Die Abenteuer des Kapitän Hatteras. Jules VerneЧитать онлайн книгу.
meine Herren«, fuhr Hatteras fort, »sollen Sie erfahren, auf welche unbestreitbare Tatsachen sich meine Behauptung stützt, dass wir am Pol anlangen werden. Im Jahre 1817 kam der Neptun aus Aberdeen im Norden von Spitzbergen bis zum zweiundachtzigsten Grade. Im Jahre 1827 fuhr der berühmte Parry nach seiner dritten Reise in die Polarmeere, ebenfalls vom Ende Spitzbergens aus mit Schlittenbarken bis hundertundfünfzig Meilen nordwärts. Im Jahre 1852 drang der Kapitän Inglefield im Smith-Sund bis zu 78° 35' Breite. Alle diese Schiffe waren englische und von Engländern kommandiert.«
Nach einer Pause fuhr er fort.
»Hinzufügen muss ich, dass im Jahre 1854 der Amerikaner Kane, Kommandant der Brigg Advance, noch höher hinaufkam, und sein Lieutenant Morton, durch die Eisfelder vordringend, die Flagge der Vereinigten Staaten noch über den zweiundachtzigsten Grad flattern ließ. Auf dies werd’ ich nicht mehr zurückkommen. Das aber ist wohl zu merken, dass die Kapitäne des Neptun, der Entreprise, der Isabelle, des Advance übereinstimmend berichtet haben, dass von diesen hohen Breitengraden an ein ganz eisfreies Becken des Polarmeeres existiere.«
»Eisfrei!« rief Shandon unterbrechend. »Unmöglich!«
»Merken Sie wohl, Shandon«, fuhr Hatteras ruhig fort, »dass ich Ihnen Tatsachen anführe, gestützt auf Namen. Ich füge weiter bei, dass, während der Kommandant Parry im Jahre 1851 am Ufer des Wellington-Kanals sich aufhielt, sein Lieutenant Stewart ebenfalls ein freies Meer antraf, und dass dieser besondere Umstand im Jahre 1853, während des Winteraufenthalts Sir Edward Belchers in der Northumberland-Bai unter 76° 52' Breite und 99° 20' Länge bestätigt wurde. Das sind unbestreitbare Tatsachen, die man gelten lassen muss, will man nicht unredlich sein.«
»Doch, Kapitän«, fuhr Shandon fort, »sind diese Tatsachen so sehr in Widerspruch …«
»Irrtum, Shandon, Irrtum!« rief der Doktor Clawbonny; »diese Tatsachen widersprechen keinem Satz der Wissenschaft. Der Kapitän wird mir gestatten, es Ihnen auseinanderzusetzen.«
»Tun Sie das, Doktor!« erwiderte Hatteras.
»Nun, so hören Sie, Shandon. Es ergibt sich sehr klar aus den geografischen Tatsachen und dem Studium der isothermen Linien, dass der kälteste Punkt der Erde nicht am Pol selbst sich befindet; gleich dem magnetischen Punkt liegt er einige Grad vom Pol ab. So zeigen die Berechnungen Brewsters, Berghams und einiger Physiker, dass auf unserer Hemisphäre zwei Kältepole existieren: Der eine läge in Asien unter 79° 30' nördlicher Breite und 120° Länge; der andere in Amerika unter 78° nördlicher Breite und 97° westlicher Länge. Dieser letztere geht uns an, und Sie sehen, Shandon, dass er mehr wie zwölf Grad unterhalb des Pols liegt. Nun frage ich Sie, warum sollte nicht am Pol das Meer ebenso eisfrei sein, als es im Sommer unter 66° Breite sein kann, d. h. südlich der Baffins-Bai?«
»Das hieß vortrefflich auseinandergesetzt«, erwiderte Johnson; »Herr Clawbonny redet von diesen Dingen als Mann vom Fach.«
»Das scheint möglich«, versetzte James Wall.
»Hirngespinste und Vermutungen! Bloß Hypothesen!« erwiderte Shandon hartnäckig.
»Nein, Shandon«, fuhr Hatteras fort, »nehmen wir die beiden Fälle in Betracht: Entweder das Meer ist eisfrei oder nicht, und mögen wir das eine annehmen oder das andere, so kann uns nichts hindern, zum Pol zu gelangen. Ist es frei, so wird uns der Forward leicht hinbringen; ist er von Eis umgeben, so führen wir es auf unseren Schlitten aus. Sie werden mir zugeben, dass dies nicht unausführbar ist; sind wir einmal mit unserer Brigg bis zum dreiundachtzigsten Grad gedrungen, so haben wir nur noch sechshundert Meilen bis zum Pol zu machen.«
»Und was wollen sechshundert Meilen bedeuten«, sagte der Doktor lebhaft, »wenn es man weiß, dass ein Kosacke, Alexis Markoff, auf dem Eismeer längs der Nordküste Russlands mit Schlitten von Hunden gezogen eine Strecke von achthundert Meilen binnen vierundzwanzig Tagen zurückgelegt hat.«
»Hören Sie das, Shandon«, erwiderte Hatteras, »und sagen Sie mir, ob die Engländer weniger zustande bringen als ein Kosack?«
»Nein, gewiss nicht!« rief hitzig der Doktor aus.
»Nein, gewiss nicht!« stimmte der Rüstmeister ein.
»Nun, Shandon?« fragte der Kapitän.
»Kapitän«, erwiderte Shandon kalt, »ich kann nur wiederholen, was ich vorhin gesagt habe: Ich werde Gehorsam leisten.«
»Gut. Jetzt«, fuhr Hatteras fort, »denken wir an unsere gegenwärtige Lage. Wir stecken im Eise fest, und es scheint mir unmöglich, dass wir noch dieses Jahr bis zum Smith-Sund dringen können. Sehen Sie nun, was am besten zu tun ist.«
Hatteras breitete auf dem Tische eine der trefflichen Karten aus, welche im Jahre 1859 auf Befehl der Admiralität herausgegeben wurden.
»Wollen Sie mir freundlicherweise folgen. Wenn uns der Smith-Sund versperrt ist, so ist es an der Westseite des Baffins-Meeres mit dem Lancaster-Sund nicht ebenso; meiner Ansicht nach müssen wir diesen bis zur Barrow-Straße hinauffahren, und von da bis zur Insel Beechey; Segelschiffe haben diesen Weg hundertmal gemacht; mit einer Schraubenbrigg werden wir keine Schwierigkeiten haben. Sind wir einmal bei der Beechey-Insel, so fahren wir den Wellington-Kanal so weit als möglich hinauf nordwärts bis zum Ausfluss des Fahrwassers, welches die Verbindung des Wellington-Kanals mit dem Kanal der Königin bildet, an eben der Stelle, wo man das freie Meer gewahrte. Nun sind wir jetzt erst am 20. Mai; in einem Monat, wenn es gut geht, werden wir diesen Punkt erreicht haben, und von da aus dringen wir weiter nach dem Pol zu. Was halten Sie davon, meine Herren?«
»Offenbar«, erwiderte Johnson, »ist dies der einzige Weg, den wir zu nehmen haben.«
»Nun, so wollen wir ihn einschlagen, und gleich morgen. Dieser Sonntag sei der Ruhe gewidmet; Sie werden dafür sorgen, Shandon, dass der Gottesdienst regelmäßig stattfindet; die Religion wirkt wohltätig auf den Geist, ein Seemann darf das Vertrauen auf Gott nicht verlieren.«
»Sie haben recht, Kapitän«, erwiderte Shandon und ging mit dem Lieutenant und dem Rüstmeister hinaus.
»Doktor«, sagte John Hatteras, und wies auf Shandon, »das ist ein gedrückter Mann, den der Hochmut verdorben hat; ich kann nicht mehr auf ihn rechnen.«
Am folgenden Morgen ließ der Kapitän in aller Frühe das Boot ins Meer bringen und untersuchte die Eisberge des Beckens, welche nicht über zweihundert Yard dick waren. Er nahm sogar wahr, dass infolge eines allmählichen