Aristoteles: Gesammelte Werke. AristotelesЧитать онлайн книгу.
jeder selbst an der Spitze stehen will, herrscht Zwietracht. Denn das heißt nicht einträchtig sein, wenn beide nur nach demselben trachten, sondern wenn sie es auch in derselben Person verwirklicht sehen wollen, wenn z. B. sowohl das gewöhnliche Volk als die (1167b) Tugendhaften wollen, daß die Besten die Herrschaft haben; denn so geschieht allen nach Wunsch254.
Man kann wohl sagen, daß die Eintracht Freundschaft unter Mitbürgern ist, und so nennt man sie auch. Denn sie bezieht sich auf die Interessen und auf die Erfordernisse des Lebens. Ihre Verwirklichung findet solche Eintracht unter tugendhaften Menschen. Diese sind einträchtig mit sich selbst und einträchtig miteinander, da sie, möchte man fast sagen, jederzeit sich gleich bleiben. Denn die Willensmeinungen solcher Menschen haben Bestand und schwanken nicht gleich den Wassern des Euripus hin und her, und was sie wollen und mit vereinten Kräften verfolgen, ist das Gerechte und Heilsame. Schlechte Menschen können auf die Dauer so wenig untereinander die Eintracht bewahren als Freundschaft halten, da sie von dem Nützlichen zu viel und von den Mühen und Leistungen zu wenig haben wollen. Denn da jeder das für sich begehrt, rechnet er dem Nächsten nach und hindert ihn, für sich dasjenige zu erlangen, was ihm zukommt. Wo das gemeinsame Interesse keine Pflege erfährt, muß es ja Schaden leiden. So wird denn Zwietracht unter ihnen die Folge sein, da niemand selbst recht tun, wohl aber den anderen dazu zwingen will.
Siebentes Kapitel.
Der Geber einer Wohltat scheint für den Empfänger derselben mehr Freundschaft und Liebe zu hegen als der Empfänger für den Geber, und man fragt nach dem Grunde dieser paradoxen Erscheinung. Sehr häufig will man sie daraus erklären, daß der eine Gläubiger, der andere Schuldner ist. Wie nun bei Darlehensgeschäften der Schuldner möchte, daß keiner wäre, dem er etwas schuldete, dagegen derjenige, der das Darlehen gewährt hat, sogar um das Wohlergehen des Schuldners besorgt ist, so, meint man, wünsche auch der Spender einer Wohltat ihrem Empfänger das Leben, um Dank von ihm zu ernten, während dieser sich um die Erstattung des Dankes keine Sorge mache. Von einer solchen Deutung der Tatsache würde ein Epicharmus255 vielleicht sagen, sie stamme aus übertriebenem Pessimismus, und doch sieht eine Gesinnung wie die bezeichnete der menschlichen Art ähnlich. Denn die meisten Menschen haben für empfangene Wohltaten ein schlechtes Gedächtnis und wollen lieber nehmen als geben.
Aber der Grund der Sache dürfte natürlicher sein und mit der Erklärung, die man von dem Gläubiger und seinem Schuldner hernimmt, nichts zu tun haben. Denn was der Gläubiger gegen den Schuldner fühlt, ist nicht Liebe, sondern der Wunsch, ihn erhalten zu sehen, wegen der Wiedererstattung. Wohltäter dagegen sind denen, die ihre Wohltaten empfangen, in Freundschaft und Liebe zugetan, wenn sie ihnen auch gar keinen Vorteil bringen und dazu auch für die Zukunft keine Aussicht ist. Ganz dasselbe pflegt bei den Künstlern vorzukommen: jeder liebt sein eigenes Werk mehr, als dieses ihn lieben würde, wenn es eine Seele (1168a) bekäme. Am meisten kommt es aber vielleicht bei den Dichtern vor, die in ihre eigenen Dichtungen über die Maaßen verliebt sind und an ihnen hängen, als ob es ihre Kinder wären. Solchen Gefühlen sind nun auch die des Wohltäters ähnlich. Was ihre Wohltat empfangen hat, ist gleichsam ihr Werk, und das liebt man ja mehr als das Werk den Meister. Davon ist der Grund der, daß das Sein allen Wesen begehrens- und liebenswert ist, und wir insofern sind, als wir tätig sind, nämlich leben und handeln. Durch seine Tätigkeit ist also der Meister gewissermaßen das Werk, und daher liebt er das Werk darum, weil er das Sein liebt, eine Liebe, die in der Natur begründet ist. Denn was er in Möglichkeit ist, zeigt das Werk in Wirklichkeit.
Zugleich ist es für jemanden, der sich um einen anderen verdient gemacht hat, schön und ehrenvoll, das getan zu haben, und darum hat er seine Freude an dem Gegenstande der das Gefäß dieses Schönen ist. Für den Empfänger der Wohltat aber entspringt durch ihren Urheber nichts Schönes, oder doch nur jenes, das mit dem Nützlichen zusammenfällt, das aber auch weniger genußreich und liebenswert ist. Genußreich ist an dem Gegenwärtigen die Wirklichkeit, am Zukünftigen die Hoffnung und am Vergangenen die Erinnerung. Am genußreichsten aber und in gleichem Grade liebenswert ist das Wirkliche. Nun bleibt aber dem, der gutes getan, sein Werk [wie eine fortdauernde Wirklichkeit], während der Nutzen dessen, der das Gute empfangen hat, vergeht. – Und die Erinnerung an edle Taten ist genußreich, aber die Erinnerung an gehabte Vorteile ist es nicht eben oder doch weniger. Mit der Erwartung aber scheint es sich umgekehrt zu verhalten.
Ferner gleicht das Lieben dem Tun, das Geliebtwerden aber dem Leiden. Daher kommt denen, die sich im Tun überlegen zeigen, das Lieben und der Erweis der Liebe zu.
Endlich liebt jeder das mühsam Erlangte mehr, wie das Geld dem teurer ist, der es erworben, als dem, der es ererbt hat. Nun scheint aber das Erweisen von Wohltaten mühevoll, das Empfangen aber mühelos zu sein. Darum haben auch die Mütter eine größere Liebe zu ihren Kindern als die Väter. Denn die Mutter trifft die größere Mühsal des Gebärens, und sie weiß besser, daß die Kinder ihre eigenen sind. Eben dies aber dürfte auch den Wohltätern eigen sein256.
Achtes Kapitel257.
Man kann auch darüber im Zweifel sein, ob man sich selbst am meisten lieben soll oder einen anderen258. Gemeinhin hat man für die, die am meisten sich selbst lieben, nur Tadel und wirft ihnen den Fehler der Eigenliebe vor. Auch scheint der Schlechte alles um seiner selbst willen zu tun, und je nichtswürdiger er ist, desto mehr, und man klagt ihn an, daß er nichts tut, als was ihm Vorteil bringt. Der Rechtschaffene dagegen wird in seinem Tun durch das sittlich Schöne bestimmt, desto mehr, je edler er ist, so wie durch die Rücksicht auf den Freund, während er das eigene Interesse hintansetzt. Zu diesen Gründen stimmt aber das Verhalten nicht, das die Menschen tatsächlich beobachten, und zwar mit Recht beobachten. (1168b) Man sagt wohl, den besten Freund müsse man am meisten lieben, aber der beste Freund ist doch derjenige, der, wenn er uns Gutes wünscht, es uns unseretwegen wünscht, auch wenn niemand es erfährt. Das trifft aber am meisten im Verhältnis des Menschen zu sich selbst zu und dann auch alles andere, was die Freundschaft charakterisiert. Denn es ward schon bemerkt, daß aus dem Verhalten gegen sich selbst jede anderweitige Freundschaftsbetätigung erst abgeleitet wird. Hiermit stimmen auch alle Sprüchwörter überein, z. B.: »eine Seele«, »unter Freunden ist alles gemeinsam«, »Gleichsein, Freundsein«, »das Knie ist einem näher als die Wade«. Denn dieses alles gilt am meisten von dem Verhältnis zu sich selbst. Jeder ist sich selbst der beste Freund, und darum soll man auch sich selbst am meisten lieben.
Man mag mit Fug zweifeln, welcher von beiden Ansichten man folgen soll, da jede Gründe für sich hat. – Vielleicht daß man bei diesen und ähnlichen Raisonnements unterscheiden und angeben muß, wie weit und inwiefern sie richtig sind. Die Sache läßt sich leicht ins Reine bringen, wenn wir den Begriff der Selbstliebe nehmen und uns fragen, was sich beide Seiten darunter denken. Die eine Seite legt die Selbstliebe in tadelndem Sinne denen bei, die für sich selbst an Geld, Ehre und sinnlicher Lust zu viel beanspruchen. Denn das sind die Dinge, nach denen der große Haufe begehrt, und um die er sich ereifert und bemüht, als wären sie die höchsten Güter, weshalb auch beständiger Streit um sie ist. Die nun von den genannten Dingen nie genug haben können, sind willfährige Knechte ihrer sinnlichen Lüste und überhaupt ihrer Leidenschaften und des vernunftlosen Seelenteils. Das ist aber der Charakter der meisten Menschen, daher man auch die fragliche Bezeichnung von der großen Menge und ihrer Schlechtigkeit hergenommen hat; und so trifft denn die Selbstliebe in diesem Sinne gerechter Tadel. Daß das Volk bei denen von Selbstliebe zu reden pflegt, die in diesem Sinne auf sich bedacht sind, ist nicht zu verkennen.