Aristoteles: Gesammelte Werke. AristotelesЧитать онлайн книгу.
wenn er erstens wissentlich, wenn er zweitens mit Vorsatz, und zwar mit einem einzig auf die sittliche Handlung gerichteten Vorsatz, und wenn er drittens fest und ohne (1105b) Schwanken handelt. Für die Künste zählen diese Bedingungen nicht mit, da es bei ihnen nur auf das Wissen und Können ankommt. Für die Tugend aber bedeutet das Wissen wenig oder nichts, das andere dagegen, was nur durch fortgesetzte Übung der Gerechtigkeit und Mäßigkeit erworben wird, bedeutet nicht wenig, sondern alles. Die Werke werden mithin als Werke der Gerechtigkeit und Mäßigkeit bezeichnet, wenn sie solche sind, wie sie der Gerechte und Mäßige verrichtet. Dagegen ist gerecht und mäßig, nicht wer sie verrichtet, sondern wer sie so verrichtet, wie es der Gerechte und der Mäßige tun.
Es ist also richtig gesprochen, daß man durch Handlungen der Gerechtigkeit ein gerechter und durch Handlungen der Mäßigkeit ein mäßiger Mann wird. Niemand aber, der sie nicht verrichtet, ist auch nur auf den Wege, tugendhaft zu werden. Aber der große Haufe gibt sich damit nicht ab, sondern man glaubt schon, wenn man nur hohe Worte redet, ein Philosoph zu sein und so ein braver Mann zu werden. Und so macht man es wie die Kranken, die den Arzt zwar aufmerksam anhören, aber von seinen Anordnungen nichts befolgen. Sowenig also jene bei solchem Heilverfahren körperlich wohl fahren können, können diese es geistig, wenn das ihre Philosophie ist42.
Viertes Kapitel.
Hiernächst müssen wir untersuchen, was die Tugend ist.
Da es dreierlei psychische Phänomene gibt: Affekte, Vermögen und jene dauernden Beschaffenheiten, die man Habitus nennt, so wird die Tugend von diesen dreien eines sein müssen. Als Affekte bezeichnen wir: Begierde, Zorn, Furcht, Zuversicht, Neid, Freude, Liebe, Haß, Sehnsucht, Eifersucht, Mitleid, überhaupt alles, was mit Lust oder Unlust verbunden ist; als Vermögen das, was uns für diese Gefühle empfänglich macht, was uns z. B. befähigt, Zorn oder Trauer oder Mitleid zu empfinden; als Habitus endlich das, was macht, daß wir uns in Bezug auf die Affekte richtig oder unrichtig verhalten, wie wir uns z. B. in Bezug auf den Zorn unrichtig verhalten, wenn er zu stark oder zu schwach ist, richtig dagegen, wenn er die rechte Mitte hält, und ähnliches gilt für die übrigen Affekte.
Affekte nun sind die Tugenden und die Laster nicht, weil wir nicht wegen der Affekte tugendhaft oder lasterhaft genannt werden, wohl aber wegen der Tugenden und Laster, und weil wir nicht wegen der Affekte gelobt und getadelt werden – denn man wird nicht gelobt; wenn man sich fürchtet oder wenn man zornig wird, und nicht getadelt, wenn man einfach zornig wird, sondern wenn es (1106a) auf bestimmte Weise geschieht –, wohl aber wird uns wegen der Tugenden und der Laster Lob oder Tadel zu teil. Ferner werden wir zornig und geraten wir in Furcht ohne vorausgegangene Selbstbestimmung, die Tugenden aber sind Akte der Selbstbestimmung oder können doch von diesem Akte nicht getrennt werden. Überdies sagen wir, daß wir durch die Affekte bewegt, durch die Tugenden und Laster aber nicht bewegt, sondern in eine bestimmte bleibende Disposition gebracht werden.
Aus diesen Gründen sind die Tugenden auch keine Vermögen. Denn wir heißen nicht darum gut oder böse, weil wir das bloße Vermögen der Affekte besitzen, noch werden wir darum gelobt oder getadelt. Überdies sind die Vermögen Naturgabe, gut oder böse aber sind wir nicht von Natur, wie wir schon oben ausgeführt haben.
Wenn nun die Tugenden keine Affekte und auch keine Vermögen sind, so bleibt nur übrig, daß sie ein Habitus sind.
So hätten wir denn erklärt, was die Tugend der Gattung nach ist.
Fünftes Kapitel.
Aber diese Bestimmung, daß die Tugend ein Habitus ist, reicht nicht hin; wir müssen auch angeben, welcher Art derselbe ist.
Hier ist zu sagen, daß jede Tugend oder Tüchtigkeit einerseits dasjenige selbst, woran sie sich findet, vollkommen macht andererseits seiner Leistung die Vollkommenheit verleiht. Die Tüchtigkeit des Auges macht z. B. das Auge selbst und seine Leistung gut, da sie bewirkt, daß wir gut sehen. Desgleichen macht die Tüchtigkeit des Pferdes, daß es selbst gut ist, und daß es gut läuft, den Reiter gut trägt und vor dem Feinde gut stand hält. Wenn sich dieses nun bei allem so verhält, so muß auch die Tugend des Menschen ein Habitus sein, vermöge dessen er selbst gut ist und sein Werk gut verrichtet.
Wie das geschehen könne, haben wir schon angegeben, stellt sich aber auch noch auf anderem Wege heraus, wenn wir betrachten, von welcher Art die Natur der Tugend ist. In allem, was kontinuierlich und was teilbar ist, läßt sich ein Mehr, ein Weniger und ein Gleiches antreffen, und zwar entweder mit Rücksicht auf die Sache selbst oder mit Rücksicht auf uns. Das Gleiche aber ist ein Mittleres zwischen Übermaß und Mangel. Mittleres der Sache nach nennen wir dasjenige, was von beiden Enden gleich weit entfernt ist, und dieses ist bei allem eines und dasselbe, dagegen Mittleres für uns, was weder ein Übermaß noch einen Mangel hat, und dieses ist nicht bei allem eines und dasselbe. Wenn z. B. zehn viel sind und zwei wenig, so nimmt man sechs für das der Sache nach Mittlere, weil es um gleich viel mehr und weniger ist. Das ist die Mitte nach dem arithmetischen Verhältnisse. Das Mittlere für uns kann dagegen so nicht bestimmt werden. Wenn für (1106b) jemanden zehn Pfund zu verzehren viel sind und zwei Pfund wenig, so wird der Ringmeister nicht sechs vorschreiben. Denn auch das ist vielleicht für den, der sie zu sich nehmen soll, viel oder wenig, wenig für einen Milo43, viel für einen Anfänger in den Übungen. Dasselbe gilt für den Wettlauf und Ringkampf. So meidet denn jeder Kundige das Übermaß und den Mangel und sucht und wählt die Mitte, nicht die Mitte der Sache nach, sondern die Mitte für uns.
Wenn nun jede Wissenschaft und Kunst ihre Leistung dadurch zu einer vollkommenen gestaltet, daß sie auf die Mitte sieht und dieselbe zum Zielpunkte ihres Tuns macht – deswegen pflegt man ja von gut ausgeführten Werken zu sagen, es lasse sich nichts davon und nichts dazu tun, in der Überzeugung, daß Übermaß und Mangel die Güte aufhebt, die Mitte aber sie erhält –, wenn also die guten Künstler wie gesagt diese Mitte bei ihrer Arbeit im Auge behalten, und wenn die Tugend gleich der Natur sicherer und besser ist als alle Kunst44, so muß wohl dies als Schlußsatz sich ergeben, daß die Tugend nach der Mitte zielt, die sittliche oder Charaktertugend wohl verstanden, da sie es mit den Affekten und Handlungen zu tun hat, bei denen es eben ein Übermaß, einen Mangel und ein Mittleres gibt. Beim Zagen z. B. und beim Trotzen, beim Begehren, Zürnen, Bemitleiden und überhaupt bei aller Empfindung von Lust und Unlust gibt es ein Zuviel und Zuwenig, und beides ist nicht gut; dagegen diese Affekte zu haben, wann man soll, und worüber und gegen wen und weswegen und wie man soll, das ist die Mitte und das Beste, und das ist die Leistung der Tugend. Ebenso gibt es bei den Handlungen ein Übermaß, einen Mangel und eine Mitte. Die Tugend aber liegt auf dem Felde der Affekte und Handlungen, wo das Übermaß verfehlt ist und der Mangel Tadel erfährt, die Mitte aber Lob erntet und das Rechte trifft. Beides aber, gelobt werden und das Rechte treffen, ist der Tugend eigentümlich. Mithin ist die Tugend eine Mitte, da es ihr wesentlich ist, nach dem Mittleren zu zielen.
Ferner kann man auf vielfache Weise fehlen – das Schlechte gehört ja zum Unbegrenzten, wie die Pythagoreer bildlich sagten, das Gute aber zum Begrenzten –, dagegen kann man es nur auf eine Weise recht machen; weshalb auch jenes leicht ist und dieses schwer45. Denn es ist leicht das Ziel zu verfehlen, aber schwer es zu treffen. Auch aus diesem Grunde gehört demnach das Übermaß und der Mangel dem Laster an, die Mitte aber der Tugend. Denn »Nur eine Weise kennt die Tugend, doch viele das Laster«46.
Sechstes Kapitel.