Lockdown: Das Anhalten der Welt. Fritz B. SimonЧитать онлайн книгу.
in dem Maße ins Gesundheitswesen geflossen, wie es dessen Vertreter gern gesehen hätten, sondern anderen Interessengruppen zugutegekommen. Da die Gesundheitskosten in den letzten Jahrzehnten überall drastisch gestiegen sind, heißt »totgespart« nicht einmal, dass der Anteil des ökonomischen Wohlstandes, der für das Gesundheitswesen aufgewendet wurde, tatsächlich gesunken ist, sondern sich nur nicht im gewünschten Maße steigern ließ.
Die Interessengruppen – wie die Vertreter der Krankenkassen oder der Ärzte, der Arbeitgeber oder der Gewerkschaften usw. – erobern nicht den Staat und üben ungebührlichen Einfluss auf ihn aus, sondern sie sind ihrerseits vom Staat geschaffen. Die Klage über den ungebührlichen Einfluss von bestimmten Interessengruppen ist immer ein Teil des Machtkampfes zwischen den Interessengruppen: Es klagt eine Interessengruppe, die andere Interessengruppe habe zu viel Einfluss. Fritz B. Simon zählt einige der Interessengruppen auf, die der Staat finanziert: »Er bezahlt Lehrer und Wissenschaftler, Richter und Polizisten, Krankenhausärzte und Gesundheitsämter, Theater- und Museumsdirektoren, ja, sogar die Finanzierung der Kirchen sichert er.« Zwar lässt Simon offen, welche Interessengruppen durch den Staat seiner Meinung nach legitim zu bedienen seien, jedoch bemängelt er auf jeden Fall den zu großen Einfluss der Wirtschaftslobbyisten.
Die Entscheidung darüber, welche Interessengruppe wie stark oder ob überhaupt staatlich finanziert und sonst wie gefördert werden solle, macht er an »kollektiv bindenden Entscheidungen« fest. Aber es ist gerade das Vorgehen der Staatsgewalt, den Bereich »kollektiv bindender Entscheidungen« ständig zuungunsten der gesellschaftlichen Selbstorganisation zu verschieben. Bei dieser Verschiebung spielt eine große Rolle, dass die gesellschaftliche Selbstorganisation stets als partikulares, das staatliche Handeln dagegen als allgemeines Interesse behauptet wird. Die Notwendigkeit kollektiv bindender Entscheidungen ist kein objektivierbares Kriterium, sondern Teil des politischen Machtkampfes um Zugang zu staatlichen Finanzmitteln.
Dabei ist das Allgemeininteresse, das der Staat gegenüber den Interessengruppen hochhalten müsse, Ausdruck des relativen Einflusses von Interessengruppen. Kein geringerer als Pierre Bourdieu hat dies, bevor er Ende der 1990er-Jahre seine kritischen Analysen vergaß und den Liberalismus zum Hauptfeind der Menschheit erklärte, genau beschrieben und vor dem »Staatsdenken« in der Soziologie gewarnt: Die »Kommission« (Expertenrat, Parlamentsausschuss etc.) habe die Aufgabe, das »alchemistische Wunder« zu vollbringen, aus partikularen Interessen Allgemeininteressen zu machen. In den staatlichen Kommissionen (und nachgelagert: durch die Medien) wird das momentane Gleichgewicht der Macht zwischen den verschiedenen »gesellschaftlich relevanten« Interessengruppen als das Allgemeininteresse deklariert: Das, was vor dem Verfahren partikulare Interessen waren, ist nach ihm das Allgemeininteresse, dem keiner, der seine soziale Vernunft beieinander hat, widersprechen darf, ohne als Bösewicht dazustehen, der »soziale Kälte« ausstrahle. Hingegen scheint es keine »soziale Kälte« zu sein, wenn wegen des Allgemeinwohls die Menschen während der Corona-Pandemie in »systemrelevant« und »nicht-systemrelevant« unterteilt und ihre Bedürfnisse (zum Beispiel nach Kinderbetreuung) dementsprechend als realisierbar oder nicht-realisierbar eingestuft werden. Für mich stellt das eine staatlich verordnete Ökonomisierung dar.
Gewaltcharakter des Staats hört sich drastisch an. Doch sogar das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland weist ihm eine zentrale Bedeutung zu: »Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.« Das Spezifische der staatlichen Gewalt liegt darin, dass der Staat einen Monopolanspruch erhebt (»Du sollst keinen anderen Gott neben mir haben«), den er mehr oder weniger erfolgreich verteidigt. In der Demokratie ist eine weitere Besonderheit, dass die Gewalt idealtypisch namens der Mehrheit des Volks ausgeübt wird. Das macht die Gewalt nicht geringer, nicht moralischer und auch nicht behaglicher.
Die Corona-Pandemie hat vielen Staaten der Erde, einerlei ob demokratisch verfasst oder nicht, als Anlass gedient, eine ganz neue Form der Enteignung zu testen: Die Enteignung des persönlichen Risikomanagements zusammen mit einer fast beispiellosen Missachtung produktiver Zusammenhänge. Die Alternative der Zukunft lautet: Aneignung der Selbstbestimmung oder Barbarei der »Gesundheitsdiktatur«.6
Das Gerangel der Interessengruppen
von Fritz B. Simon
Ich stimme Stefan Blankertz Beschreibung zu: Es ist keine Zumutung, staatliches Handeln unter ökonomischen Gesichtspunkten anzuschauen, und es gibt gar keine Möglichkeit, über es nachzudenken, ohne dabei auch ökonomische Gesichtspunkte zu berühren; und auch der Charakterisierung, dass der besondere Gewaltcharakter des Staates eine Besonderheit darstellt, und der Staat die produktiv Tätigen (Einzelpersonen, Firmen usw.) enteignet und die so gewonnenen Ressourcen nutzt. Auch mit der Beschreibung, dass diese Ressourcen an ausgewählte Organisationen gehen und es ein Gerangel darum gibt, bin ich einverstanden. Mein Widerspruch gilt aber der Erklärung und Bewertung dieser Phänomene. Das beginnt bei dem von Blankertz aufgemachten Gegensatz zwischen »gesellschaftlicher Selbstorganisation« und »staatlicher Gewalt«. Denn der Staat ist bereits ein Resultat der Evolution/Selbstorganisation gesellschaftlicher Strukturen. Seine Funktion besteht darin, das »Gerangel« der miteinander im Konflikt liegenden Interessengruppen aufrechtzuerhalten.
Aus meiner Sicht gibt es unter den gesellschaftlichen Funktionssystemen nur zwei, deren Machtanspruch generalisiert ist und deren Formen der Machtausübung niemand entgeht.
1.Der Staat nutzt – und verteidigt – sein Gewaltmonopol als Machtmittel. Physischer Gewalt – vom Freiheitsentzug bis zur Todesstrafe – kann sich niemand entziehen (auch nicht die Akteure des Wirtschaftssystems). Diese Form der Macht wird durch das Rechtssystem eingegrenzt und zivilisiert.
2.Dem gegenüber steht die Wirtschaft bzw. der Markt. Hier werden Ressourcen, die zum Überleben eines jeden Akteurs nötig sind, verteilt. Die Verfügungsgewalt über knappe Ressourcen, die Nicht-Austauschbarkeit spezifischer Kompetenzen etc. bestimmen, wer sich wem anpasst bzw. wer die Preise für was definiert, das heißt, wer die Macht hat. Die Eigenlogik von Kommunikationsprozessen führt dazu, dass auf Märkten das »Matthäus-Prinzip« wirksam wird. Robert Merton hat es analog für die Wissenschaften beschrieben (wer viel zitiert wird, wird noch mehr zitiert, wer wenig zitiert wird, wird irgendwann gar nicht mehr zitiert). Unterschiede werden verstärkt: Starke werden stärker, Schwache werden schwächer. Ein nur wenig innovationsförderndes Prinzip. Doch die Macht von Märkten wird ebenfalls durch das Rechtssystem eingegrenzt und zivilisiert.
Den Entscheidungen des Staates kann man genauso wenig ausweichen wie der Eigendynamik von Märkten. Theoretisch gesprochen, bilden politisches und wirtschaftliches System füreinander relevante Umwelten, die bzw. deren Funktion nicht ohne Weiteres weggedacht werden können (»Auch die Alpen sind nichts Besonderes, wenn man sich die Berge wegdenkt«).
Jetzt, in der Corona-Krise, hat der Staat ganz klar die Führung übernommen. Er bzw. die für ihn stehenden Politiker stecken im Konflikt zwischen den Ansprüchen des Gesundheitssystems und denen der Wirtschaft. Sie sind mit einer pragmatischen Paradoxie konfrontiert: Die für das eine System »richtige« Entscheidung ist die für das andere System »falsche«.
Aber das ist meines Erachtens genau die Funktion des Staates: sich dem paradoxen Gerangel der Interessengruppen zu stellen und – immer wieder aufs Neue – mal zugunsten der einen, mal zugunsten der anderen Seite zu entscheiden. Die Intelligenz staatlicher Entscheidungen resultiert daraus, die Unentscheidbarkeit, wessen Interessen und Ziele für die Gesellschaft wichtiger sind, aufrechtzuerhalten.
Protektionistische Gewaltfantasien und soziale Autoimmunerkrankungen
von Steffen Roth
Macht, Gerangel und Ressourcen. Die Sprache bleibt politökonomisch, selbst wenn es uns zunehmend auch um Gesundheit, Recht oder Wissenschaft zu gehen scheint.
Nun kann man sich den Staat gut als strategischen Dreh- und Angelpunkt eines interessengeleiteten Wettbewerbs um öffentliche Mittel vorstellen. Soweit man bei diesen Mitteln aber an Geld denkt, beobachtet man eben nicht Staatspolitik, sondern Staatswirtschaft, was einmal mehr zeigt, dass es sich beim Staat nicht um die Politik