Finde dein Lebenstempo. Petra SchuseilЧитать онлайн книгу.
abwarten wollen?
Mein Mann ist beispielsweise so ein „Antreiber“. Dabei bin ich sicher keine lahme Ente, aber ich brauche meine Zeit. Manchmal macht ihn mein gemesseneres Tempo rasend. Und mich sein Auf-die-Tube-Drücken. Oder Sie kennen vielleicht genau das Gegenteil, nämlich eine „Schlaftablette“. So ein Freund braucht Stunden, um sich zu entscheiden, umzuziehen oder zu essen.
Welche Gefühle sind da involviert, wenn wir es mit Menschen zu tun haben, die ein anderes Tempo leben? Wut, Ungeduld, Trotz („Nee, jetzt erst recht nicht!“), Enttäuschung, Erstaunen. Daran lässt sich schon erkennen, welcher Druck sich daraus ergeben kann, wenn man gegen sein eigenes Tempo lebt, und welchen Zündstoff man durch das unterschiedliche Zeitempfinden in Beziehungen bringen kann.
Wie wir so „sind“, ist uns manchmal tatsächlich schon in die Wiege gelegt. Schon bei kleineren Kindern zeigen sich ausgeprägte Trödler und Träumer, was eine ganz eigene Qualität mit sich bringt! Aber auch unsere Erziehung prägt: Allein dass meine Wurzeln in einem Familienunternehmen liegen, einem geschäftigen Hotel- und Restaurantbetrieb, macht mich vergleichsweise anders. Je nach Umfeld, in dem wir aufgewachsen sind, bringen wir vielfältige Erlebnisse und Lebensentwürfe mit – auch was den Umgang mit der Zeit betrifft!
Egal wo man lebt, arbeitet und reist, man trifft auf andere Menschen, die unsere Zeit beschleunigen oder verlangsamen. Manchmal kommen wir in Gegenden oder berufliche Umfelder, in denen ein anderer Rhythmus herrscht, als wir ihn gewohnt sind. Hier ein paar gegensätzliche Beispiele:
■ Auf dem Land gehen die Uhren anders als in der Stadt.
■ In einem hektischen Großraumbüro fühlen wir uns anders als mit dem Laptop auf der Dachterrasse.
■ Im Discounter an der Kasse wird ungeduldig gedrängelt, während wir in einer Boutique entspannt stöbern.
Nicht zu vergessen, dass wir in anderen Kulturkreisen andere Lebensrhythmen und Mentalitäten entdecken. Die Weltmetropole Hongkong birgt verschiedene Lebenstempi mitten in der Stadt. Mich fasziniert und inspiriert das: Von der typisch chinesischen Gasse mit ihren asiatischen Gesichtern und Gerüchen kommt man wenige Schritte weiter in eine ultramoderne Einkaufs-Mall. Ich war oft zu Fuß und mit der Tram in der Stadt unterwegs. Ich habe es geliebt, mich dem Tempo der Einheimischen anzupassen, wie sie ameisengleich in der Rushhour unterwegs waren. Sind Hongkong, New York, Tokio oder Shanghai Städte mit hohem Lebenstempo, dann ist die Schweiz, wo ich jetzt lebe, vergleichsweise langsam. Alles braucht etwas länger Zeit und man muss sich in Geduld üben.
Wo auch immer wir hinkommen: Das vorherrschende Tempo beeinflusst unser Wohlbefinden und unsere Stimmung. Wir stecken immer in einem System und agieren bewusst oder unbewusst mit.
Jetzt sind Sie wieder dran:
■ Schreiben Sie sich das Umfeld auf, in dem Sie die meiste Zeit verbringen. Zum Beispiel: 1. Meine Wohnung, 2. Meine Arbeitsstelle, 3. Das Fitness-Studio: Mit welchen drei Eigenschaftswörtern beschreiben Sie jeweils die Zeitqualität dieser Lebensräume? Bewerten Sie anschließend kurz, wie gut Ihnen das gefällt.
■ Denken Sie an Menschen, mit denen Sie häufiger zusammentreffen, ganz unabhängig davon, ob Sie diese Personen gut kennen oder mögen (das kann auch der Nachbar oder die Kassiererin im Supermarkt sein): Welche Menschen inspirieren oder nerven Sie mit ihrem Tempo? Und warum?
■ Wo haben Sie sich bisher auf Ihren Reisen am wohlsten gefühlt? Was hat das mit Ihrem Lebenstempo zu tun?
Unsere Lebensweise
Natürlich beeinflussen nicht nur andere Menschen und Orte unser Lebenstempo. Wie wir unser Leben gestalten, hat eine große Bedeutung für unseren Lebensrhythmus. Zum Beispiel: Sind Sie Frühaufsteher oder Langschläfer? Sind Sie ein „Drinnen-“ oder ein „Draußen“-Mensch? Die einen sind Stubenhocker, die anderen können nicht genug frische Luft kriegen. Können sich die einen genüsslich mit einem Buch auf die Couch verziehen, summen bei den anderen die Hummeln im Po. Sie müssen raus, wandern, joggen oder Fahrrad fahren.
Und schon sind wir beim Tempo. Unsere Lebensweise ist ganz deutlich zu erkennen in der Art und Weise, wie wir uns fortbewegen. Die einen lieben es schnell und können ohne Auto gar nicht. Andere lieben es, mit dem Fahrrad unterwegs zu sein. Carsharing ist eine prima Alternative. Fliegt man eine Strecke von 400 Kilometern oder nimmt man den Zug?
Die einen pilgern in ihrem Urlaub oder wandern, andere unternehmen eine Kulturreise oder einen Abenteuerurlaub. Es macht einen Unterschied im Tempoverhalten, ob man an die Costa Brava, auf die Insel Föhr oder auf die Alm in 2000 Höhenmeter reist.
Auch zeitintensive Hobbys sind nicht zu unterschätzen und beeinflussen unser Lebenstempo beträchtlich. Da geht schon mal ein ganzer Tag oder ein ganzes Wochenende „ins Land“. Man muss sich vorbereiten, entsprechendes Zubehör anschaffen, trainieren und gegebenenfalls nachbereiten und aufräumen. Vielleicht haben Sie sich auch für ein Ehrenamt entschieden, das Sie oft abends oder am Wochenende zusätzlich beansprucht.
Sogar darin, wie (und was) wir essen, zeigt sich unser Lebenstempo und die Prioritäten, die wir für uns selbst setzen. Hinter der Frage, „wie“ wir unser Leben gestalten, steckt oft die Frage, ob wir damit zufrieden sind. Manchmal möchte man das Rad zurückdrehen und die Dinge anders machen können.
Wie sieht es bei Ihnen aus?
■ Wie zufrieden bin ich mit meiner Art zu leben?
■ Bin ich mit meiner Lebensgeschwindigkeit einverstanden?
■ Fällt mir spontan etwas ein, das ich in puncto Zeit nicht so gut finde, zum Beispiel etwas, das (mittlerweile) zu sehr mein Leben diktiert, was Inhalte oder Tempo angeht? Was ist das und wie denke ich darüber?
Die Gesellschaft wird schneller
„Früher habe ich nach Feierabend in der S-Bahn ein Buch gelesen. Heute beantworte ich E-Mails“, so schildert es mir die Personalleiterin einer großen Frankfurter Bank. Sie schaut dabei nicht sehr glücklich. Auch der Blackberry meines Mannes fiept nicht nur abends, sondern auch am Wochenende. Ständig ist er auf Empfang. Man ist online, stets präsent und immer im Kontakt. Das ist anstrengend und raubt Energien. Unternehmen erwarten von ihren Mitarbeitern unbegrenzte Erreichbarkeit. Arbeitszeit verschwimmt mit der Feierabendzeit. Echte Erholung wird rar und bekommt nur kleine Zeitfenster.
Im internationalen Kontakt erwartet man schnelle Response-Zeit auf Anfragen im Internet und auf E-Mails. Termine für Meetings, Konferenz- oder Telefongespräche werden verschoben, nicht eingehalten oder ganz abgesagt. Rasches und flexibles Umschalten auf veränderte Gegebenheiten und kreatives Reaktionsvermögen wird heute gefordert. Dazu gehört auch, dass Unternehmensfusionen heute an der Tagesordnung sind. Change-Management ist in aller Munde: Den Wandel zu gestalten fällt allerdings nicht immer leicht.
Das Verrückte ist, dass wir uns alle mit dieser schleichenden Entwicklung verändern. Erinnern Sie sich noch an die Zeit, bevor jeder ein Handy hatte? Man rief an, sprach auf Band und wartete auf einen Rückruf. Bei Verabredungen ging man früher los, damit man pünktlich da war. Jetzt wird oft kurz vor knapp eine SMS geschickt: „komme später“. Früher hat man im Geschäftsleben einen Brief verschickt und wusste: Der braucht jetzt einen oder zwei Tage, bis er dort ist. Ich bekomme frühestens in drei Tagen Antwort. Jetzt schickt man eine E-Mail und trommelt mit den Fingern, wann endlich eine Antwort kommt.
Die Geschwindigkeit innerhalb der Gesellschaft hat in den letzten Jahrzehnten stetig zugenommen, und wir passen uns an, auch wenn uns das gar nicht immer bewusst ist! Die Entwicklung der Technik spielt dabei eine große Rolle.
Bitte schreiben Sie in Ihr Tagebuch:
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