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Gestern Kollege – heute Vorgesetzter. Dagmar Kohlmann-ScheererЧитать онлайн книгу.

Gestern Kollege – heute Vorgesetzter - Dagmar Kohlmann-Scheerer


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Überhaupt fällt ihr auf, dass immer, wenn sie ihr früheres Büro betritt, plötzlich alles schweigt. Sie ist nicht mehr eingebunden in das, was die Mitarbeiter bewegt – sie fühlt sich isoliert.

      Lange überlegt Gertrud Liehner, ob sie ihre Exkollegen auf diesen Zustand ansprechen soll. „Aber was, wenn die alles abstreiten?“, denkt sie im Stillen, „beweisen kann ich es ihnen ja nicht, dass sie sich verändert haben.“ Sie beschließt, erst einmal abzuwarten

      „Hallo Frau Liehner“, fragt bei der nächsten Begegnung ihr Vorgesetzter, „na, wie geht es unserer neuen Chefin? Alles im Griff? Bringen Sie ruhig ordentlich Schwung in die Abteilung, wir zählen auf Sie!“

      Sie erkennt die Gefahr, die sich aus der neuen Situation ergibt: Entweder sie versucht, nun wieder in engeren Kontakt mit den Kollegen zu treten und nicht mehr Vorgesetzte, sondern guter „Kumpel“ zu sein, damit ihre Isolation ein Ende hat. Oder sie fasst die ganze Gruppe mal ein bisschen härter an. Schließlich hat sich unter der früheren Leitung in der Buchhaltung ein gewisser Schlendrian eingeschlichen, da hat der Chef schon Recht. Da sind schon ein paar ganz kräftige Veränderungen nötig.

      Sie beschließt, am nächsten Morgen ihr Team zu sich zu rufen, um die Aufgaben neu und klar zu verteilen. Nicht zuletzt deswegen, um den Exkollegen zu zeigen, wer hier jetzt das Sagen hat. Es ist ihr zwar nicht ganz wohl bei der Sache, aber so, wie die Stimmung bislang war, kann es auch nicht weitergehen. Die Mitarbeiter trudeln langsam ein. Deutlich ist den Gesichtern anzusehen, dass sie diese komische Sitzung als lästige Zeitverschwendung empfinden. Mit einem Ohr hört Gertrud Liehner Bemerkungen wie: „Das hat es früher nicht gegeben, da wurde alles am Arbeitsplatz besprochen, die will wahrscheinlich jetzt den Chef rauskehren.“

      Guter Rat ist teuer. Frau Liehner – immer noch mit der Absicht, alles „richtig“ zu machen – wird langsam zornig. So ablehnend hatte sie sich ihre Mitarbeiter nicht vorgestellt. „Gut“, sagt sie sich im Stillen, „wenn die Herrschaften so wenig Einsicht zeigen, ich kann auch anders!“ Sie eröffnet die Runde mit einem kühlen „Hallo, kommen wir gleich zur Sache“, erläutert kurz die nötigen Umstrukturierungen, erstickt jede Kritik im Keim und beendet die Sitzung ebenso knapp mit dem Satz: „Ich hoffe, auch in Ihrem Interesse, dass wir in Zukunft gut zusammenarbeiten.“

      Sie findet, dass die Mitarbeiter selbst schuld sind, dass sie so rigide vorgeht. Sie kann ja nichts dafür, dass sie nun auch in die „Geheimnisse“ der Geschäftsleitung eingeweiht ist. Außerdem muss sie in Zukunft ihrem Vorgesetzten gegenüber Rechenschaft ablegen.

      Tja, hier haben wir schon den ersten Konflikt: Was ist der bessere Weg? Despot oder Kumpel? Autoritär oder freundschaftlich? Die Kernfragen lauten:

      image Welcher Führungsstil ist der richtige (siehe Kapitel 2)?

      image Was motiviert die Menschen (siehe Kapitel 5)?

      image Was lässt sich delegieren, was überfordert (siehe Kapitel 6)?

      image change to „Wie geht man mit Beschwerden aus dem Mitarbeiterkreis um (siehe in diesem Kapitel)?“

      image Wie werden Mitarbeitergespräche geführt – wie Vier-Augen-Gespräche (siehe Kapitel 3)?

      Rein sachlich lassen sich Konflikte nicht lösen

      Das größte Problem beim Wechsel vom Kollegen zum Vorgesetzten ist, dass unendlich viele Gefühle im Spiel sind. Weil unsere Denkweise stark an Daten und Fakten orientiert ist, haben Gefühle wie Kummer, Neid, Angst vor Neuem, Angst vor Versagen usw. darin keinen Platz. Man glaubt, alles mit Richtlinien lösen zu können. Es müssen nur die richtigen Maßnahmen her, und schon löst sich alles von alleine. Das heißt, dass Störfaktoren nach der klassischen Weise behandelt werden: Die Ursache wird erkannt und an Ort und Stelle mit raschen, wirksamen Methoden behoben. Ist der Mitarbeiter der Störfaktor, so hat er sich so anzupassen, dass die Störung verschwindet.

      In Unternehmen verbreitet: Gefühllosigkeit (Alexithymie)

      Die Reduktion aller Störungen auf „Sachprobleme“ und damit das Ausblenden von Gefühlen ist in Unternehmen so weit verbreitet, dass man fast von einer „Krankheit“ sprechen kann. Diese „Krankheit“ heißt mit einem Fachterminus Alexithymie (Verminderung der Fähigkeit, Gefühle zu empfinden). In einem solchen Umfeld ist vertrauensvolle Zusammenarbeit schwierig.

      Geben wir hingegen verletzten Gefühlen genügend Spielraum zu heilen, schaffen wir ein Umfeld von Vertrauen und gegenseitiger Achtung. Damit ist die Gefahr, entweder Despot oder Weichei zu werden, umschifft. Klare Ziele können genannt und Teams gebildet werden.

      Lösungsansatz

      Abwandlung des Beispiels

      Drehen wir die Szene noch einmal zurück:

      Frau Liehner lässt die Korken knallen ... Sie feiert mit ihren Exkollegen ihre Beförderung, alle freuen sich mit ihr.

      Diesmal macht sie keine Versprechungen, sondern bittet ihre Mitarbeiter darum, sie bei eventuell anstehenden Umstrukturierungen zu unterstützen. „Klar“, hört sie von allen Seiten, „gemeinsam packen wir das schon!“ So haben die Mitarbeiter das Gefühl, dass sie nach wie vor wichtig sind. Gertrud Liehner fühlt, dass die Exkollegen und sie am selben Strang ziehen. Die Feier endet fröhlich und in allgemein guter Stimmung.

      Gertrud Liehner beobachtet einige Zeit in Ruhe die Tagesabläufe und macht sich Gedanken zu den bevorstehenden Umstrukturierungen. Bevor sie allerdings endgültige Entscheidungen trifft, bittet sie ihre Mitarbeiter um ein Treffen zum Thema „Veränderung“. Man einigt sich auf den kommenden Montag, 16 Uhr.

      Da Frau Liehner das Thema und den Inhalt der Sitzung vorher bekannt gegeben hat, kommen die Mitarbeiter ohne Angst zum vereinbarten Termin. Gertrud Liehner erläutert ganz offen, was sie unter „notwendigen Veränderungen“ versteht, und bittet um weitere Anregungen, wie das Ziel erreicht werden könnte. Klar: Nicht alle sind mit der gleichen Begeisterung dabei, die Skepsis ist teilweise noch fühlbar. Dennoch ist ein kreativer Aufwind zu spüren und man verabschiedet sich mit einer neuen Terminvereinbarung. Beim nächsten Treffen sollen dann die neuen Ideen auf ihre Haltbarkeit geprüft werden.

      Lösung: Die Mitarbeiter beteiligen

      Mit dem geschilderten Verhalten hat Frau Liehner eine gefahrvolle Klippe umschifft: nämlich die Mitarbeiter zu Schachfiguren zu degradieren, die lediglich ausführen, was von ihnen verlangt wird. So entsteht ein offenes Klima, die Menschen fühlen sich ernst genommen und in den Prozess der Veränderungen mit eingebunden. Die neue Vorgesetzte hat sich (und der Abteilung) Zeit gelassen, in Ruhe über notwendige Veränderungen nachzudenken, und die neuen Vorstellungen reifen lassen. Ein weiterer Gefahrenpunkt wurde somit ebenfalls umgangen: mangelnde Information und fehlende Transparenz. Dies hätte zu Gerüchten und Spekulationen geführt. Die Fantasie der Mitarbeiter wäre regelrecht angespornt worden, sich allerlei Unsinn auszudenken.

      Lenken Sie die Energien Ihrer Mitarbeiter auf lohnende Objekte!

      Hätte sich Frau Liehner entschieden, ihre Umstrukturierungen von oben herab zu befehlen, dann wäre dies zwangsweise auf Ablehnung gestoßen. Denn die wenigsten Menschen führen gerne Befehle aus, deren Sinn sie nicht erkennen. Frau Liehner kann sich jetzt, nachdem sie die Feuerprobe als neue Chefin bestanden hat, den 40 Prozent sachlichen Aufgaben und den 60 Prozent Führungsaufgaben widmen, die sie erwarten, ohne mit Querschüssen aus ihrer Abteilung rechnen zu müssen.


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