erblickte, fragte er: „Ist sie noch nicht zurück aus dem Kloster?“

      Die Frau drehte sich um und heftete aus ihren hervorquellenden, ermüdeten Augen einen ungewissen und furchtsamen Blick auf Arnold. „Weiss der Herr nicht, dass unsere Jutta geschleppt worden ist mit Gewalt ins Nonnenkloster?“ rief sie mit einer überscharfen Stimme. Ihre Züge, obwohl alt und hässlich, entbehrten nicht des Reizes, den das Leiden in jeder Form zu erteilen vermag.

      Arnold blickte die Frau aufmerksam an. „Ja ja,“ erwiderte er, „aber das ist doch gegen das Recht.“

      „Sehn Sie nur an,“ fuhr die magere Jüdin fort und hob sibyllenhaft den Kopf, „wie es bestellt ist mit dem Recht. Für die armen Leute gibts kein Recht, für arme Juden gibts kein Recht. Und mit was kann ich dienen? Mit wem hab’ ich das Vergnügen?“

      „Es ist der gnädige Herr Ansorge“, klärte Elasser auf, mit einer Gebärde, die ebensowohl für ehrfürchtig als für kummervoll gelten konnte. „Der Herr kommt nicht in schlechte Absichten, Mutter. Erinnern Sie sich, gnädiger Herr, wie ich meine Jutta hab’ gesucht Sonntag? Wir haben gewartet und gewartet, und wer nicht gekommen is, war unsere Jutta. Und der ganze Abend ist geflossen, und endlich gegen elf is gekommen der Gehilf vom Uravar und klopft da draussen und meint, wir sollen doch einmal nachfragen im Kloster. Und ich denk’ mir noch und denk’ mir noch, ’s ist wahr, sie kann sein gegangen mit die Bänderchen zu die Nonnen, denn sie ist allein hausieren gegangen, und solche Sachen sind schon bereits vorgekommen, und der Gehilfe, der ’s Fleisch bringt ins Kloster, kann sie dort gesehn haben. Gnädiger Herr, meine Tochter ist eine gute Jüdin, warum soll sie bei den Nonnen geblieben sein? Und es war Mitternacht, bin ich noch gegangen, und der Herr Wachtmeister, ein freundlicher Herr, ist mit mir gegangen ins Kloster. Und wir verlangen die Oberin zu sprechen, aber die Schwester Pförtnerin sagt, wir sollen kommen in der Früh und meine Jutta wäre da. Und der Herr Wachtmeister sagt, warten wir bis in der Früh. Gut. Sie können sich denken, dass wir kein Aug’ zugemacht haben die ganze Nacht, und in der Früh um sechs bin ich abermals wieder gegangen mit dem Herrn Wachtmeister und verlang’ zu sprechen die Oberin. Un sie kommt, und ich verlang’ zu haben mein Kind. Und, gnädiger Herr, glauben Se mir, mein Herz is still gestanden, sie sagt, ich soll kommen in fünf Tagen, bis sich das Mädchen besser gewöhnt haben wird an die neue Umgebung.“

      Elasser wand sich, als ob ihn die Eingeweide brennten. „Un so bin ich fortgegangen“, schloss er und atmete tief.

      „Und der Wachtmeister?“ fragte Arnold, dessen Gesicht sich verfärbt hatte.

      „Der Herr Wachtmeister is ein freundlicher Herr, aber er hat gesagt, leider, es ist vorläufig nichts zu machen. Man muss warten. So wart’ ich.“

      Der Säugling auf der Ofenbank erwachte und begann ein dünnes Geheul, bis die Mutter hinging und ihm ein in Honig getauchtes, kugelartiges Leinwandstück in den Mund steckte. Auch das auf dem Boden kriechende Kind fing an zu weinen. Die Frau blickte gleichgültig herab, gab ihm mit dem Bein einen leichten Stoss, und als es platt auf der Erde lag, rollte sie es mit dem Fuss gleich einem Fässchen hin und her. Das Kind lachte, während die Mutter leise summte und mit der Hand den Säugling wieder in Schlaf schüttelte.

      Elasser erhob sich, nachdem er lange vor sich hingebrütet hatte, und blickte Arnold ohne jede Schüchternheit mit funkelnden Augen an. „Was soll ich tun, lieber Herr?“ sagte er dumpf, und sein demütiger Tonfall wirkte sonderbar im Gegensatz zu seinem Aussehen. „Kann ich mir helfen, sagen Sie selber? Wenn sie sagt, ich soll kommen in einem Jahr, kann ich mir helfen? Und wenn ich keine Nacht mehr schliess’ ein Auge, kann ich mir helfen, lieber Herr?“ Er ging auf und ab.

      Arnold verfolgte ihn mit den Blicken. Er begriff nicht, begriff nichts. Diese Verzweiflung schien ihm unverständlich.

      „Papa,“ rief jetzt der älteste Knabe mit finsterer Entschlossenheit, „hör’ auf zu reden, bitt’ dich, vor dem Soi.“

      „Keine Ruh’ will ich haben, keine ruhige Stunde, bis sie mir nicht mein Kind gegeben haben!“ rief Elasser mit scheuer Leidenschaftlichkeit. „Und wenn ich bis Wien zum Herrn Kaiser gehen muss, un wenn ich hungern un dürsten muss.“

      „Und sollen Weib und Kinder gleichfalls hungern?“ fragte die Frau mit streng zusammengezogenen Brauen.

      „Schämen Sie sich doch,“ sagte Arnold laut und blickte verdriesslich von einem zum andern, „gibt es denn kein Gericht? Jeder Richter muss Ihnen das Kind zurückgeben, sobald es das Gesetz verlangt.“

      Draussen wurden Schritte laut, und drei jüdische Männer betraten den Raum,


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